Neu im Kino (und bald im Streaming)/Filmkritik: „Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery“, göttlich gelöst von Benoit Blanc

November 27, 2025

Das ist ein Mord, der die besonderen Talente von Benoit Blanc (Daniel Craig) erfordert. In dem erfolgreichen Rätselkrimi „Knives Out“ (2019) überführte er im Kino den Mörder des Bestsellerautors Harlan Thrombey. Ein Familienmitglied ermordete Thrombey an seinem 85. Geburtstag in dem noblen Familienwohnsitz. In „Glass Onion: A Knives Out Mystery“ (2022) überführte Blanc auf Netflix den Mörder des Tech-Milliardärs Miles Bron. Während eines Krimi-Rollenspiels wurde Bron auf seiner Insel von einem der von ihm eingeladenen Spielteilnehmenden ermordet.

Jetzt überführt Benoit Blanc im Kino (für einige Tage) und ab dem 12. Dezember auf Netflix den Mörder von Monsignore Jefferson Wicks (Josh Brolin). Wicks führt im Staat New York eine ländliche Gemeinde mit ihm treu ergebenen Gläubigen und einer besonderen Verbindung zu weltlichen Einkünften. Wicks wurde während eines Gottesdienstes in einer Kammer ermordet, die man nur vom Altarraum aus betreten kann. Der junge Priester Jud Duplenticy (Josh O’Connor) entdeckte noch während des Gottesdienstes den Toten. Trotzdem beteuert er seine Unschuld. Duplenticy wurde wegen seines aufbrausenden, von tiefempfundenem Gerichtigkeitssinn geprägten Wesens zur Bewährung in Wicks‘ sündige Gemeinde versetzt.

Alle anderen Verdächtigen, die, wie Duplenticy im Voice-Over erzählt und gleichzeitig in einem Heft aufschreibt, ausgezeichnete Mordmotive hatten, saßen zum Tatzeitpunkt im Schiff auf den Kirchenbänken. Es handelt sich um die betont fromme, seit Ewigkeiten für den Monsignore klaglos alle Büroarbeiten übernehmende Martha Delacroix (Glenn Close), den umsichtigen Hausmeister Samson Holt (Thomas Haden Church), die verdächtig nervöse Anwältin Vera Draven (Kerry Washington), ihren Sohn, den aufstrebenden Politiker Cy Draven (Daryl McCormack), den Hausarzt Nat Sharp (Jeremy Renner), den zum Glauben bekehrten Bestsellerautor Lee Ross (Andrew Scott) und die Konzertcellistin Simone Vivane (Cailee Spaeny). Jeder von ihnen hat, wie es sich für einen Rätselkrimi gehört, ein Motiv und ein ausgezeichnetes Alibi.

Für Benoit Blanc ist dieser räselhafte Mord eine weitere Gelegenheit, seine besonderen Talente bei der Suche nach schlauen oder sich für schlau haltenden Mördern anzuwenden. Dabei kann er, zu unserem Vergnügen, neben den Verdächtigen auch die Polizeichefin Geraldine Scott (Mila Kunis) nerven.

Wieder einmal hat Rian Johnson ein hochkarätiges Ensemble versammelt. Wieder handelt es sich nur auf den ersten Blick um einen traditionellen Rätselkrimi, in dem der Ermittler geduldig verschiedene Spuren verfolgt, während der Zuschauer miträtselt, sondern um eine Komödie, die sich der Form des Rätselkrimis bedient. Wieder wird die Form mit zahlreichen Anspielungen und Verweisen auf andere Werke bedient. Rian Johnson hat seine Agatha-Christie-Sammlung gelesen. Und wieder hat das Ensemble erkennbar seinen Spaß dabei, möglichst amoralisch und verdächtig zu erscheinen.

