TV-Tipp für den 29. November: Das fliegende Klassenzimmer (1954)

November 28, 2025

MDR, 20.15

Das fliegende Klassenzimmer (Deutschland 1954)

Regie: Kurt Hoffmann

Drehbuch: Erich Kästner

LV: Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer, 1933

Erste und nach allgemeiner Einschätzung beste Verfilmung von Erich Kästners bekanntem Buch. Damals war der von Kurt Hoffmann, nach einem Drehbuch von Erich Kästner, inszenierte Film ein Hit.

„Vergnügliche und warmherzige Verfilmung des Kinderromans von Erich Kästner mit unaufdringlicher Pädagogik.“ (Lexikon des internationalen Films)

„Ein Film aus dem Märchenland der Schulzeit“ (Christa Bandmann/Joe Hembus: Klassiker des deutschen Tonfilms)

Kurt Hoffmann inszenierte auch „Quax, der Bruchpilot“, „Ich denke oft an Piroschka“, „Das Wirtshaus im Spessart“, „Wir Wunderkinder“ und „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“.

Ausführlicher zur Filmgeschichte und den verschiedenen Verfilmungen äußere ich mich in meiner Besprechung von Caroline Hellsgårds Verfilmung des Romans.

Anschließend, um 21.45 Uhr, zeigt der MDR, ebenfalls nach einem Drehbuch von Erich Kästner, eine weitere Erich-Kästner-Verfilmung: nämlich Josef von Bakys „Das doppelte Lottchen“ (Deutschland 1950).

mit Paul Dahlke, Heliane Bei, Paul Klinger, Peter Tost, Peter Kraus, Michael Verhoeven, Erich Ponto, Bruno Hübner, Knut Mahlke, Erich Kästner

Wiederholung: Montag, 1. Dezember, 12.30 Uhr

Hinweise

Filmportal über „Das fliegende Klassenzimmer“

Wikipedia über „Das fliegende Klassenzimmer“

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)

Meine Besprechung von Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (Deutschland 2021) (überzeugend mit Tom Schilling als Fabian)

Meine Besprechung von Carolina Hellsgårds Erich-Kästner-Verfilmung „Das fliegende Klassenzimmer“ (Deutschland 2023)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Zur neuesten Verfilmung von Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“

Oktober 12, 2023

Die erste Verfilmung entstand 1954, einundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Vorlage. Schon damals verlegte der Drehbuchautor die Geschichte in die Gegenwart. 1973 und 2002 folgten die nächsten Verfilmungen, die Erich Kästners bekanntes Kinderbuch wieder mehr oder weniger gelungen modernisierten. Und jetzt gibt es die vierte Verfilmung, die sich erstaunlich unglücklich zwischen die Stühle setzt. Für Erwachsene ist das Ergebnis entsprechend ungenießbar. Kinder sehen das vielleicht anders.

Dabei inszenierte Regisseurin Carolina Hellsgård mit ihren vorherigen Filmen „Endzeit“ und „Sunburned“ zwei insgesamt sehenswerte Filme, die die Hoffnung auf eine interessante Neuinterpretation weckten. In beiden Filmen stehen junge Frauen, einmal ein Teenager, einmal zwei Mittzwanzigerinnen, im Mittelpunkt. Das Drehbuch ist von Gerrit Hermans. Er schrieb „Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft“, „Tabaluga – Der Film“ und „Vier zauberhafte Schwestern“. Tom Schilling, Trystan Pütter, Hannah Herzspurng und, in einer Minirolle, Jördis Triebel spielen mit.

Aber es nutzt nichts, dieses fliegende Klassenzimmer hebt nie ab. Und wer daran Schuld ist, ist natürlich offensichtlich: die Macher des Films.

