Das „Geheimnis am Weihnachtsabend“ ist ein Mord – und Mrs. Bradley ermittelt

Ein typisches Weihnachtsfest in der englischen Provinz: die Familie kommt zusammen, ein Mord geschieht und schon beginnt die Mördersuche. Am Ende, nachdem viel durch den Schnee gestampft wurde (es schneit immer), sich am Kaminfeuer gewärmt und viel gegessen wurde, überführt der geniale Ermittler den Mörder. Davor erklärt er ausführlich den in einem Raum versammelten Verdächtigen wer die Tat begangen haben könnte, warum er es nicht tat und warum und wie der Mörder es tat.

Das Rezept ist bewährt und kommt bei Krimifans immer noch gut an. Vor allem wenn sie Rätselkrimis oder Cozys mögen. Für die ist, auf den ersten Blick, Gladys Mitchells „Geheimnis am Weihnachtsabend“ geschrieben.

Gladys Maude Winifred Mitchell, so ihr vollständiger Name, den wir gleich wieder vergessen können, wurde 1901 in Oxfordshire geboren. Nach einem Geschichtsstudium in London arbeitete sie als Lehrerin. Abgesehen von einer dreijährigen Unterbrechung unterrichtete sie bis zu ihrer Pensionierung an verschiedenen Schulen. Und schrieb gleichzeitig Kriminalromane. Ihr Debüt erschien 1929. Es ist gleichzeitig der erste Auftritt von Beatrice Adela Lestrange Bradley. Die Ermittlerin, die normalerweise nur Mrs. Bradley genannt wird, ist eine ältere, kleine, dünne, hexenhafte Dame. Sie arbeitet in einer geschlossenen Anstalt als Pschoanalytikerin. Ihre Arbeit und ihr damit verbundenes Wissen ist, jedenfalls in „Geheimis am Weihnachtsabend“, für die Ermittlungen und die Enttarnung des Täters erstaunlich unwichtig.

In insgesamt 66 Romanen suchte die Amateurdetektivin Mörder. Der letzte Fall mit Mrs. Bradley als Ermittlerin erschien 1984, kurz nach Mitchells Tod. Neben den Mrs.-Bradley-Romane schrieb sie unter verschiedenen Pseudonymen weitere Kriminal- und Abenteuerromane.

Nach ihrem Tod verschwanden ihre Bücher, im Gegensatz zu den Büchern von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, vom englischen Buchmarkt. In einschlägigen Lexika wird sie normalerweise nicht erwähnt. In Deutschland ist sie unbekannt. Das liegt daran, dass laut dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nur zwei ihrer Romane auf Deutsch erschienen. Und das war 1953 im Drei-Raben-Verlag.

Nach der Lektüre ihres 1936 im Original erschienenen Krimis, der inzwischen etwas irreführend als Weihnachtskrimi etikettiert wird, scheinen wir nichts verpasst zu haben.

Zu Weihnachten fährt Mrs. Bradley nach Oxfordshire. Ihr Neffe hat sie und einige Freunde über die Feiertage auf seinen Hof eingeladen.

Das beschauliche weihnachtliche Treiben wird schnell gestört. Am Weihnachtsabend wird die Leiche von Fossder, dem für alle rechtliche Geschäfte kompetenten Dorfanwalt, entdeckt. Mrs. Bradley vermutet sofort, dass er ermordet wurde. Trotzdem scheint sein Tod ein natürlicher Tod oder bestenfalls ein dummer Unfall gewesen zu sein. Denn Fossder hatte eine Herzschwäche und er war vermutlich draußen, um eine Mutprobe zu bestehen. Denn nach einer alten Gruselgeschichte sollte in dieser Nacht ein Geist auftauchen.

Der zweite Tote – es handelt sich um Simith –, wird kurz darauf gefunden. Er wurde zweifelsfrei ermordet. Auch wenn ein Eber die Tat ausführte. Simith ist der Besitzer einer Schweinefarm. Er ist ein Choleriker und streitet sich immer wieder handgreiflich mit Tombley, der eine andere Auffassung von der Zukunft des Hofes hat.

Mrs. Bradley beginnt sich umzuhören. Es gibt nur eine überschaubare Zahl von Verdächtigen und einen Hauptverdächtigen, den sie für unschuldig hält.

Wenn Rätselkrimifans jetzt auf eine spannende Mörderjagd mit vielen falschen Spuren hoffen, sollten sie lieber (wieder) einen Agatha-Christie-Krimi lesen. Die sind in jeder Beziehung besser als dieser langweilige Pseudokrimi.

In Mitchells siebtem Mrs.-Bradley-Krimi plätschert die Story vor sich hin. Von Ermittlungen kann kaum gesprochen werden. Stattdessen wird munter vor sich hin palavert und vermutet, aber es werden keine Spuren verfolgt oder Verdächtige verhört. Die wenigen Verdächtigen bleiben blass. Sie haben nicht mehr Persönlichkeit als eine Spielkarte.

Der Fall selbst wird, nachdem die Story schon in der Mitte des Buches (und wenige Seiten nachdem der zweite Mord verübt wurde) einen Zeitsprung in die ersten Januarwochen macht, erst an Pfingsten geklärt. Indem dem Täter eine Falle gestellt wird und die Amateurdetektivin den Täter enttarnen kann. Diese Selbstenttarnung ist das Gegenteil der in Rätselkrimis üblichen Auflösung. Dort enttarnt nach der am Buchende üblichen Versammlung der Verdächtigen der geniale Detektiv den Mörder.

Gladys Mitchell: Geheimnis am Weihnachtsabend

(übersetzt von Dorothee Merkel)

Klett-Cotta, 2022

432 Seiten

20 Euro

Originalausgabe

Dead Men’s Morris

Michael Joseph Ltd, London, 1936

später auch (und inzwischen bekannter) als „Death Comes at Christmas“ veröffentlicht

Hinweise

Fanpage über Gladys Mitchell und ihre Ermittlerin

Wikipedia über Gladys Mitchell

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