Allerdings ist dieser Spaß mit 144 Minuten für einen Rätselkrimi auch zu lang geraten. Denn anstatt den Plot mit seinen falschen Spuren zügig zu entwickeln, gibt es eindeutig zu lang geratene Szenen, wie Wicks‘ Beichten vor seinem Kollegen Duplenticy, und zu viele Ab- und Umwege, die einfach beschritten werden, weil man die Zeit dafür hat. Entsprechend konfus gestalten sich dann Blancs‘ Ermittlungen. Sie wirken weniger wie die zielgerichteten Ermittlungen eines Detektivs, sondern mehr wie das Freizeitprogramm eines unaufmerksamen Kindes. Die von Autor und Regisseur Johnson ersonnene Lösung ist dann größtenteils Unfug. Anstatt dem überraschten Publikum am Ende einen (oder mehrere) Täter (oder Täterinnen) mit einem guten Motiv für ihre Tat und einem genialen, in sich stimmigem Plan zu präsentieren, wird ein auf den ersten Blick spektakuläres und überraschendes Ende gewählt, das, wenn man darüber nachdenkt, schneller als ein Kartenhaus in sich zusammen fällt und dabei das überzeugende Motiv und die wirklich guten Teile des Mordplans unter sich begräbt. 

Wenn man die Lösung einfach als gottgegeben und gottgewollt hinnimmt, dann ist die witzige Rätselkrimi-Komödie „Wake up Dead Man“ (benannt nach einem „U2“-Song von ihrem 1997er Album „Pop“), trotz seiner epischen Länge, ein kurzweiliges, einfallsreich inszeniertes Vergnügen mit einem gut aufgelegtem Ensemble.

Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery (Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery, USA 2025)

Regie: Rian Johnson

Drehbuch: Rian Johnson

mit Daniel Craig, Josh O’Connor, Glenn Close, Josh Brolin, Mila Kunis, Jeremy Renner, Kerry Washington, Andrew Scott, Cailee Spaeny, Daryl McCormack, Thomas Haden Church, Jeffrey Wright

Länge: 144 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Jetzt in einigen wenigen Kinos und auf Netflix ab 12. Dezember 2025.

Hinweise

Netflix über den Film

Moviepilot über „Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery“

Metacritic über „Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery

Rotten Tomatoes über „Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery“

Wikipedia über „Wake up Dead Man: A Knives Out Mystery“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Rian Johnsons „Looper“ (Looper, USA 2012 – mit weiteren Bildern, Links und einem 35-minütigem Interview mit Rian Johnson und Joseph Gordon-Levitt) und der DVD

Meine Besprechung von Rian Johnsons „Star Wars: Die letzten Jedi“ (Star Wars: The last Jedi, USA 2017) und des Filmromans

Meine Besprechung von Rian Johnsons „Knives out – Mord ist Familiensache“ (Knives out, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „The Mastermind“ – ein Retro-Heistthriller von Kelly Reichardt

Oktober 16, 2025

James Blaine ‚J. B.‘ Mooney (Josh O’Connor) ist keiner dieser Filmdiebe, der beim Einbruch in einen hoch gesicherten Safe eine komplizierte Alarmanlage ausschaltet und mit einer Millionenbeute verschwindet. Er ist auch keiner dieser Diebe, der mit großem Auftritt und breitem Lachen die Schönen und Reichen bestiehlt. Er ist auch kein Profi wie Richard Starks Parker, der eiskalt seine Raubzüge plant und durchführt. Mooney ist ein kleiner Fisch im Verbrecher-Haifischbecken. Er ist ein arbeitsloser, verheirateter Tischler und Vater, der sich regelmäßig mit seinen gutbürgerlichen Eltern trifft. „Er ist klug genug, um sich in Schwierigkeiten zu bringen, aber nicht klug genug, um aus den Schwierigkeiten wieder herauszukommen“ (Presseheft). Während er als unauffälliger Kunstliebhaber durch ein geöffnetes Museum streift, klaut er kleine Figuren aus der Ausstellung. Er passt auf, dass seine Diebstähle nicht bemerkt werden. Er arbeitet allein.