Als ich allerdings Kästners Kinderbuch wieder las (ich hatte es schon einmal als Kind gelesen) und mir – endlich – die hochgelobte erste Verfilmung des „fliegenden Klassenzimmers“ (die jetzt wieder im Kino läuft) ansah, bemerkte ich, dass viele der Probleme der aktuellen Verfilmung schon im Buch und der ersten Verfilmung vorhanden sind. Für diese schrieb Kästner das Drehbuch. Am Anfang und Ende des Films hat er, wie im Buch, als Erzähler einen durchaus längeren Auftritt. Im allgemeinen wird diese Verfilmung als die originalgetreueste Verfilmung bezeichnet. Und sie ist auch sehr nah am Buch, das eine kurz vor Weihnachten spielende Abfolge von Episoden ist.

In Hellsgårds Remake steht die 13-jährige Martina (Martin in Kästners Buch) im Mittelpunkt der Geschichte. Sie lebt in Berlin in einer Hochhaussiedlung in ärmlichen Verhältnissen. Als sie zur Prüfung für ein Stipendium am begehrten Südtiroler Johann-Sigismund-Gymnasium zugelassen wird, ist sie begeistert. Für die Prüfung muss sie nach Kirchberg fahren und im Sommer einige Wochen im Internat verbringen.

In dem, bis auf einen kleinen Skatepark und einige akkurate Graffitis, aus der Zeit gefallenem, beschaulichen Dorf herrscht seit Ewigkeit ein erbitterter Krieg zwischen den Externen und den Internen. Die Externen sind die im Dorf lebenden Schüler. Die Internen sind die in der „Schülerkaserne“ (Kästner) lebenden Schüler. Den Grund für die Feindschaft kennt niemand mehr, aber das hindert die Kinder nicht daran, die Feindschaft zwischen den Internen und den Externen zu pflegen. Deshalb wird Martina, wenige Minuten nachdem sie ihre neuen ‚internen‘ Schulfreunde kennen gelernt hat, von einigen Externen durch das Dorf gejagt.

Dieser Krieg zwischen den beiden Gruppen führt, wie im Roman, zur Entführung eines Klassenkameraden der Internen. Während seiner Befreiung kommt es zu einer großen Schlägerei zwischen den Internen und den Externen. Im Roman im Schnee und mit einer Schneeballschlacht. Im Film am See mit Plantschen im See. Es gibt auch die Mutprobe von Uli, der nicht mehr für eine Feigling gehalten werden will. Beide Male endet sie im Krankenhaus. Es gibt die Proben für das von den Schülern inszenierte Theaterstück „Das fliegende Klassenzimmer“. Am Ende des Films sehen wir das Stück. Es gibt selbstverständlich den legendären „Nichtraucher“, der in einem stillgelegtem Eisenbahnwagon lebt, viel liest, musiziert und raucht.

Dass jetzt Jungen und Mädchen gemeinsam die Schule besuchen und dass die Geschichte von den Vorweihnachtstagen in den Sommer verlegt ist kein Problem. Auch Kästners Botschaft, die am Ende des Films vom „Nichtraucher“, dem Erzählers des Films, nochmal erklärt wird, ist immer noch richtig. Aber auch etwas von der Realität überholt. Vor neunzig Jahren war sie revolutionär. Bei ihm sind die Schüler (es ist ein reines Jungeninternat) eigenständige Menschen, die in der Schule von ihren Lehrern auch so wahrgenommen werden. Sie haben viel freie Zeit, die sie unbehelligt von den Lehrern und schulischen Pflichten außerhalb des Internats verbringen können. Die Lehrer wollen sie auf ihr künftiges Leben vorbereiten. Sie erklären ihnen alles. Sie wollen sie mit besseren Argumenten und Geschichten überzeugen. Das war damals ein utopischer Gegenentwurf zum Kasernenhofton, dem Kadavergehorsam und der Prügelstrafe. In „Das fliegende Klassenzimmer“ verprügeln sich die Schüler untereinander. Heute ist das, was bei Kästner eine Utopie ist, in der Schule schon seit Jahrzehnten gelebte Realität.

Die Schauspieler überzeugen nicht. Teils müssen sie mit papiernen Dialogen kämpfen. Tom Schilling ist als sich streng gebenden Internatsleiter Justus Bökh eine glatte Fehlbesetzung. Er wirkt immer zu jung für den Posten, den er hat, und es gelingt ihm nie, die richtige Balance zwischen strengen Auftritten und gutmütig-vertrauensvollen Gesprächen mit den Internen, vor allem mit Martina und ihren neuen Freunden, zu finden.

