Der etwas andere Stadtführer: „Hamburg Noir“

März 1, 2024

Nach einer längeren Pause – „Paris Noir“ erschien 2017, „Berlin Noir“ 2018, „USA Noir 2019 – liegt bei CulturBooks jetzt der vierte deutschsprachige Band einer in den USA 2004 gestarteten, inzwischen weit über hundert Bände umfassenden Reihe, vor. Für die Reihe schreiben bekannte Autoren Noir-Kurzgeschichten. Jeder Band spielt in einer anderen Stadt, manchmal auch nur einem Stadtteil, wie die Bronx oder Brooklyn. CulturBooks adaptierte die Idee für den deutschsprachigen Raum. Für „Paris Noir“ schrieben Didier Daeninckx, DOA, Jerôme Leroy, Patrick Pécherot, Chantal Pelletier und Jean-Bernard Pouy Kurzgeschichten. Für „Berlin Noir“ schrieben Rob Alef, Max Annas, Zoë Beck, Katja Bohnet, Johannes Groschupf, Matthias Wittekindt und Ulrich Woelk Geschichten. Für „USA Noir“ schrieben Lee Child, Michael Connelly, Jeffery Deaver, Jonathan Safran Foer, William Kent Krueger, Dennis Lehane, Joyce Carol Oates und Don Winslow Noirs.

Für den vierten Band „Hamburg Noir“ fungieren Nora Luttmer, Till Raether, Matthias Wittekindt, Ingvar Ambjørnsen, Bela B Felsenheimer, Jasmin Ramadan, Frank Göhre, Timo Blunck, Katrin Seddig, Tina Uebel, Zoë Beck, Brigitte Helbling, Kai Hensel und Robert Brack als (kriminal)literarische Stadtführer.

Kurzgeschichten sind für mich ein schneller Weg, neue Autoren kennen zu lernen. Wenn mir die Kurzgeschichte gefällt, will ich auch die längeren Werke von dem Autor lesen. Manchmal erinnert eine Kurzgeschichte mich daran, dass ich von einem bestimmten Autoren wieder einen Roman lesen sollte. Einige der Autoren, die für „Hamburg Noir“ Geschichten schrieben, kenne ich.

Normalerweise sind Sammlungen von Kurzgeschichten irgendwie thematisch zusammengestellt. Beliebt sind Weihnachtskurzkrimis und an bestimmten Orten spielende Kurzkrimis. Seltener steht eine Figur, wie Frankenstein oder Hellboy, oder ein bestimmtes Milieu oder Beruf (Arzt? Bestatter?) im Mittelpunkt.

Bei „Hamburg Noir“ stehen die Großstadt, in der die Geschichten spielen, und die vorherschende Weltsicht schon im Titel. In Hamburg spielen alle Geschichten, auch wenn das Lokalkolorit in fast allen Geschichten ausbaufähig ist. Problematischer ist, dass ungefähr die Hälfte der Geschichten keine Noirs und keine Kriminalgeschichten sind. Und das ist, auch wenn alle Geschichten grandios wären, ein Problem. Denn wenn ich ein Buch lese, das als Sammlung von Kriminalgeschichten beworben wird, dann will ich Kriminalgeschichten lesen.

Blöderweise sind viele der Geschichten in „Hamburg Noir“ nicht gut, sondern erstaunlich misslungen. Als von seinen Schülern frustrierter Lehrer würde ich oft „Thema verfehlt“, „Kein Noir“, „Unklare Handlungsführung“ und „Absehbare Pointe“ mit einem roten Stift an den Rand schreiben. Geständnisse wie „Jetzt kommt eine Liebesgeschichte. Keine richtige Liebesgeschichte, am Ende gibt’s ein Verbrechen, auch kein richtiges Verbrechen,…“ (Kai Hensel: Der Dom und das Mädchen) mit einem „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung“ kommentieren.

Von den vierzehn Geschichten überzeugen nur Bela B Felsenheimers St.-Pauli-Drama „-Wer passt auf unsere Weiber auf, wenn nicht wir?-“ (in dem ein Vater im Affekt den Freund seiner mit einer Überdosis Drogen im Krankenhaus liegenden Tochter tötet und anschließend die Tat vertuschen will) und Zoë Becks „Schwarztonnensand“ (im Stil eines Drehbuchs geschriebene Groteske über einen Bootsunfall und wie der vermögende Täter zusammen mit seinen einflussreichen Freunden den Tathergang verunklart). Frank Göhre liefert nur eine okaye Geschichte mit einem Krimianteil zwischen kaum und nicht vorhanden ab.

Bei den Nicht-Krimi-Geschichten gehören Jasmin Ramadans Horrorgeschichte „Crazy Angels“ und Tina Uebels „Reeperbahn 29 Revisited“, in dem sich die Erzählerin an das Haus und die Wohnung erinnert, in der sie zwanzig Jahre lebte, zu den gelungeneren Geschichten.

Über die anderen Geschichten lege ich mal den gnädigen Mantel des Schweigens.

Dabei hat Hamburg, auch abseits der Reeperbahn, so viel Potential für stimmungsvolle Noir-Geschichten.

Jan Karsten (Hrsg.): Hamburg Noir

CulturBooks, 2023

304 Seiten

18 Euro

enthält

Nora Luttmer: Die Ameisenstraße

Till Raether: Ich bin schon fast wieder weg

Matthias Wittekindt: Schwarzdorn

Ingvar Ambjørnsen: Ganz unten

Bela B Felsenheimer: -Wer passt auf unsere Weiber wuf, wenn nicht wir?-

Jasmin Ramadan: Crazy Angels

Frank Göhre: Außénfassade

Timo Blunck: Engelfrikassee

Katrin Seddig: Der Auftrag

Tina Uebel: Reeperbahn 29 Revisited

Zoë Beck: Querab Schwarztonnensand

Brigitte Helbling: Aikido Diaries

Kai Hensel: Der Dom und das Mädchen

Robert Brack: Die Enteignung

Hinweise

CulturBooks über „Hamburg Noir“

Meine Besprechung von Aurélien Massons „Paris Noir“ (2017)

Akashic über seine Noirs