Es ist ziemlich schnell offensichtlich, wie die einzelnen Elemente der Geschichte zusammenhängen und es gibt eigentlich keine großen Geheimnisse oder Überraschungen in dem Film. Und es ist eigentlich nicht möglich, etwas über den Film zu schreiben, ohne einiges zu verraten: deshalb gibt es jetzt, auch wenn ich nicht das Ende verrate, eine Spoilerwarnung und den Hinweis, dass man sich Andrew Haighs Drama „All of us strangers“ unbedingt im Kino ansehen sollte. Es ist zwar ein Kammerspiel. Aber eines, bei dem gerade die kleinen Details in den Gesichtern der Schauspieler zählen.
„Ich wollte meine eigene Vergangenheit aufarbeiten, so wie es Adam im Film tut. Ich war daran interessiert, die Komplexität von familiärer und romantischer Liebe zu erforschen, aber auch die besonderen Erfahrungen einer bestimmten Generation von Schwulen, die in den 80er-Jahren aufgewachsen sind. Ich wollte mich von der traditionellen Geistergeschichte des Romans entfernen und etwas mehr Psychologisches, fast Metaphysisches herausarbeiten.“
Andrew Haigh (Regie, Drehbuch)
Der 45-jährige Adam (Andrew Scott) lebt alleine und einsam in London in einem verlassenen Hochhaus. Der einzige andere Mieter ist der 28-jährige offen schwule Harry (Paul Mescal). Sie kommen ins Gespräch und beginnen eine Beziehung. Zur gleichen Zeit streift Adam durch die Gegend, in der er aufwuchs. Diese Streifzüge sind ein Teil seines neuen Projekts. Er schreibt ein Drehbuch über seine Kindheit.
Bei einem seiner Streifzüge begegnet er seinen Eltern, die sich über seine anschließenden Besuche freuen. Dummerweise starben sie bei einem Autounfall vor über dreißig Jahren, bei ihnen sieht noch alles so aus wie in den achtziger Jahren und auch sehen immer noch genauso aus wie damals.
In diesem Moment ist klar, dass zumindest dieser Teil von Andrew Haighs neuem Film kein Teil der normalen Realität ist. Unklar ist, ob die Begegnung mit seinen Eltern (Claire Foy, Jamie Bell) der Beginn einer die Regeln der Physik ignorierenden Fantasy-Geschichte ist oder ob sich zumindest dieser Teil des Films in Adams Kopf abspielt als ein fiktives Gespräch mit seinen Eltern über seine Homosexualität, wie sich die Wahrnahme von Homosexualität und das öffentliche Auftreten von Homosexuellen seit den achtziger Jahren veränderte. Denn, seinen wir ehrlich, ein nur von zwei Mietern bewohntes Hochhaus mitten in London wirkt schon auf den ersten Blick sehr fantastisch.
Haigh und sein Kameramann Jamie D. Ramsay („Living – Einmal wirklich leben“) verstärken mit ihrer eleganten Bildsprache, in der in fast jedem Bild Spiegel zu sehen sind, diesen Schwebezustand zwischen den verschiedenen Realitäts- und Bewusstseinsebenen. Sehr ruhig, fast schon meditativ, entfalten sie die Geschichte, die elegant zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fantasie changiert. Dabei entsteht, auch dank der guten Schauspieler (wobei Andrew Scott hier eine besondere Erwähnung verdient), ein vielschichtiges Porträt eines einsamen Mannes, der versucht, den schon lange zurückliegenden Verlust seiner Eltern zu verarbeiten. Es ist eine intime, feinfühlig Trauerarbeit mit ungewissem Ausgang.

All of us strangers (All of us strangers, USA/Großbritannien 2023)
Regie: Andrew Haigh
Drehbuch: Andrew Haigh
LV: Taichi Yamada: Ijintachi to no natsu, 1987 (Sommer mit Fremden)
mit Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy
Länge: 105 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „All of us strangers“
Metacritic über „All of us strangers“
Rotten Tomatoes über „All of us strangers“
Wikipedia über „All of us strangers“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Andrew Haighs „45 Years“ (45 Years, Großbritannien 2015)
Veröffentlicht von AxelB 