Auch seine Beziehung zum „Nichtraucher“ wirkt mit einem behaupteten Konflikt künstlich. Bei Kästner ist das anders. Da gibt es keinen Konflikt zwischen den beiden Jugendfreunden. Da meint Justus Bökh, nachdem er von seinen Schülern zum „Nichtraucher“ geführt wurde, nur „Alter Junge! Dass ich dich endlich wiederhabe!“ und sie beginnen einträchtig in Erinnerungen zu schwelgen.

Carolina Hellsgård inszeniert das episodische Drehbuch ohne ein Gefühl für die Welt der auf das Johann-Sigismund-Gymnasium gehenden Schüler. Bei Kästner waren die Schüler liebenswerte Bengel. Bei Hellsgård sind sie alles und nichts, auf dem Weg zu einem Fotoshooting.

Im aktuellen „Fliegenden Klassenzimmer“ wird zu viel aus Kästners neunzig Jahre altem und damit, notgedrungen, teilweise veraltetem Buch bruchlos übernommen, und viel zu wenig konsequent der Gegenwart angepasst. Das endet in einem Fantasieland, in dem die Einrichtung des Internats aus den Siebzigern kommt und der Eisenbahnwaggon, in dem „Nichtraucher“ lebt, von außen ein richtig alter, enger Eisenbahnwagen, von innen ein viel größerer, ungefähr quadratischer Raum mit viel Platz für viel Zeug ist.

Das fliegende Klassenzimmer (Deutschland 2023)

Regie: Carolina Hellsgård

Drehbuch: Gerrit Hermans

LV: Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer, 1933

mit Tom Schilling, Trystan Pütter, Hannah Herzsprung, Jördis Triebel, Leni Deschner, Lovena Börschmann Ziegler, Morten Völlger, Wanja Kube, Franka Roche, Holly Schiek, Leander Schumann, Aaron Sansi, Paul Sundheim, Gabriel Salhab, David Bredin, Anna Ewelina

Länge: 89 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Die Vorlage (aktuell mit Filmcover und 16 Seiten Filmbilder; – so liebe ich Filmausgaben)

Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer

Atrium, 2023

192 Seiten

15 Euro

Erstausgabe

Friedrich Andreas Perthes, 1933

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Das fliegende Klassenzimmer“

Moviepilot über „Das fliegende Klassenzimmer“

Wikipedia über „Das fliegende Klassenzimmer“ (2023) und der Vorlage

Meine Besprechung von Carolina Hellsgård Olivia-Vieweg-Verfilmung „Endzeit“ (Deutschland 2018)

Meine Besprechng von Carolina Hellsgårds „Sunburned“ (Deutschland/Niederlande/Polen 2019)

Homepage von Carolina Hellsgård

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)

Meine Besprechung von Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (Deutschland 2021) (überzeugend mit Tom Schilling als Fabian)

 


Neu im Kino/Filmkritik: „Jeder schreibt für sich allein“, jeder stirbt für sich allein

August 26, 2023

2020 veröffentlichte Anatol Regnier sein Sachbuch über bekannte deutsche Schriftsteller, die während der Nazi-Diktatur in Deutschland blieben und weiter Romane veröffentlichten.

Jetzt verfilmte Dominik Graf, mit Felix von Boehm als Co-Regisseur, das Sachbuch als formal konventionellen Dokumentarfilm. Die Kamera begleitet Anatol Regnier, wenn er sich Archive zeigen lässt und in historischen Dokumenten blättert. Dazwischen gibt es historische Aufnahmen und aktuelle Interviews mit Menschen, die etwas zu den porträtierten Schriftstellern sagen können.

