Neu im Kino/Filmkritik: Über Andrew Haighs sensibles Drama „All of us strangers“

Februar 8, 2024

Es ist ziemlich schnell offensichtlich, wie die einzelnen Elemente der Geschichte zusammenhängen und es gibt eigentlich keine großen Geheimnisse oder Überraschungen in dem Film. Und es ist eigentlich nicht möglich, etwas über den Film zu schreiben, ohne einiges zu verraten: deshalb gibt es jetzt, auch wenn ich nicht das Ende verrate, eine Spoilerwarnung und den Hinweis, dass man sich Andrew Haighs Drama „All of us strangers“ unbedingt im Kino ansehen sollte. Es ist zwar ein Kammerspiel. Aber eines, bei dem gerade die kleinen Details in den Gesichtern der Schauspieler zählen.

Ich wollte meine eigene Vergangenheit aufarbeiten, so wie es Adam im Film tut. Ich war daran interessiert, die Komplexität von familiärer und romantischer Liebe zu erforschen, aber auch die besonderen Erfahrungen einer bestimmten Generation von Schwulen, die in den 80er-Jahren aufgewachsen sind. Ich wollte mich von der traditionellen Geistergeschichte des Romans entfernen und etwas mehr Psychologisches, fast Metaphysisches herausarbeiten.“

Andrew Haigh (Regie, Drehbuch)

Der 45-jährige Adam (Andrew Scott) lebt alleine und einsam in London in einem verlassenen Hochhaus. Der einzige andere Mieter ist der 28-jährige offen schwule Harry (Paul Mescal). Sie kommen ins Gespräch und beginnen eine Beziehung. Zur gleichen Zeit streift Adam durch die Gegend, in der er aufwuchs. Diese Streifzüge sind ein Teil seines neuen Projekts. Er schreibt ein Drehbuch über seine Kindheit.

Bei einem seiner Streifzüge begegnet er seinen Eltern, die sich über seine anschließenden Besuche freuen. Dummerweise starben sie bei einem Autounfall vor über dreißig Jahren, bei ihnen sieht noch alles so aus wie in den achtziger Jahren und auch sehen immer noch genauso aus wie damals.

In diesem Moment ist klar, dass zumindest dieser Teil von Andrew Haighs neuem Film kein Teil der normalen Realität ist. Unklar ist, ob die Begegnung mit seinen Eltern (Claire Foy, Jamie Bell) der Beginn einer die Regeln der Physik ignorierenden Fantasy-Geschichte ist oder ob sich zumindest dieser Teil des Films in Adams Kopf abspielt als ein fiktives Gespräch mit seinen Eltern über seine Homosexualität, wie sich die Wahrnahme von Homosexualität und das öffentliche Auftreten von Homosexuellen seit den achtziger Jahren veränderte. Denn, seinen wir ehrlich, ein nur von zwei Mietern bewohntes Hochhaus mitten in London wirkt schon auf den ersten Blick sehr fantastisch.

Haigh und sein Kameramann Jamie D. Ramsay („Living – Einmal wirklich leben“) verstärken mit ihrer eleganten Bildsprache, in der in fast jedem Bild Spiegel zu sehen sind, diesen Schwebezustand zwischen den verschiedenen Realitäts- und Bewusstseinsebenen. Sehr ruhig, fast schon meditativ, entfalten sie die Geschichte, die elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fantasie changiert. Dabei entsteht, auch dank der guten Schauspieler (wobei Andrew Scott hier eine besondere Erwähnung verdient), ein vielschichtiges Porträt eines einsamen Mannes, der versucht, den schon lange zurückliegenden Verlust seiner Eltern zu verarbeiten. Es ist eine intime, feinfühlig Trauerarbeit mit ungewissem Ausgang.

