Neu im Kino/Filmkritik: „King’s Land“ – Kampf um die Kartoffel in der jütländischen Heide

Juni 7, 2024

1755 geht der ehemalige, jetzt arbeitssuchende Hauptmann Ludvig Kahlen (Mads Mikkelsen, grandios) mit dem König von Dänemark, bzw. genaugenommen seinem für ihn sprechendem Beraterstab, einen Deal ein: wenn es ihm gelingt, die jütländische Heide urbar zu machen, erhält er einen Adelstitel und die damit verbundenen Privilegien. Für Kahlen, den Bastardsohn eines Adligen, wäre das ein Lebenstraum und eine ungeahnte gesellschaftliche Anerkennung.

Die Heide war damals ein ungastliches und menschenleeres Gebiet mit hartem Boden, Wölfen und Wegelagerern. Kahlen beginnt – unter großen Schwierigkeiten – mit der Arbeit. Der schweigsame Einzelgänger hofft mit dem Anbau von Kartoffeln, die damals in Mittel- und Nordeuropa noch ziemlich unbekannt waren, das Land urbar zu machen. Mit der Zeit scharrt er einige Getreue um sich. Es sind gesellschaftliche Außenseiter und teils von ihren Gutsherren verfolgte Menschen, wie die Hausmagd Ann Barbara (Amanda Collin).

Als Kahlen mit seinen Methoden und seinem Ehrgeiz erste Erfolge hat, wird der Gutsbesitzer Frederik De Schinkel (Simon Bennebjerg) zu seinem Todfeind. Der erhebt ebenfalls Anspruch auf das Land. Er ist, neben der Natur, der zweite Bösewicht der Geschichte. Er kann, wie der König, in seinem Herrschaftsbereich nach Gutdünken über Leben und Tod entscheiden.

King’s Land“ von Nikolaj Arcel ist ein europäischer Quasi-Western und der europäische Gegenentwurf zu Paul Thomas Andersons „There will be Blood“. Was dem einen sein Öl ist, ist dem anderen seine Kartoffel. Beide Hauptfiguren gehen für ihre Ambitionen über Leichen. Sie opfern jede Beziehung ihrem selbstgestecktem Ziel vom Reichtum und dem damit verbundenem bzw. erhofftem gesellschaftlichem Aufstieg.

Diese Geschichte über Ambitionen und wie sie mit der Wirklichkeit in Konflikt geraten erzählt Arcel mit Bildern für die Kinoleinwand. Es sind Bilder einer unwirtlichen Gegend mit wenigen Menschen, die in Bretterbuden leben. Es sind Bilder, die eher an eine Westernlandschaft und nie an eine mitteleuropäische Kulturlandschaft erinnern.

Dabei geht es Nikolaj Arcel, wie er in einem Statement ausführt, nicht primär um den historischen Stoff: „Als ich vor ein paar Jahren Vater wurde, machte ich eine völlig neue Erfahrung. Ich begann meine früheren Filme (…) durch eine neue Linse zu betrachten. (…) sie spiegelt die Sichtweise eines Mannes wieder, der nur ein einziges Ziel verfolgt (…) aber nicht viel mehr. ‚King’s Land‘ ist aus dieser existenziellen Reflexion entstanden und mein bisher persönlichster Film. Mit Hilfe des brillanten Romans von Ida Jessen wollten Anders Thomas Jensen und ich eine große, epische Geschichte darüber erzählen, wie unsere Ambitionen und Wünsche unweigerlich scheitern, wenn sie alles sind, was wir haben.“

Davon erzählt er, sehr gelungen, in seinem neuesten Film. Das historische Drama wurde mit zahlreichen Filmpreisen ausgezeichnet und war in der Vorauswahl für den diesjährigen Oscar als bester internationaler Film.