Porträtiert werden, in der Reihenfolge ihrer Behandlung im Film, Gottfried Benn, Erich Kästner, Jochen Klepper, Hans Fallada, Hans Zöberlein, Ina Seidel, Hannes Johst und Will Vesperh. Sie gingen nicht, wie der im Film erwähnte Klaus Mann, ins Exil. Sie blieben in Deutschland. Ihre Motive unterschieden sich. Ebenso ihre Begeisterung für die neuen Machthaber. Und damit auch ihr Umgang mit der Nazi-Diktatur. Die ersten und auch bekannteren Autoren werden ausführlich behandelt. Später werden die Segmente kürzer. Trotzdem dauert der Film gut drei Stunden.

Es geht um ihr Leben während des Nationalsozialismus, warum sie im Land blieben, wie sie sich fühlten und arbeiteten. Es geht auch darum wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Handlungen umgingen. Und bei Will Vesper geht es auch um seinen Sohn Bernward Vesper und die Frage, wie die Kinder mit der Schuld ihrer Väter umgingen. Graf, von Boehm und Regnier wollen in ihrem Film verstehen, warum die Schriftsteller taten, was sie taten.

Das ist durchaus interessant, informativ und gut gemacht. Aber durch die Struktur, in der einfach Porträts hintereinander gereiht werden und die Porträtierten zunehmend unbekannter sind, auch zunehmend langweilig. Jedenfalls im Kino. Im Fernsehen als Zweiteiler oder in noch kleineren Häppchen, mag das anders sein.

Jeder schreibt für sich allein (Deutschland 2023)

Regie: Dominik Graf, Felix von Boehm (Co-Regie)

Drehbuch: Anatol Regnier, Dominik Graf, Constantin Lieb

LV: Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein, 2020

mit Anatol Regnier, Gabriele von Armin, Florian Illies, Günter Rohrbach, Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Heinrike Stolze, Julia Voss, Géraldine Mercier, Ursula Käß, Helmuth Mojem, Willy Kristen, Wendelin Neubert, Carlo Paulus, Simon Strauß, Clemens von Lucius, Lena Winter

Länge: 169 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Jeder schreibt für sich allein“

Moviepilot über „Jeder schreibt für sich allein“

Meine Besprechung von Dominik Grafs „Schläft ein Lied in allen Dingen“ (2009)

Meine Besprechung der von Dominik Graf inszenierten TV-Serie  „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010)

Meine Besprechung von Johannes F. Sieverts Interviewbuch „Dominik Graf – Im Angesicht des Verbrechens: Fernseharbeit am Beispiel einer Serie“ (2010)

Meine Besprechung von Chris Wahl/Jesko Jockenhövel/Marco Abel/Michael Wedel (Hrsg.) “Im Angesicht des Fernsehens – Der Filmemacher Dominik Graf” (2012)

Meine Besprechung von Dominik Grafs “Die geliebten Schwestern” (Deutschland/Österreich 2014)

Meine Besprechung von Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (Deutschland 2021)

Dominik Graf in der Kriminalakte


TV-Tipp für den 7. April: Fabian oder Der Gang vor die Hunde

April 6, 2023

Arte, 20.15

Fabian oder Der Gang vor die Hunde (Deutschland 2021)

Regie: Dominik Graf

Drehbuch: Constantin Lieb, Dominik Graf

LV: Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde, 1931/2013

TV-Premiere. Dominik Grafs grandiose Verfilmung von Erich Kästners Roman über Jakob Fabian, einem Schriftsteller, der als Werbetexter Geld verdient und durch das nächtliche Berlin der Goldenen Zwanziger driftet.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Tom Schilling, Albrecht Schuch, Saskia Rosendahl, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Meret Becker

Die Vorlage

Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde

Atrium, 2021

248 Seiten

12 Euro

Erstausgabe dieser Ausgabe

Atrium Verlag, 2013

Erstausgabe

Fabian – Die Geschichte eines Moralisten

Deutsche Verlags-Anstalt, 1931

Hinweise

Filmportal über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Moviepilot über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Metacritic über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Rotten Tomatoes über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Wikipedia über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)

Meine Besprechung von Dominik Grafs „Schläft ein Lied in allen Dingen“ (2009)

Meine Besprechung der von Dominik Graf inszenierten TV-Serie  „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010)

