Neu im Kino/Filmkritik: „Wolke unterm Dach“, Mama im Himmel, Papa traurig

Mai 1, 2022

Wolke unterm Dach“ ist jetzt nicht der schlechteste Film der Welt. Er ist kompetent gemacht. Die Schauspieler sind auch okay. Und auf einer grundlegenden Ebene stimmt auch die Dramaturgie. Am Anfang lernen Paul (kein Nachname) und Julia (kein Nachname) sich kennen. Schnell folgen in einer austauschbar-belanglosen, aber beschwingten Werbeclip-Montage glückliche Momente zu zweit, die Heirat, der Einzug in ein uriges, auch nach Jahren kaum renoviertes Haus, ein schnuckeliges Kind und der plötzliche Tod von Julia.

Danach, und darum geht es in dem Film, müssen Paul und seine Tochter Lilly mit dem Tod zurechtkommen. Das wird, locker angelehnt an die bekannten Phasen der Trauer (die damit auch den Plot liefern), erzählt. Mit etwas Humor, etwas Traurigkeit und Stimmungsschwankungen.

Das könnte ein guter Film über ein jeden irgendwann betreffendes Thema sein. Am Ende ist „Wolke unter Dach“ ein typischer deutscher Wohlfühlfilm, der schnell aus den Kinos verschwindet und noch schneller vergessen ist.

Der Grund dafür liebt, mal wieder, am Drehbuch. So wollen Regisseur Alain Gsponer und sein Drehbuchautor Dirk Ahner sich nicht entscheiden, ob sie Pauls oder Lillys Geschichte erzählen. Also erzählen sie einfach beide Trauerbewältigungen gleichberechtigt. Während Lilly Bewältigung mit der titelgebenden Wolke auf dem Dachboden und der Mutter als imaginären Freundin wenigstens in sich schlüssig ist, ist das bei Pauls Geschichte nicht so. Ihm werden ziemlich wahllos alle möglichen Probleme angedichtet. So hat er massive finanzielle Probleme. Gleichzeitig hat er in einer Klinik als Stationsleiter eine Stelle mit einem festen Gehalt, das für die Finanzierung eines Hauses ausreichen sollte. Nachdem er ein Foto entdeckt, wird er eifersüchtig auf einen mutmaßlichen Liebhaber seiner Frau. Einmal betrinkt er sich besinnungslos. Einmal demoliert er die Wohnung. Mehrmals räumt er um und hängt mit seinem Arbeitskollegen und Freund Malik ab. Er kümmert sich um Lilly. Und selbstverständlich ist er von den Hausarbeiten vollkommen überfordert und unwillig, um Hilfe zu bitten. Das ist alles wahllos zusammengeklaubt aus dem Story-Baukasten. Nichts davon wird vertieft oder konsequent zu Ende erzählt. Für die Geschichte bleiben alle diese Episoden, Probleme und Marotten ohne Folgen. Am Ende des Films wissen wir über Paul nicht mehr als am Anfang. Er wird nie zu einer glaubwürdigen dreidimensionalen Figur mit für die Filmgeschichte nachvollziehbaren und wichtigen Problemen, Sehnsüchten und Zielen. In dieser Hinsicht erfahren wir mehr über seine tote Frau Julia. Oder Julias Mutter, die mal wieder Trost in der Kirche sucht.

Wolke unterm Dach (Deutschland 2022)

Regie: Alain Gsponer

Drehbuch: Dirk Ahner

mit Frederick Lau, Hannah Herzsprung, Romy Schroeder, Barbara Auer, Kida Khodr Ramadan, Nicolette Krebitz, Reinout Scholten van Aschat

Länge: 112 Minuten

FSK: ab 12 Jahre (mit Eltern ab 6 erlaubt; – und so dürfte Lilly sich den Film ansehen)

Hinweise

Filmportal über „Wolker unterm Dach“

Moviepilot über „Wolke unterm Dach“

Meine Besprechung von Alain Gsponers „Jugend ohne Gott“ (Deutschland 2017)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Ödön von Horvárths „Jugend ohne Gott“ als Dystopie

August 31, 2017

Dass Alain Gsponer in seiner Verfilmung die Geschichte von Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ aus der Nazi-Zeit in die Zukunft verlegt, ist nicht das größte Problem des Films. Im Gegenteil. Diese Verlegung der Handlung aktualisiert die Geschichte und macht sie auch für ein neues Publikum zugänglich.

Das gleiche gilt für den Wechsel des Protagonisten. Im Roman ist es der Lehrer. Ein Ich-Erzähler, der seinen Schülern etwas beibringen will und in Konflikt mit der herrschenden Ideologie gerät. Danach soll er, wie ihm sein Schuldirektor sagt, seine Schüler „moralisch zum Krieg erziehen“.

