Die deutsche Kolonialgeschichte ist kurz, aber nicht weniger ausbeuterisch, blutig und menschenverachtend als die anderer Kolonialmächte. Und sie ist, abgesehen von aktuellen, primär in Fachkreisen geführten Restitutionsdebatten, ziemlich vergessen. Literarisch und filmisch erschöpft sich die Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Uwe Timms Roman „Morenga“ (1978), Egon Günthers gleichnamiger TV-Verfilmung von 1985, Gerhard Seyfrieds Roman „Herero“ (2003) und jetzt Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“.
Kraume erzählt, nach seinem Drehbuch, die Geschichte von Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher). Als junger Ethnologe begegnet er während der Deutschen Kolonialausstellung in Berlin 1896 erstmals aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) kommenden Herero und Nama. Im Rahmen der damals allgemein akzeptierten Rassenlehre, nach der es verschiedene Rassen gibt, die verschieden intelligent sind, beginnen er und seine Kollegen die Köpfe der Schwarzen zu vermessen. Sie wollen so wissenschaftlich beweisen, dass die in Häusern lebenden Weißen größere Köpfe haben und intelligenter als die im Busch lebenden Schwarzen sind.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen und seinem Chef, Professor von Waldstätten (Peter Simonischek), zweifelt Hoffmann an der Rassenlehre. Außerdem ist der Junggeselle beeindruckt von Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), der eloquenten Dolmetscherin der Besuchergruppe. Sie gefällt ihm viel besser als die Frauen, die ihm seine Mutter als künftige Ehefrauen vorstellt. Und Kambazembi scheint seine Gefühle zu erwidern.
Nach dem Ende der Berliner Kolonialausstellung fährt Kambazembi mit ihrer Reisegruppe zurück in die Kolonie.
Acht Jahre später kommt es in Deutsch-Südwestafrika zu Aufständen der Einheimischen gegenüber den Deutschen. Für Hoffmann ist das die Gelegenheit, als Forscher nach Deutsch-Südwestafrika zu fahren, Schädel und Artefakte für die Forschung zu sammeln und wieder Kambazembi zu treffen. Schnell wird er Zeuge eines gnadenlos und menschenverachtend geführten Vernichtungskrieges der Deutschen gegenüber den Hereros und Namas, die teils massakriert, teils zum Sterben in die Wüste getrieben werden. Diesen Beginn eines Völkermords inszeniert Kraume immer FSK-12-kompatibel und für den Einsatz in der Schule und Bildungsarbeit geeignet.
Hoffmann stolpert durch das Kriegsgeschehen. Er will Kambazembi finden und vor dem Tod retten. Falls er sie überhaupt findet.
Wer jetzt befürchtet, dass „Der vermessene Mensch“ zu einer dieser klebrig-verlogenen White-Savior-Geschichten wird, kann sich beruhigt zurücklehnen. Lars Kraume unterläuft diese Erwartung immer mehr, je länger der Film dauert. Hoffmann ist in Afrika kein Retter, sondern ein ungläubig das Morden beobachtende Wissenschaftler, der an seiner Arbeit zweifelt und Gutes tun möchte. Aber letztendlich ist er nur ein passiver Beobachter, der sich fragt, ob er in der Kolonie seine aussichtsreiche wissenschaftliche Karriere opfern soll.
Kraume erzählt das, ohne seine Figuren zu verurteilen, nah an den historischen Fakten und den damaligen, heute hoffnungslos veralteten und abgelehnten Ansichten entlang. Er fällt kein Urteil über sie. Das überlässt er dem Zuschauer.
Nach „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das schweigende Klassenzimmer“, zwei Spielfilme, die sich ebenfalls gelungen mit der deutschen Vergangenheit beschäftigten, hat Lars Kraume einen weiteren sehenswerten Film über einen Teil der deutschen Vergangenheit inszeniert. In dem hübsch doppeldeutig betiteltem Drama „Der vermessene Mensch“, das die Geschichte aus der Sicht der Täter schildert, bringt er ein vergessenes, unrühmliches Kapitel der deutschen Geschichte zurück ins breite gesellschaftliche Bewusstsein. Ob und zu welchen Diskussionen er führt, werden die nächsten Wochen zeigen.
Der vermessene Mensch (Deutschland 2023)
Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Lars Kraume
mit Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Corinna Kirchhoff, Anton Paulus, Leo Meier, Sven Schelker, Max Koch, Ludger Bökelmann, Alexander Radszun, Michael Schenk, Tilo Werner
Länge: 116 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Filmportal über „Der vermessene Mensch“
Moviepilot über „Der vermessene Mensch“
Rotten Tomatoes über „Der vermessene Mensch“ (aktuell noch keine Kritik)
Wikipedia über „Der vermessene Mensch“ (deutsch, englisch)
Berlinale über „Der vermessene Mensch“
Meine Besprechung von Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (Deutschland 2015), mein Interview mit Lars Kraume zum Film und die DVD-Besprechung
Meine Besprechung von Lars Kraumes „Familienfest“ (Deutschland 2015)
Meine Besprechung von Lars Kraumes „Das schweigende Klassenzimmer“ (Deutschland 2018)
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