Meine Besprechung von Johannes F. Sieverts Interviewbuch „Dominik Graf – Im Angesicht des Verbrechens: Fernseharbeit am Beispiel einer Serie“ (2010)

Meine Besprechung von Chris Wahl/Jesko Jockenhövel/Marco Abel/Michael Wedel (Hrsg.) “Im Angesicht des Fernsehens – Der Filmemacher Dominik Graf” (2012)

Meine Besprechung von Dominik Grafs “Die geliebten Schwestern” (Deutschland/Österreich 2014)

Meine Besprechung von Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (Deutschland 2021)

Dominik Graf in der Kriminalakte


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

August 6, 2021

Im Moment glaubt Dominik Graf, dass eine Verfilmung genauso so lange sein soll, wie die Lektüre des Buches dauert. Bei einem kurzen Roman, also eigentlich eher einer Novelle, geht das. Trotzdem ist die Idee Unfug. Konsequent exekutiert würden dann Romanverfilmungen zehn bis zwanzig Stunden dauern. Solche Epen könnten dann nur noch im Fernsehen laufen. Dabei gibt es etliche Romanverfilmungen, die ausgezeichnete eigenständige Interpretionen von Romanen sind und deutlich kürzer als die Vorlage sind.

Das sage ich, weil die Länge von drei Stunden das Problem von Dominik Grafs ansonsten sehr gelungener, werktreuer und gleichzeitig eigenständiger Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ ist.

Kästners Roman erschien 1931 in einer leicht gekürzten Fassung als „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“. Er wurde von den Nazis als entartete Kunst angesehen und gehörte zu den Büchern, die während der Bücherverbrennung verbrannt wurden. 2013 erschien unter dem ursprünglich geplanten Titel „Der Gang vor die Hunde“ Kästners Originalfassung. Diese liegt Dominik Grafs Verfilmung zugrunde.

Fabians Geschichte ist eine bestenfalls lose verknüpfte Abfolge von Episoden, die ein Bild von Deutschland vor neunzig Jahren, also von den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, ergeben. In einem Roman, vor allen in einem etwas über zweihundertseitigem Roman, der eine Satire ist, zur Avantgarde gehört und der ein Sittenbild ist, ist diese episodische Struktur kein Problem. Bei einem Film, der dann drei Stunden lang Episoden ohne eine erkennbare Geschichte aneinanderreiht, wird das zu einem Problem. Es wird redundant. Es wird langweilig.

Auch wenn ich jetzt nicht genau sagen kann, wo Graf hätte schneiden sollen, hätte er doch um ein Drittel kürzen sollen.

Das gesagt ist „Fabian“ ein absolut sehenswerter Film, der die Stimmung der zwanziger Jahre, das pulsierende Großstadt-, Künstler- und Bohèmeleben, ohne erkennbare Kompromisse und souverän mit allen filmischen Stilmitteln hantierend, auf die Leinwand bringt.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht – überzeugend von „Oh Boy“ Tom Schilling gespielt – Jakob Fabian, ein promovierter Germanist, der im Berlin der frühen dreißiger Jahre tagsüber als schlecht verdienender Werbetexter für eine Zigarettenfabrik arbeitet, in einem Zimmer zur Miete wohnt und nach Sonnenuntergang durch die Berliner Clubs und Bordelle zieht. Dabei lehnt der Flaneur und Beobachter nie einen Drink oder eine Affäre ab. Begleitet wird er meistens von seinem Studienfreund Stephan Labude. Der Sohn des vermögenden Justizrat Labude schreibt schon seit Jahren an seiner Habilitation und er ist bekennender und agitierender Kommunist. Er hat eine feste, in einer anderen Stadt lebende Freundin, die er heiraten will. Aber sie betrügt ihn.

Bei einem seiner nächtlichen Sauftouren trifft Fabian auf Irene Moll. Die verheiratete Frau hat mit ihrem Mann ein Arrangement getroffen, nach dem sie ihm ihre Liebhaber vorstellen muss, die Liebhaber einen Vertrag unterschreiben müssen und sie dann Sex haben dürfen. Dieses Angebot lehnt Fabian bei ihrer ersten Begegnung empört ab.