Beides soll sich jetzt ändern. Er will aus dem kleinen örtlichen Kunstmuseum „Framingham Museum of Art“ mehrere abstrakte Gemälde des von ihm bewunderten Künstlers Arthur Dove stehlen. Dafür ist er auf Helfer angewiesen.

Kelly Reichardt schildert in ihrem neuen, 1970 in Framingham, Massachusetts, einer ruhigen Gemeinde zwischen Worcester und Boston, spielendem Film „The Mastermind“ akribisch Mooneys familiäres Umfeld, seine präzisen Planungen, ihre gemeinsame Vorbereitung des großen Coups und den sich anders als geplant entwickelnden Diebstahl. In diesen Momenten knüpft Reichardt gelungen an das New-Hollywood-Kino und damalige Gangsterfilme an.

Auch die Zeit nach dem erfolgreichen Diebstahl, wenn die Amateurverbrecher mit der Beute entkommen wollen, ist spannend. Aber wie in „Night Moves“, ihrem Thriller über eine Gruppe Öko-Terroristen, die sich nach der Sprengung eines Staudamms trennen und an verschiedenen Orten untertauchen, schlägt die vorherige Spannung, aus den gleichen Gründen, in eine zunehmend langweilige Abfolge zufälliger Episoden um.

Bis dahin ist „The Mastermind“, musikalisch unterlegt mit einem wunderschön experimentell-jazzigem Soundtrack von Rob Mazurek (Chicago Underground), ein sich auf Details und seine Figuren konzentrierender, minimalistischer, unterkühlter und auch realistischer Heist-Thriller, der in einer Zeit spielt, als auch wertvolle Gemälde in öffentlichen Ausstellungen kaum gesichert waren.

Ohne die Schwächen in der zweiten Hälfte, vor allem im dritten Akt, wäre „The Mastermind“ ein perfekter Film für den Cineasten, New-Hollywood-Fan und Fan von Siebziger-Jahre-Gangsterfilmen. So reiht sich Reichardts gewohnt ruhig erzählter Film in die dieses Jahr erstaunlich umfangreiche Reihe der Filme ein, die eine überzeugende, teils sogar grandiose erste Hälfte haben und an einem bestimmten Punkt in der zweiten Hälfte ihren Plot eigentlich erzählt haben oder vollständig verlieren und in jedem Fall zunehmend langweilen.

The Mastermind (The Mastermind, USA 2025)

Regie: Kelly Reichardt

Drehbuch: Kelly Reichardt

mit Josh O’Connor, Alana Haim, Sterling Thompson, Jasper Thompson, Hope Davis, Bill Camp, John Magaro, Gaby Hoffmann, Eli Gelb

Länge: 111 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Mastermind“

Metacritic über „The Mastermind“

Rotten Tomatoes über „The Mastermind“

Wikipedia über „The Mastermind“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts “Night Moves” (Night Moves, USA 2013 – mit zahlreichen O-Tönen von Kelly Reichardt und den Schauspielern)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „Night Moves“ (Night Moves, USA 2013 – zur DVD-Veröffentlichung)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „Certain Women“ (Certain Women, USA 2016)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „First Cow“ (First Cow, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Challengers – Rivalen“ auf dem Tennisplatz und im Bett

April 25, 2024

Art Donaldson (Mike Faist) befindet sich als Tennisprofi – mehrfacher Grand-Slam-Gewinner und einer der fünf besten Tennisspieler weltweit – in einer mentalen Tiefphase. Anstatt zu gewinnen, verliert er. Seine Frau und Managerin Tashi (Zendaya) schickt ihn deshalb zu einem kleinen Turnier an einer Provinzuniversität. Seine Gegner sind Anfänger, die er leicht besiegen kann. Danach sollte er mental wieder fit für die nächsten richtigen Turniere sein.

