Der 16-jährigen Paula Feinmann könnte der Aufstieg von einer Nebenfigur zur Hauptfigur gelingen. Jedenfalls ist ihr Lehrer an der Hauptfigurenschule von ihr überzeugt. Aber ein, zwei Fähigkeiten fehlen ihr noch. Ihr verstorbener Vater, der eine Hauptfigur war, könnte ihr dabei helfen. Als sie nach Informationen über ihn sucht, entdeckt sie einige Geheimnisse, die ihr Leben verändern. Und sie begegnet den am Rand der Gesellschaft lebenden Outtakes.
Das liest sich jetzt vielleicht etwas rätselhaft, aber die Verwirrung kann schnell aufgeklärt werden. Die Gesellschaft, die Sophie Linnenbaum in ihrem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF entwirft, ist eine klassische Dystopie. Zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten gibt es starre Grenzen. Es gibt eine Oberschicht (die Hauptfiguren), eine Unterschicht (die Nebenfiguren) und die von der Gesellschaft Ausgestossenen (die Outtakes). Die Heldin gehört zur Unterschicht. Sie hat Fähigkeiten, die sie nicht haben sollte und die dazu führen, dass sie das System herausfordert. In neueren Geschichten, wie den Young-Adult-Dystopien „Die Tribute von Panem“ und „Maze Runner“, führt das dann zu einer das System zerstörenden Revolution. Früher, zum Beispiel in George Orwells „1984“, nicht. Aber die Struktur der Gesellschaft und die Erzählmuster sind bekannt. Die Bilder auch. Nur die Namen für die verschiedenen Klassen ändern sich. Bei Linnenbaum kommen diese Namen aus der Welt des Films – und das ist die geniale Idee von „The Ordinaries“: sie wendet die Filmtheorie einfach auf die Erzählmuster von Dystopien an. Diese Idee führt sie dann konsequent aus. Während die Hauptfiguren über eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, haben die Nebenfiguren weniger Ausdrucksmöglichkeiten. Teilweise sagen sie in Dauerschleifen immer wieder die gleichen Sätze auf. Mehr benötigen sie nicht für ihr Leben. Die Outtakes sind die Figuren und Teile, die aus Filmen herausgeschnitten wurden. Sie sind Filmfehler. Sie können teilweise nur halbe Sätze sagen oder sich nur sprunghaft bewegen. Sie sind der Teil des Films vor und nach der großen Actionszene oder dem Dialog. Sie sind unwichtig.
Diese drei Welten malt Linnenbaum liebevoll und überaus detailreich aus. Dazu gehören selbstverständlich auch unzählige Anspielungen auf andere Filme. Eine immer wieder singende und tanzende Hauptfiguren-Familie erinnert natürlich an französische Komödien und bringt mehr als einen Hauch von Amélie in den Film. Die Gebäude und Wohnungen, in denen die Nebenfiguren leben, strahlen die freudlose Ostblock-Tristesse des Kalten Krieges aus. Und irgendwann sitzt ein Forrest Gump auf einer Bank.
Bei all dem Spaß am Filmzitat regt „The Ordinaries“ auch zum Nachdenken über unsere Gesellschaft an.
Dazu trägt auch die von Linnenbaum und ihrem Co-Drehbuchautor Michael Fetter Nathansky, der ebenfalls an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF studierte, Geschichte von Paulas Suche nach dem Vermächtnis ihres Vaters, den anscheinend niemand kennt und der keine Spuren hinterlassen hat, und ihrem Kampf um den Aufstieg in die Kaste der Hauptdarsteller bei.
Wie Natalia Sinelnikova mit ihrer vor einigen Monaten im Kino gelaufenen, ebenfalls sehenswerten Dystopie „Wir könnten genauso gut tot sein“ über das aus dem Ruder laufende Leben in einer Gated Community, setzt sich Sophie Linnenbaum mit ihrem Abschlussfilm „The Ordinaries“ erfreulich von dem den unzähligen Abschlussfilmen ab, die sich in einer Selbstbespiegelung über die eigene Jugend in der Provinz und desaströsen Liebeserfahrungen erschöpfen. „Wir könnten genauso gut tot sein“ und „The Ordinaries“, die beide von Regiestudentinnen der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF als Abschlussfilm inszeniert wurden, erzählen spannende Genregeschichten. Beide Filme erzählen Science-Fiction-Geschichten, die sehr gut mit ihrem überschaubarem Budget umgehen und neugierig auf ihre nächsten Arbeiten machen.
The Ordinaries (Deutschland 2022)
Regie: Sophie Linnenbaum
Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky
mit Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Noah Tinwa, Sira-Anna Faal, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi, Noah Bailey, Christian Steyer, Birgit Berthold
Länge: 124 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Filmportal über „The Ordinaries“
Moviepilot über „The Ordinaries“