Kurz darauf trifft er in einem Kabarett Cornelia Battenberg. Zufällig haben sie in der gleichen Wohnung ein Zimmer gemietet. Sie verlieben sich ineinander. Cornelia will als Schauspielerin Karriere machen. Sie beginnt eine Affäre mit einem Filmproduzenten.

Aus diesen und zahlreichen weiteren Episoden, aber noch mehr aus der Inszenierung, ergibt sich ein Bild des damaligen Berlins und der damaligen Gefühlslage, die in bestimmten Aspekten immer noch oder wieder aktuell ist. Während in Kästners Roman die Warnung vor dem Nationalsozialismus zwischen den Zeilen steht – schließlich kannte Kästner als er den Roman schrieb, die Zukunft nicht – deutet Graf den beginnenden Nazi-Terror deutlich an. Er zeigt Stolpersteine, die es in Berlin erst seit einigen Jahren gibt. Auf ihnen stehen die Namen von Opfern der Nationalsozialisten. Wir sehen Nazi-Uniformen. Bei einer Konfrontation von Fabian mit einem von Labudes Studienkollegen ist der heraufziehende Faschismus deutlich spür- und sichtbar.

Sowieso interessiert Graf sich in seinem Sittengemälde wenig für historische Faktenkorrektheit. Ihm geht es darum, die damalige Stimmung, die von einem Gefühl eines nahenden Weltuntergangs geprägt war, begreifbar zu machen und tief in Fabians Psyche, die Psyche eines alles distanziert beobachtenden Moralisten, einzutauchen. Dieser Fabian ist kein Mitläufer. Er will nicht, während er sich durch das pulsierende Nachtleben treiben lässt, mit der Masse mitschwimmen.

Dazu lässt Graf die Kamera fiebrig durch die engen, dunklen Räume tanzen. Er schneidet teils im Sekundentakt. Später, wenn Fabian sich verliebt und seine Eltern besucht, wird die Kamera und der Anfangs atemlose Erzählrhythmus ruhiger. Graf wechselt munter die Kameras, das Filmmaterial und das Bildformat. Er schneidet historische Aufnahmen hinein. Dazu kommt ein konstanter Fluss von Dialogen und Voice-Over. Auch wenn nicht alle Texte von Kästner sind, haben sie immer einen deutlichen Kästner-Einfluss. So ergibt sich eine souveräne, sehr eigenständige Interpretation des Romans, die immer wie eine wortwörtliche Übertragung wirkt, es aber nicht ist. Graf und sein Co-Drehbuchautor Constantin Lieb haben den Geist des lesenswerten Buches vorzüglich eingefangen.

Nach diesem „Fabian“ kann man Wolf Gremms „Fabian“ von 1979 getrost vergessen. Denn der ist nur hochbudgetiertes, letztendlich billiges Ausstattungskino. Genau das kann von dem „Gang vor die Hunde“ nicht gesagt werden.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde (Deutschland 2021)

Regie: Dominik Graf

Drehbuch: Constantin Lieb, Dominik Graf

LV: Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde, 1931/2013

mit Tom Schilling, Albrecht Schuch, Saskia Rosendahl, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Meret Becker

Länge: 186 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

(zum Kinostart mit Filmcover und einigen Filmbildern)

Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde

Atrium, 2021

248 Seiten

12 Euro

Erstausgabe dieser Ausgabe

Atrium Verlag, 2013

Erstausgabe

Fabian – Die Geschichte eines Moralisten

Deutsche Verlags-Anstalt, 1931

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Moviepilot über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Metacritic über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Rotten Tomatoes über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“

Wikipedia über „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)

Meine Besprechung von Dominik Grafs „Schläft ein Lied in allen Dingen“

Meine Besprechung der von Dominik Graf inszenierten TV-Serie  „Im Angesicht des Verbrechens“

Meine Besprechung von Johannes F. Sieverts Interviewbuch „Dominik Graf – Im Angesicht des Verbrechens: Fernseharbeit am Beispiel einer Serie“