P. S. 1: Nikolaj Arcel ist vor allem als Nordic-Noir-Drehbuchautor bekannt. Er schrieb die Bücher für die Stieg-Larsson-Verfilmung „Verblendung“ und für die Jussi-Adler-Olson-Verfilmungen „Erbarmen“, „Schändung“, „Erlösung“ und „Verachtung“. Und, ohne eine Romanvorlage, für „Helden der Wahrscheinlichkeit“. Anders Thomas Jensen verfilmte es.

P. S. 2: Irgendjemand sollte sich mal Gedanken darüber machen, wie die unterschiedlichen Titel die Erwartungen an den Film und die Rezeption des Films verändern. Die Romanvorlage heißt „Kaptajnen og Ann Barbara“ (Hauptmann Kahlen und Ann Barbara), der Originaltitel ist „Bastarden“ (womit Ludvig Kahlen gemeint ist), der internationale Titel ist „The Promised Land“ (das versprochene Land) und der deutsche Titel ist „King’s Land“ (das Land des Königs). Keiner dieser Titel ist falsch. Ich halte sie sogar alle für zutreffende, mögliche und auch gute Titel. Aber sie betonen unterschiedliche Dinge in der Geschichte.

King’s Land (Bastarden, Dänemark/Schweden/Norwegen/Deutschland 2023)

Regie: Nikolaj Arcel

Drehbuch: Anders Thomas Jensen, Nikolaj Arcel

LV: Ida Jessen: Kaptajnen og Ann Barbara, 2020

mit Mads Mikkelsen, Amanda Collin, Simon Bennebjerg, Kristine Kujath Thorp, Gustav Lindh, Morten Hee Anderson, Melina Hagberg, Martin Feifel, Arved Friese

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Internationaler Titel: The Promised Land

Hinweise

Filmportal über „King’s Land“

Moviepilot über „King’s Land“

Metacritic über „King’s Land“

Rotten Tomatoes über „King’s Land“

Wikipedia über „King’s Land“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Nikolaj Arcels „Der dunkle Turm“ (The dark Tower, USA 2017)


Neu im Kino/Filmkritik: „The Northman“ – kloppen und köpfen nach barbarischer Wikingerart

April 21, 2022

Ich könnte jetzt mühelos über Robert Eggers‘ neuen Film „The Northman“ ablästern. Dieses Menge an bodybuilding-gestählten strubbeligen Männern, die ständig, wilde Urlaute ausstoßend, aufeinanderprallen, sich prügeln mit Fäusten, Äxten, Schwertern und was sonst noch so gerade herumliegt, blutig die Köpfe einschlagen und dabei guttural grunzen, ist in den kommenden Monaten und wohl auch Jahren das dankbare Material für unzählige Memes. Da muss nur die DVD eingelegt werden und schwuppdiwupp hat man schon ein schönes Bild gefunden. Dass das alles mit bekannten, teils unter der Maske nicht erkennbaren Schauspielern inszeniert wurde und die Bilder in jeder Beziehung äußerst gelungen sind, erhöht da nur noch das Vergnügen am Erstellen der Memes.

Aber Robert Eggers wollte sicher nicht die Vorlage für unzählige Parodien abliefern. Schließlich inszenierte er vorher die äußerst gelungenen, sehr ernsten, sich an Erwachsene richtende Horrorfilme „The Witch“ und „Der Leuchtturm“. Sein Co-Drehbuchautor Sjón ist Romanautor, Texter für Björk (die in „The Northman“ mitspielt) und Co-Drehbuchautor von dem sanften, von isländischen Volksmärchen inspiriertem Horrorfilm „Lamb“. Von beiden ist also keine tumbe Schlachtplatte zu erwarten.

Die Story beginnt 895 nach Christus Geburt als König Aurvandil (Ethan Hawke) von einem Feldzug zurückkehrt. Kurz darauf wird er von seinem Halbbruder Fjölnir (Claes Bang) ermordet. Sein Sohn Amleth beobachtet die Tat seines Onkels. Weil er nicht ebenfalls getötet werden will, flüchtet er.

