Neu im Kino/Filmkritik: „Weapons – Die Stunde des Verschwindens“ einer Schulklasse

August 7, 2025

In der im Nordosten der USA liegenden Kleinstadt Maybrook verschwinden in einer Nacht um 2:17 Uhr 17 Kinder. Sie verließen, wie verschiedene Überwachungskameras zeigen, die elterliche Wohnung und liefen in die Nacht. Niemand weiß, wohin sie gelaufen sind. Oder warum.

Sie waren alle in der Schulklasse von Justine Gandy. Nur einer von Justines Schülern ist nicht verschwunden.

Was für eine Prämisse. Was für ein wundervoller Auftakt. „Barbarian“-Regisseur Zach Cregger führt in den ersten Minuten von seinem neuen Horrorfilm „Weapons – Die Stunde des Verschwindens“ sehr gelungen mit einer Kinderstimme im Voice-Over, atmosphärischen Bildern und gleitender Kamera in die Geschichte ein. Danach will man wirklich wissen, warum die Kinder verschwanden und welche Auswirkungen ein solcher plötzlicher und unerklärlicher Verlust von siebzehn Kindern auf eine kleine US-Gemeinde hat.

In den folgenden knapp zwei Stunden (wenn wir die Einführung in die Geschichte und den Abspann weglassen) erzählt Zach Cregger in sechs Kapiteln, die Ereignisse aus der Sicht verschiedener Figuren. Das tut er nicht, wie in „Rashomon“, indem er ein Ereignis aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sondern weitgehend chronologisch. Ganz selten werden bestimmte Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven gezeigt. Im Zentrum der einzelnen, stilistisch unterschiedlich gestalteten Kapiteln stehen die Lehrerin Justine Gandy, ein Vater, ein Polizist, ein drogensüchtiger Slacker (in der vergnüglichsten Episode des Horrorfilms), der Schuldirektor und Alex Lilly, der einzige Schüler aus Justines Klasse, der in der fraglichen Nacht nicht verschwunden ist.

Bedingt durch diese Struktur ist lange unklar, was die Erklärung für das Verschwinden der Kinder sein könnte. Stattdessen erzählt Cregger aus dem Leben der im Mittelpunkt des Kapitels stehenden Figur. Es geht also um ihre Probleme bei der Arbeit und im Privatleben, ihren Alkohol- und Drogenkonsum und wie sie, – teils -, zu obsessivem und vollkommen unvernünftigem Verhalten tendieren.

Es gibt symbolträchtige Bilder, wie das Bild einer Maschinenpistole mit der Uhrzeit des Verschwindens der Kinder am Nachthimmel, und immer wieder Horrortopoi zitierende Bilder seltsam geschminkter Gesichter und sich seltsam verhaltender Menschen. Es sind Bilder, die Assoziationen auslösen. Mehr nicht. In einem Krimi wären es falsche Fährten.

Es gibt einige Jumpscares, die aber die Geschichte (jedenfalls auf den ersten Blick, manchmal auch rückblickend [ich will ja nichts spoilern]) nicht voranbringen, sondern nur durch die Kombination von plötzlich auftauchenden seltsamen Gesichtern und plötzlichem Musikeinsatz erschrecken. Beispielsweise wenn Justine einen Alptraum hat, aus dem sie erwacht und mit dem nächsten Horrorfilmgesicht konfrontiert wird. Und es gibt eine durchgehende Horrorfilmatmosphäre.

Die Lösung ist dann, angesichts der neugierig machenden Prämisse, ziemlich unbefriedigend. Sie bewegt sich, ohne Erklärungen, im Rahmen der bekannten Horrorfilmkonventionen. Die Bilder, die Handlungen einiger Personen und das Wissen des Horrorfans über, ähem, gewisse Dinge müssen genügen.

Weapons“ Ist primär eine Versuchsanordnung und eine formale Spielerei zwischen verschiedenen Genres und Stilen. Das ist immer wieder gut und überraschend inszeniert, aber keine Figur trägt durch den gesamten Film. Sie haben, auch wenn sie in den anderen Kapiteln auftauchen, nur ein Kapitel. Es sind miteinander verbundene Kurzgeschichten, die in ihrer Gesamtschau die Geschichte erzählen und sich dabei immer wieder, mehr oder weniger lang, von der Ausgangsfrage entfernen.