Meine Besprechung von Chris Wahl/Jesko Jockenhövel/Marco Abel/Michael Wedel (Hrsg.) “Im Angesicht des Fernsehens – Der Filmemacher Dominik Graf”

Meine Besprechung von Dominik Grafs “Die geliebten Schwestern” (Deutschland/Österreich 2013/2014)

Dominik Graf in der Kriminalakte

 

 


Cover der Woche

Juni 22, 2021

Meine aktuelle Lektüre:


TV-Tipp für den 21. Februar: Emil und die Detektive

Februar 21, 2019

MDR, 00.00

Emil und die Detektive (Deutschland 1931)

Regie: Gerhard Lamprecht

Drehbuch: Billie Wilder (aka Billy Wilder)

LV: Erich Kästner: Emil und die Detektive, 1928

Nachdem Herr Grundeis dem für die Ferien aus der Provinz nach Berlin kommenden Buben Emil Tischbein das Feriengeld geklaut hat, macht Emil sich im Großstadtdschungel mit einer Bande Kinder auf die Jagd nach dem Bösewicht.

Klassiker des deutschen Films und des Kinderfilms.

Mit Fritz Rasp, Käthe Haack, Rolf Wenkhaus, Rudolf Biebrach, Olga Engl, Inge Landgut

Hinweise

Filmportal über „Emil und die Detektive“

Rotten Tomatoes über „Emil und die Detektive“

Wikipedia über „Emil und die Detektive“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)


TV-Tipp für den 19. Juli: Das fliegende Klassenzimmer

Juli 19, 2018

HR, 23.30

Das fliegende Klassenzimmer (Deutschland 1954)

Regie: Kurt Hoffmann

Drehbuch: Erich Kästner

LV: Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer, 1933

Das ist das Schöne am Sommer (neben dem Wetter und den vielen Touristen): Filme, die seit Ewigkeiten nicht mehr im Fernsehen liefen, werden aus den dunkelsten Ecken des Archivs geholt, abgestaubt und gezeigt. Heute ist es die erste Verfilmung von Erich Kästners Jugendbuchklassiker „Das fliegende Klassenzimmer“.

Die zweite Verfilmung des Romans von 1973 mit Joachim ‚Blacky‘ Fuchsberger begleitete, dank unzähliger Wiederholungen im TV, Generationen von Jugendlichen durch die Schule – und ich fragte mich, wann ich jemals das Original zu sehen bekäme.

Damals war der von Kurt Hoffmann, nach einem Drehbuch von Erich Kästner, inszenierte Film ein Hit.

Vergnügliche und warmherzige Verfilmung des Kinderromans von Erich Kästner mit unaufdringlicher Pädagogik.“ (Lexikon des internationalen Films)

Ein Film aus dem Märchenland der Schulzeit“ (Christa Bandmann/Joe Hembus: Klassiker des deutschen Tonfilms)

Kurt Hoffmann inszenierte auch „Quax, der Bruchpilot“, „Ich denke oft an Piroschka“, „Das Wirtshaus im Spessart“, „Wir Wunderkinder“ und „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“.

mit Paul Dahlke, Heliane Bei, Paul Klinger, Peter Tost, Peter Kraus, Michael Verhoeven, Erich Ponto, Bruno Hübner, Knut Mahlke, Erich Kästner

Hinweise

Filmportal über „Das fliegende Klassenzimmer“

Wikipedia über „Das fliegende Klassenzimmer“

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)


TV-Tipp für den 12. Juli: Emil und die Detektive

Juli 12, 2018

HR, 23.30

Emil und die Detektive (Deutschland 1954)

Regie: Robert A. Stemmle

Drehbuch: R. A. Stemmle

LV: Erich Kästner: Emil und die Detektive, 1928

Herr Grundeis stiehlt dem für die Ferien aus der Provinz nach Berlin kommenden Buben Emil Tischbein das Feriengeld. Mit einer Bande Kinder, die er trifft, macht Emil sich im Großstadtdschungel auf die Jagd nach dem Bösewicht.