All of us strangers (All of us strangers, USA/Großbritannien 2023)

Regie: Andrew Haigh

Drehbuch: Andrew Haigh

LV: Taichi Yamada: Ijintachi to no natsu, 1987 (Sommer mit Fremden)

mit Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „All of us strangers“

Metacritic über „All of us strangers“

Rotten Tomatoes über „All of us strangers“

Wikipedia über „All of us strangers“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Andrew Haighs „45 Years“ (45 Years, Großbritannien 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: „45 Years“ verheiratet und dann kommt ein Brief

September 11, 2015

Auf der Berlinale ging der Darstellerpreis an Charlotte Rampling und Tom Courtenay, die in „45 Years“ ein seit den titelgebenden 45 Jahren verheiratetes, kinderloses Ehepaar spielen und sie spielen dieses Ehepaar auch fantastisch in den kleinen Gesten, die Vertrauen und dann auch Verunsicherung ausdrücken. Denn kurz vor dem Hochzeitstag, der mit einer großen Party gefeiert werden soll, erhält Geoff Mercer einen Brief aus der Schweiz. Seine Jugendliebe Katya, die 1962 während eines Wanderurlaubs in eine Schlucht stürzte und deren Leiche erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, entdeckt wurde, hatte ihn als ihren nächsten Angehörigen genannt. Sie waren damals ein Liebespaar. Geoff erinnert sich jetzt wieder an sie und er gesteht seiner Frau Kate, einer pensionierten Lehrerin, die er erst danach kennen lernte, dass er, wenn er nicht sie geheiratet hätte, Katya geheiratet hätte.
„45 Years“ ist ein stilles, von den beiden Hauptdarstellern getragenes Drama in dem die Verunsicherung von Geoff und Kate über den Brief und seine Folgen nur angedeutet wird. Geoff beginnt zunehmend in Erinnerungen zu schwelgen. Kate fragt sich, ob sie nicht gegenüber der Verstorbenen nur die zweite Wahl war. Das wird von Andrew Haigh, nach einer knapp zwölfseitigen, lesenswerten Kurzgeschichte von David Constantine, äußerst langsam, in jeder Beziehung sehr reduziert und intim und mit der Konzentration auf einen Ort, das Haus der Mercers und einige Ausflüge in das nahe gelegene Dorf, erzählt. Fast so, als passe er sein Erzähltempo dem Schritttempo von Pensionären an, die nicht langsam genug gehen können, bis sie ans Ziel gelangen, was in „45 Years“ die Hochzeitsfeier ist, auf der wir ein reinigendes Gewitter erwarten.
Bis dahin stehen vor allem die immer stärker werdende Verunsicherung von Kate über ihre Ehe im Mittelpunkt, die mir, nachdem Kate fast fünfzig Jahre mit Geoff verheiratet ist und als zupackend-patente Ex-Lehrerin geschildert wird, dann doch zu weit hergeholt ist.
Allerdings richtet sich „45 Years“ auch an die Generation 50+, naja, 60+, naja Pensionäre, die seit Jahrzehnten miteinander verheiratet sind. Die sehen die Geschichte und das äußerst geruhsame Erzähltempo wahrscheinlich anders.

45 Years - Plakat - 4

45 Years (45 Years, Großbritannien 2015)
Regie: Andrew Haigh
Drehbuch: Andrew Haigh
LV: David Constantine: In Another Country, 2001 (Kurzgeschichte)
mit Charlotte Rampling, Tom Courtenay, Geraldine James, Dolly Wells, David Sibley, Sam Alexander, Richard Cunningham
Länge: 95 Minuten
FSK: ab 0 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „45 Years“
Moviepilot über „45 Years“
Metacritic über „45 Years“
Rotten Tomatoes über „45 Years“

Wikipedia über „45 Years“ (deutsch, englisch)
Berlinale über „45 Years“
Telegraph unterhält sich mit David Constantine über seine Kurzgeschichte und die Verfilmung

Ein Gespräch mit Andrew Haigh über seinen Film