Weapons – Die Stunde des Verschwindens (Weapons, USA 2025)

Regie: Zach Cregger

Drehbuch: Zach Cregger

mit Julia Garner, Josh Brolin, Alden Ehrenreich, Austin Abrams, Cary Christopher, Benedict Wong, Amy Madigan

Länge: 129 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Weapons“

Metacritic über „Weapons“

Rotten Tomatoes über „Weapons“

Wikipedia über „Weapons“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Scott Coopers Horrorfilm „Antlers“

Oktober 28, 2021

Auf den ersten Blick ist Scott Cooper ein ungewöhnlicher und auch der falsche Regisseur für diesen Film. Immerhin ist „Antlers“ ein Horrorfilm und Cooper ist für langsam erzählte, sich auf seine Schauspieler verlassende, düstere Dramen bekannt.

Auf den zweiten Blick ist Scott Cooper dann doch nicht so unpassend. In seinen bisherigen Filmen wechselte er munter die Genres – „Crazy Heart“ ist ein Country-Musikfilm, „Auge um Auge“ (Out of the Furnace) ist ein Hinterland-Sozialdrama, „Black Mass“ ein Gangsterfilm, „Feinde – Hostiles“ ein Western -, aber immer erzählt er teils wahre, teils sich nah der Wirklichkeit bewegenden Geschichten über dunkle, vergessene und ignorierte Abschnitte der US-amerikanischen Geschichte. Es sind Gegenerzählungen zum idealisierten Selbstbild. Da ist ein Horrorfilm nicht nur ein weiteres Genre, um seine Themen durchzuspielen, sondern eine fast schon natürliche und folgerichtige Wahl, um seine Themen durchzuspielen. Verdrängung und die Angst vor Verdrängtem sind schließlich inhärente Bestandteile des Horrorgenres. Und spätestens seit Jordan Peeles Horrorfilmen „Get out“ und „Wir“ (Us) wissen wir wieder, dass gute Horrorfilme kein billiges Feierabendvergnügen, sondern Kommentare zur Gesellschaft sind.

Im Mittelpunkt von „Antlers“ stehen die Lehrerin Julia Meadows und einer ihrer Schüler. Julia kehrte nach fünfzehn Jahren wieder in ihre alte Heimat, ein Dorf in Oregon, zurück. Sie wohnt wieder in ihrem Elternhaus. Ihr Mitbewohner ist ihr jüngerer Bruder Paul, der niemals das Dorf und das Haus verlassen hat. Er ist inzwischen der Ortssheriff. In dem Haus wird Julia wieder von Erinnerungen an ihre Kindheit und ihren gewalttätigen Vater geplagt.

Lucas Weaver ist einer ihrer Schüler. Der introvertierte Junge wird von seinen Mitschülern gemobbt und er hat sogar für den kärglichen Standard von Oregon nur ärmliche Kleiderfetzen an. Mit seinem jüngerem Bruder wohnt er bei seinen Vater Frank. Er ist polizeilich bekannt und drogensüchtig. Aber trotzdem darf er seine beiden Söhne weiter erziehen.

Als Julia eine von Lucas gezeichnete Geschichte entdeckt, interpretiert sie diese, auch aufgrund eigener Erfahrungen, als Dokument häuslichen Missbrauchs. Sie will Lucas helfen und fährt zu dem einsam gelegenem, baufälligem Holzhaus, in dem Lucas lebt.

Spätestens ab dem Moment, in dem Julia Lucas‘ Bilder sieht, weiß nicht nur der gestandene Horrorfilmfan, wie die Geschichte weiter gehen wird und dass in dem Haus ein Monster lauert.

Ein Horrorfan, der sich etwas in nordamerikanischer Folklore auskennt, dürfte das Wesen, das von Frank Besitz ergriffen hat, schnell als einen aus der Anishinabe-Kultur stammenden bösartigen Geist, einen Wendigo, erkennen. Ein Wendigo ist ein Geist, der im Wald (bzw. in „Antlers“ in einer verlassenen Bergwerksmine) lebt. Er ergreift, so der Mythos, von Menschen Besitz, macht sie wahnsinnig und zu Menschenfressern.

Auch Frank beginnt Menschen zu jagen. Für Scott Cooper ist das allerdings nicht der Anlass, um einen gewöhnlichen Horrorfilm mit billigen Jump-Scares, jungfräulich kreischenden Teenagern, dekorativ ausgeweiteten Leichen und blutigen Metzelorgien, zu beginnen. Wie in seinen vorherigen Filmen erzählt er seine Geschichte extrem langsam und ohne überraschende Wendungen. Wieder stehen die Schauspieler im Zentrum und wieder zeichnet er ein Bild der USA, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. In Coopers Oregon haben sich die Menschen schon lange vom amerikanischen Traum verabschiedet. Sie leben zwischen industriellen Hinterlassenschaften, Schrott und verfallenden Häusern. Sie haben keine Hoffnung mehr auf ein besseres Leben und jeder verschweigt Erfahrungen von Gewalt und sexueller Gewalt. Einen Ausbruch aus diesem Teufelskreis von Gewalt, Drogenmissbrauch und Hoffnungslosigkeit scheint es nicht zu geben.