Zwanzig Jahre später kehrt Amleth (jetzt gespielt von Alexander Skarsgård), gestählt von Kämpfen (vulgo Gemetzeln) im Land der Rus, zurück. Der junge Mann will immer noch seinen Vater rächen. Dafür schleicht er sich unter falscher Identität am Hof von Fjölnir ein. Hof ist hier wörtlich zu verstehen. Fjölnir lebt in Island nicht in einer Festung, sondern in der Einsamkeit in einer willkürlichen Ansammlung von wenigen Häusern, die eher an einen Bauernhof erinnert. Bei ihm lebt Amleths Mutter Gudrún (Nicole Kidman).

Gut, den Plot kennen wir. Wer will, kann hier einige Shakespeare-Stücke einfügen und damit seine abendländische Bildung beweisen. Vor allem sollte er an „Hamlet“ denken und sich daran erinnern, dass Shakespeare sich für dieses Stück bei der Amletus-Sage bediente. Die englische Schreibweise von Amletus ist Amleth.

Aber für die Story und die damit verbundenen Themen interessiert Eggers sich kaum. Die Rachegeschichte entwickelt sich vollkommen überraschungs- und spannungsfrei in den bekannten Bahnen. Die Figuren, immerhin dauert der Film deutlich über zwei Stunden, bleiben eindimensional. Entsprechend wenig interessieren uns ihre Konflikte, die kaum bis überhaupt nicht vorhanden sind.

Die Rachegeschichte wird in langen Kampfszenen erzählt. Die Dialoge zwischen den Gemetzeln sind, wie bei einem Computerspiel, nur die knappen Anweisungen für den nächsten Kampf und die nächste Gore-Szene. Bei all dem spritzendem Blut, den abgetrennten Gliedern und herausquellenden Gedärmen fällt irgendwann auf, dass Eggers das alles ausführlich und leinwandfüllend präsentiert, aber seine Wikinger asexuell sind. Sie sind wie kleine vorpubertäre Jungs, die zwar ganze Dorfbevölkerungen abschlachten, dabei aber keine einzige Frau vergewaltigen. Auch später, wenn Amleth Olga von Birkenwald (Anya Taylor-Joy, erfolgreich bemüht um maximale Ausdruckslosigkeit) trifft, ändert sich das nicht. Liebe und Sex sind halt nichts für gestandene Wikinger. Sie vertreiben sich lieber die Zeit mit blutspritzenden Schlägereien im Matsch.

Diese äußerst brutalen Kämpfe sehen in jeder Beziehung toll aus. Ohne Schnitt bewegt die Kamera sich durch ein Dorf, das gerade geplündert wird. Auch in anderen Kampfszenen wird wenig geschnitten. Die Bilder von Eggers‘ Stammkameramann Jarin Blaschke erinnern an detailversessene Gemälde.

Aber all die Bildgewalt hilft nicht, wenn man sich für keine der Figuren interessiert. „The Northman“ ist eine fast hundertvierzigminütige Schlachtplatte mit Minimalstory.

The Northman (The Northman, USA 2022)

Regie: Robert Eggers

Drehbuch: Robert Eggers, Sjón

mit Alexander Skarsgård, Nicole Kidman, Claes Bang, Ethan Hawke, Anya Taylor-Joy, Gustav Lindh, Elliott Rose, Willem Dafoe, Björk, Oscar Novak, Kate Dickie, Ralph Ineson

Länge: 137 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Northman“

Metacritic über „The Northman“

Rotten Tomatoes über „The Northman“

Wikipedia über „The Northman“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Robert Eggers‘ „The Witch“ (The Witch: A New-England Folktale, Kanada/USA 2015)

Meine Besprechung von Robert Eggers‘ „Der Leuchtturm“ (The Lighthouse, USA 2019)