Neu im Kino/Filmkritik: Alejandro G. Iñárritu fantasiert „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“

November 18, 2022

Schon die ersten Bilder von Alejandro G. Iñárritus „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ – der Schatten eines Mannes läuft durch die Wüste, springt in die Luft, schwebt, fliegt, landet, läuft weiter, springt wieder in die Luft, schwebt und fliegt länger, landet wieder, läuft, immer noch ohne einen Schnitt, weiter, springt wieder undsoweiter – sind pures Kino mit einer schwerelosen Kamera und surrealen Bildern, die so eigentlich nicht möglich sind.

Nach diesem die Sinne betörendem Anfang, dem noch viele weitere visuell überwältigende Szenen folgen, schält sich langsam so etwas wie eine Minimalgeschichte heraus. Sie dient vor allem als rudimentäre, aber weitgehend vernachlässigbare Klammer in diesem nicht-narrativem Film. Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho) lebt seit Ewigkeiten in Los Angeles. Seine alte Heimat kennt er nur noch aus dem Fernsehen und aus Erinnerungen. Der Mexikaner ist ein bekannter Journalist und Dokumentarfilmer. Inzwischen ist er in dem Alter, in dem er Preise erhält und vor Publikum über seine Filme reden soll. Jetzt soll er in seiner alten Heimat Mexiko-Stadt einen Preis für sein Lebenswerk erhalten.

Dort trifft er auf alte Bekannte, recherchiert für sein neues Projekt, erinnert sich an seine Vergangenheit und dabei verschwimmen, in der Tradition des magischen Realismus, die Grenzen zwischen Erinnerungen, Fantasien darüber und über die Gegenwart und reinen Imaginationen. Es geht auch um die Geschichte Mexikos. Iñárritu inszeniert das in Plansequenzen, langen, kaum geschnittenen Szenen, surrealistischen Bildern und immer wieder zwischen Realität und Fantasie wechselnd. Die Bilder sind, wie bei seinen vorherigen Filmen, beeindruckend und immer für die große Leinwand komponiert.

Wie schon der Titel „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ sagt, erzählt Alejandro G. Iñárritu in seinem ersten Spielfilm nach „The Revenant“ (2015) keine stringente, konventionellen erzählerischen Regeln folgende Geschichte. Im tibetischen Buddhismus ist Bardo das Wort für ein Zwischenstadium zwischen Tod und Wiedergeburt. Daher kann der Film als Meditation darüber angesehen werden. Iñárritu zeigt mehr oder weniger nicht zusammenhängende Ereignisse, die sich immer um die Selbstzweifel eines Regisseurs drehen und die immer aus seiner Perspektive geschildert werden. Dabei ist Silverio Gamas surrealistische Geschichte so abstrakt geraten, dass wahrscheinlich nur ausgewiesene Iñárritu-Experten die erfundenen von den wirklich autobiographischen Teile unterscheiden können. Alle anderen können sich ohne zu Zögern vom Strom der Bilder wegtragen lassen und den Film wie einen psychedelischen Trip genießen.

Seine Premiere hatte „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ am 1. September 2022 in Venedig bei den dortigen Internationalen Filmfestspielen. Dort präsentierte Iñárritu eine gut dreistündige Fassung des Films. Danach kürzte er ihn um ungefähr eine viertel Stunde. Wahrscheinlich entfernte er ein, zwei vollständige Szenen. Schließlich spielt jede Szene mit der Länge, die normalerweise, wie der gesamte Film, überbordend lang und überwältigend ist. Außerdem würde gerade bei den langen, ungeschnittenen oder kaum geschnittenen Szenen jede Kürzung die Stimmung und den Erzählfluss zerstören. Das gilt, um nur zwei Plansequenzen zu nennen, für einen Spaziergang Gamas durch Mexiko-Stadt oder eine siebenminütige Szene, die teilweise in Gamas Kopf spielt, in einer vollen Disco mit David Bowies „Let’s Dance“ als Soundtrack.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ ist ein in jeder Beziehung exzessives, surreales, ohne einen klare Fokus vor sich hin mäanderndes Panoptikum zwischen Vergangenheit, Erinnerung, Fantasie und Tod. Das ist, wie gesagt, faszinierend, auch unterhaltsam und immer wieder witzig, aber mit gut drei Stunden auch ein zu lang geratener Griff in den Zettelkasten des Künstlers, der in dieser Nabelschau einfach ungeordnet präsentiert, was ihm beim Durchsehen seiner Notizen gefallen hat.

 

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades, Mexiko 2022)

Regie: Alejandro G. Iñárritu

Drehbuch: Alejandro G. Iñárritu, Nicolás Giacobone

mit Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Solano, Luz Jiménez, Luis Couturier, Andrés Almeida, Clementina Guadarrama, Jay O. Sanders, Francisco Rubio, Fabiola Guajardo, Noé Hernández, Ivan Massagué

Länge: 160 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Jetzt im Kino! Ab 16. Dezember auf Netflix.

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“

Metacritic über „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“

Rotten Tomatoes über „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“

Wikipedia über „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Alejandro G. Iñárritus „Biutiful“ (Biutiful, Mexiko/USA 2010)

Meine Besprechung von Alejandro G. Iñárritus „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ (Birdman, USA 2014)

Meine Besprechung von Alejandro G. Iñárritus „The Revenant – Der Rückkehrer (The Revenant, USA 2015)


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