Am Ende führt Cooper diese Analyse nicht zu einer Anklage. Stattdessen lässt er, auch weil er durchgehend vieles nur andeutet, mehrere mögliche Interpretationen zu und er folgt in den letzten Minuten des Films zu sehr den etablierten Horrorfilmkonventionen, um restlos zu begeistern. Wer allerdings einen ungewöhnlichen Horrorfilm sehen möchte, der sich einfachen Antworten verweigert, unbequeme Themen anspricht und zum Nachdenken anregt, sollte einen Blick riskieren.

Antlers (Antlers, USA 2021)

Regie: Scott Cooper

Drehbuch: C. Henry Chaisson, Nick Antosca, Scott Cooper

LV: Nick Antosca: The Quiet Boy, 2019 (Kurzgeschichte)

mit Keri Russell, Jesse Plemons, Jeremy T. Thomas, Graham Greene, Sott Haze, Rory Cochrane, Amy Madigan

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Antlers“

Metacritic über „Antlers“

Rotten Tomatoes über „Antlers“

Wikipedia über „Antlers“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Auge um Auge“ (Out of the Furnace, USA 2013)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Black Mass“ (Black Mass, USA 2015)


Blu-ray-Kritik: Walter Hills „Straßen in Flammen“ endlich mit Bonusmaterial

Dezember 10, 2013

Vor fast dreißig Jahren, als „Straßen in Flammen“, der neue Film von Walter Hill nach seinem Hit „Nur 48 Stunden“, in den Kinos anlief, war er kein großer Hit. Inzwischen ist „Straßen in Flammen“ ein in Japan schon immer geliebter Kultfilm, der bislang auf DVD praktisch ohne Bonusmaterial (naja, immerhin gab es den Trailer) und im falschen Bildformat (Vollbild statt 1,85:1) erhältlich war. Jetzt erschien Hills Film erstmals auf Blu-ray, es gibt gut zwei Stunden informatives und kurzweiliges Bonusmaterial und einen guten Grund, sich den Film wieder anzusehen.

 

Der Film

 

Die Story ist ein luftiges Nichts: Gang-Boss Raven Shaddock entführt während eines Konzertes die Sängerin Ellen Aim. Ihr Ex Tom Cody kommt zurück, rettet sie aus dem Club des Bösen, bringt sie zurück und trifft sich mit Raven zum abschließenden Kampf.

Aber die Story ist Walter Hill auch ziemlich egal. Ihm geht es in seiner Rockfantasie „Straßen in Flammen“ um die amerikanische Populärkultur: Neon, Rockmusik, Fünfziger-Jahre-Filme, Western, Gangsterfilme, Actionfilme und Comics. Denn „Straßen in Flammen“ spielt in einer zeitlosen Gegenwelt, in der alles nach den Fünfzigern, mit einem Schuss dreißiger und vierziger Jahre, aussieht, die Waffen und die Musik aber aus den Achtzigern sind. Ähnlich zeitlos sind die später entstandenen „Spiderman“-Filme von Sam Raimi oder die von Frank Miller ebenfalls später erfundene Noir-Stadt „Sin City“; – eigentlich könnte „Straßen in Flammen“ auch eine „Sin City“-Geschichte sein. In diesen Straßen einer nicht genannten Großstadt (Wer denkt bei den Brücken und Schluchten nicht an New York in einer seiner zahlreichen Inkarnationen?) wird noch einmal der Kampf zwischen Motorradgangs und Polizei inszeniert. Psychologisiert wird dabei nichts. Alles ist reine Oberfläche. Cody ist dabei natürlich der direkt aus einem Western entsprungene aus der Fremde kommende Heilsbringer. Als Ex-Soldat, der früher in dem Viertel wohnte, verdient er jetzt sein Geld als einsilbiger Söldner. Der Manager der Sängerin denkt nur an seine Investition. Die Frauen sind schmückendes Beiwerk. Der Bösewicht ist vor allem böse. Die Rocksongs wummern ordentlich. Ry Cooder füllt den Rest mit einem geschmackvollen Höllenritt durch die amerikanische Musikgeschichte. Andrew Laszlo fand die passenden, nach einer großen Leinwand schreienden Bilder. Die Szenenübergänge sind wie bei einem Comic gestaltet. Die Schauspieler präsentieren die Dialoge, die direkt aus einem Comic stammen könnten, mit dem nötigen Ernst. Dabei sind die Nebendarsteller glaubwürdiger, als der blasse Cody-Darsteller Michael Paré. Ein besonders Highlight ist Amy Madigan als Codys Kampfgefährtin McCoy. Sie ist – als Frau – der härteste Kerl auf den Straßen dieser Rock-City und sie nimmt, obwohl sie ihre Rolle in den Dialogen eher kumpelhaft anlegt und kaum Action-Szenen hat (immerhin ist sie nur der Sidekick), einige der starken Frauen der vergangenen Jahre vorweg.