Im Film ist er eine Nebenfigur. Zach, einer seiner Schüler, ist der Protagonist. Um ein junges Publikum zu erreichen, ist das eine kluge Entscheidung. Schließlich identifiziert man sich als Jugendlicher eher mit einem Gleichaltrigen als mit einem Lehrer. Vor allem mit einem Lehrer, der an seiner Aufgabe hadert und von Selbstzweifeln darüber geplagt ist.

Diese beiden Änderungen und einige weitere, zu denen ich gleich komme, machen dann aus Gsponers Film eine freie Verfilmung des Romans.

In dem Film – und ich muss jetzt in Teilen der Filmhandlung weit vorgreifen – fährt die Schulklasse des namenlosen Lehrers (Fahri Yardim) in die Berge zu einem Zeltlager. Durch verschiedene Tests ihrer Persönlichkeit sollen die Schüler ausgewählt werden, die sich für einen Platz an Eliteuniversität qualifizieren.

Alle bis auf Zach (Jannis Niewöhner) folgen willig und ohne darüber nachzudenken, der in der Gesellschaft propagierten Leistungsideologie. Er ist, obwohl beliebt, schon in der Klasse ein hochintelligenter Außenseiter. Sein wertvollster Besitz ist ein Tagebuch, dem er seine Gedanken und Gefühle anvertraut. Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden denkt er nach. Er nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen wahr und sie gefallen ihm nicht. Denn hinter dem schönen Schein der egalitären Wohlstandswelt gibt es bittere Armut. Letztendlich ist die von Gsponer gezeichnete Welt eine dystopische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es ist eine diktatorische Leistungsgesellschaft, die gnadenlos unliebsame, nicht angepasste oder nicht leistungsfähige Menschen aussortiert.

In dem Zeltlager werden sie von dem Aufseher vor einer im Wald lebenden Bande Jugendlicher, die außerhalb ihrer Zone leben und sich mit Diebstählen über Wasser halten, gewarnt. Zach lernt das im Wald lebende Mädchen Ewa (Emilia Schüle) kennen. Er verliebt sich in die Wilde.

Dann verschwindet Zachs Tagebuch (Leser des Romans kennen den Dieb) und ein Klassenkamerad, mit dem er schon in den vergangenen Tage handgreifliche Auseinandersetzungen hatte, wird ermordet im Wald aufgefunden. Aber hat er ihn auch ermordet?

Das größte Problem von Gsponers von-Horváth-Verfilmung ist die Erzählweise. Anstatt die Geschichte, wie im Roman, einfach chronologisch vom Anfang bis zum Ende zu erzählen, gibt es zahlreiche Rückblenden, die einem zum Verständnis notwendige Informationen erst sehr spät geben und das Geschehen aus einer anderen Perspektive schildern. Das erschwert das Hineinfinden in die Geschichte und die Identifikation mit den Figuren. Das zeigt sich schon in den ersten Minuten. Der Film beginnt mit der Ankunft im Zeltlager und es wirkt, als ob sich die Jugendlichen nicht kennen. Dabei sind sie Klassenkameraden, die mit ihrem Klassenlehrer zu dem Camp gefahren sind und vor der Fahrt schon einen unliebsamen (vulgo nicht leistungsfähigen) Schüler aussortiert haben. Das setzt sich später fort, wenn wir erst später erfahren, wer das Tagebuch geklaut hat und ob der oder die Mordverdächtigen die Tat begangen haben.

Ein anderes Problem ist die zu sparsam gezeichnete dystopische Gesellschaft. Entsprechend diffus bleibt die Gesellschaftskritik.

Am Ende ist „Jugend ohne Gott“ ein weiterer gescheiterter Versuch eines deutschen Science-Fiction-Films, der nicht an seinem Budget, sondern an seinem Drehbuch und seiner Inszenierung scheitert. Jedenfalls in der Form, die im Kino läuft.

Jugend ohne Gott (Deutschland 2017)

Regie: Alain Gsponer

Drehbuch: Alex Buresch, Matthias Pacht

LV: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, 1937

mit Jannis Niewöhner, Fahri Yardim, Emilia Schüle, Alicia von Rittberg, Jannik Schümann, Anna Maria Mühe, Rainer Bock, Katharina Müller Elmau, Iris Berben

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott

Suhrkamp, 2017 (Movie Tie-In)

160 Seiten

5 Euro

Erstausgabe

Exil-Verlag, Amsterdam, 1937

Die aktuelle Suhrkamp-Ausgabe basiert auf „Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden – Band 4: Prosa und Werke 1918 – 1938“ (Suhrkamp, 1988)

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Filmportal über „Jugend ohne Gott“

Moviepilot über „Jugend ohne Gott“

Wikipedia über „Jugend ohne Gott“ (die aktuelle Verfilmung, der Roman) und Ödön von Horváth (deutsch, englisch)