Die zweite deutsche Verfilmung von Erich Kästners Kinderkrimi, die seit Ewigkeiten (falls überhaupt) nicht mehr im Fernsehen lief.

Unterhaltsame Neufassung (…) die erzählerischen Konventionen des Unterhaltungskinos der 50er Jahre wirken formal wie thematisch leicht glättend und vergröbernd. Faszinierend ist der Film vor allem durch die authentischen Bilder aus dem Berlin der 50er Jahre.“ (Lexikon des internationalen Films)

Das Remake der Berolina Produktion von 1954 ist wie die vielen anderen Remakes dieser Produktion eine lieblos hingeschlampte Sache.“ (Christa Bandmann/Joe Hembus: Klassiker des deutschen Tonfilms)

Die erste Verfilmung von Kästners Buch ist von 1931. Gerhard Lamprecht führte die Regie; Billie (später Billy) Wilder schrieb das Drehbuch.

mit Peter Finkbeiner, Heli Finkenzeller, Wolfgang Lukschy, Günter Pfitzmann, Kurt Meisel, Ruth Nimbach, Claudia Schäfer, Margarete Haagen, Camilla Spira

Hinweise

Filmportal über „Emil und die Detektive“

Wikipedia über „Emil und die Detektive“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)


TV-Tipp für den 19. April: Emil und die Detektive

April 19, 2018

MDR, 00.00

Emil und die Detektive (Deutschland 1931)

Regie: Gerhard Lamprecht

Drehbuch: Billie Wilder (aka Billy Wilder)

LV: Erich Kästner: Emil und die Detektive, 1928

Nachdem Herr Grundeis dem für die Ferien aus der Provinz nach Berlin kommenden Buben Emil Tischbein das Feriengeld geklaut hat, macht Emil sich im Großstadtdschungel mit einer Bande Kinder auf die Jagd nach dem Bösewicht.

Ewig nicht mehr gezeigter Filmklassiker des deutschen Films und des Kinderfilms.

Mit Fritz Rasp, Käthe Haack, Rolf Wenkhaus, Rudolf Biebrach, Olga Engl, Inge Landgut

Hinweise

Filmportal über „Emil und die Detektive“

Rotten Tomatoes über „Emil und die Detektive“

Wikipedia über „Emil und die Detektive“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)


TV-Tipp für den 28. August: Münchhausen

August 28, 2017

https://www.youtube.com/watch?v=PrA4H0KH7zg

Arte, 20.15

Münchhausen (Deutschland 1943, Regie: Josef von Baky)

Drehbuch: Berthold Bürger (Pseudonym von Erich Kästner) (ungenannt)

Heute startet die uneingeschränkt empfehlenswerte Arte-Reihe „100 Jahre UFA – Ganz großes Thema“ mit einem fetten Themenabend. Es geht los mit „Münchhausen“ (in einer restaurierten Fassung), um 22.05 Uhr folgt die neue Doku „Maschinenraum des deutschen Films: 100 Jahre UFA“ und um 23.10 Uhr der gut zweistündige, ebenfalls restaurierte UFA-Dokumentarfilm „Wege zu Kraft und Schönheit“ von 1925, der den Rassenwahn der Nazis vorwegnahm.

Die nächsten Tage gibt es weitere UFA-Filme. Das vollständige Programm gibt es hier.

Über „Münchhausen“ muss ich wohl nichts sagen? Wir haben ja alle als Kinder Hans Albers auf der Kanonenkugel gesehen und später erfahren, was die Nazis den Machern dieses Prestigeprojekt alles erlaubten.

Mit Hans Albers, Hans Brausewetter, Marina von Ditmar, Käthe Haack, Brigitte Horney, Leo Slezak, Ilse Werner

Wiederholungen

Sonntag, 9. September, 09.30 Uhr

Mittwoch, 13. September, 14.00 Uhr

Hinweise

Arte über „100 Jahre UFA – Ganz großes Kino“

Filmportal über „Münchhausen“

Wikipedia über „Münchhausen“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Erich Kästners „Die verschwundene Miniatur“ (1935/2009)