Sowieso ist die Besetzung verdammt gut. Neben Michael Paré, der damals am Anfang seiner Filmkarriere stand, und Amy Madigan spielen Willem Dafoe als Bösewicht, Diane Lane als entführte Sängerin, Rick Moranis als ihr Manager und Bill Paxton, die heute in Hollywood immer noch gut beschäftigt sind, mit.

Straßen in Flammen“ ist ein 80er-Jahre Actionfilm, der bemerkenswert gut gealtert ist. Damals war er als überlanger Videoclip seiner Zeit weit voraus. Heute ist der Genrehybrid auf der Höhe der Zeit, wenn auch, in Zeiten von Wackelkamera und Sekundenschnitten, angenehm altmodisch inszeniert. Damals war Walter Hill einer der heißesten und besten Regisseure von intelligenten Actionfilmen.

Zuletzt kehrte er, nach einer langen Kinopause, in der er hochgelobte TV-Western inszenierte, mit dem Sylvester-Stallone-Actionfilm „Shootout – Keine Gnade“ (Bullet to the Head, USA 2013) in die Kinos zurück mit einem souveränem und sympathisch anachronistischem Alterswerk, in dem Hill noch einmal seine bekannten Themen anspricht und einer neuen Betrachtung unterzieht. Die meisten Kritiker waren enttäuscht und auch das Publikum blieb aus.

 

Das Bonusmaterial

 

Wow! Nachdem es auf der DVD nur den Kinotrailer gab, wurde jetzt ordentlich investiert und auch im Archiv gegraben. Es gibt die brandneue, spielfilmlange, sehr informative Dokumentation „Rumble in the Lot“ von Robert Fischer. Er unterhielt sich unter anderem mit Walter Hill, Michael Paré und Amy Madigan. Außerdem gibt es ein zeitgenössisches „Making of“, das mit vielen Aufnahmen von den Dreharbeiten und einem herrlich altmodisch autoritativem Sprechertonfall entzückt, eine animierte zwölfminütige Bildergalerie, den deutschen und den Originaltrailer und die Musikvideos „Tonight is what it means to be young“ und „Nowhere Fast“ von Fire INC. und „I can dram about you“ von Dan Hartman. Das alte Bildmaterial liegt in einer ziemlich lausigen Qualität vor (wahrscheinlich ging es nicht besser, hat dafür aber etwas VHS-historisches), die neue Dokumentation wird zu hell und daher mit einem extrem milchigem Bild präsentiert.

Aber das Bild des Films ist schwer in Ordnung und, verglichen mit der alten DVD, um Lichtjahre besser. Endlich strahlt die Neonwelt des Films mit dem regennassen Asphalt in seiner ganzen Noir-Pracht.

Strassen in Flammen - Blu-ray

Straßen in Flammen (Streets of Fire, USA 1984)

Regie: Walter Hill

Drehbuch: Walter Hill, Larry Gross

Mit Michael Paré, Diane Lane, Rick Moranis, Amy Madigan, Willem Dafoe, Deborah Van Valkenburgh, Richard Lawson, Rick Rossovich, Bill Paxton

Blu-ray

Koch-Media

Bild: 1,85:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Englisch (DTS-HD Master Audio 2.0/5.1)

Untertitel: Deutsch, Englisch

Bonusmaterial: Making of, Rumble in the Lot (Dokumentation von Robert Fischer, 2013), selbstablaufende Bildergalerie, 3 Musikvideos, Deutscher und amerikanischer Kinotrailer, Wendecover

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Straßen in Flammen“

Wikipedia über “Straßen in Flammen” (deutschenglisch)

Cinemart: Ausführliche Besprechung des Films (6. Februar 2012)

Meine Besprechung von Walter Hills „Shootout – Keine Gnade“ (Bullet to the Head, USA 2013)

Walter Hill in der Kriminalakte