Dieser Plan kollidiert mit der Wirklichkeit, als Patrick Zweig (Josh O’Connor) auftaucht. Auch er ist ein Tennisprofi. Er zehrt von früheren Erfolgen und ist in einer finanziellen Tiefphase. Mit seiner Kreditkarte kann er noch nicht einmal ein billiges Hotelzimmer bezahlen. Das Preisgeld würde sein Bankkonto aufbessern.

Es ist klar, dass diese beiden Profis, wenn nichts unvorhergesehenes passiert, im Finale gegeneinander antreten werden. Aber es kommt noch schlimmer. Denn Art, Patrick und Tashi kennen sich von früher.

Vor dreizehn Jahren waren die Jugendfreunde Art und Patrick sehr gut miteinander befreundet. Auf der Tennisschule teilen die Schüler ein Zimmer. Auf dem Tennisplatz sind sie ein Team. Das im Profisport übliche und vor allem im Tennis alles dominierende Konkurrenzdenken und der unbedinge Wille zum Gewinnen ist ihnen, wenn sie gegeneinander spielen, fremd. Sogar während des Trainings treten sie äußerst ungern gegeneinander an.

Während eines Turniers lernen die beiden Achtzehnjährigen die gleichaltrige Tashi Duncan kennen. Sie ist ein raketengleich aufsteigendes Talent, in das sie sich bei ihrer ersten Begegnung sofort verlieben. Als sie eines ihrer Spiele besuchen, haben sie nur noch Augen für Tashi. Luca Guadagnino zeigt das wunderschön ökonomisch und überdeutlich: anstatt das Spiel und damit, wie die anderen Zuschauer, die Bewegungen des Tennisballs zu verfolgen, starren Art und Patrick mit offenen Mündern nur auf Tashi. Kurz darauf sprechen sie sie, in dem sicheren Bewusstsein, von ihr eine Abfuhr zu erhalten, an. Sie nimmt die Einladung an, verdreht den beiden verliebten Jungs hoffnungslos den Kopf und manipuliert sie.

Ob sie dies mehr unschuldig-naiv oder eiskalt-berechnend tut, wie sehr ihre Handlungen rein egoistisch motiviert sind und wie sehr sie die beiden Jungs liebt, bleibt dabei bis nach dem Abspann wohltuend diffus. Ähnliches gilt für Art und Patrick, die beide deutlich naiver und manipulierbarer sind. Trotzdem ist immer zumindest etwas unklar, wer hier wen gerade für was benutzt. Weil Guadagnino die wahren Gefühle und Motive von Tashi, Art und Patrick, die sich im Lauf der Zeit auch ändern, durchgehend in der Schwebe lässt, gelingt es ihm einerseits komplexe Figuren und ein komplexes Beziehungsgeflecht zu schaffen, und andererseits, in schönster trashiger Pulp-Tradition, munter drauflos zu delirieren. Hier ist alles immer eine Spur zu offensichtlich, zu grell, zu laut (die Musik ist von Trent Reznor und Atticus Ross) und jede Szene ist länger und intensiver als nötig inszeniert. Dafür verzichtet er auf Psycholigisierungen. Hier ist alles Oberfläche. In seiner Inszenierung schielt Guadagnino mit seiner im Profitennismilieu spielenden Dreiecksgeschichte , die sich für Tennis herzlich wenig interessiert, eindeutig in Richtung Werbe- oder Musikvideo.

Während des gesamten Films springt er, mit vielen bewussten Lücken und Auslassungen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und erzählt dabei die Liebes-Dreiergeschichte zwischen Tashi, Patrick und Art als Delirium zwischen Traum und Alptraum.

Das macht „Challengers – Rivalen“ zu einem Trip, der einem, wie mir, gerade wegen seinem hemmungslosem Flirten mit und zwischen Trash und Pulp gefällt. Oder man hält das Drama für prätentiöse Scheiße, in der ein Nichts an Handlung mit exaltierter Kameraarbeit, hoffnungslosen Übertreibungen, einer konfusen Erzählung und dröhnend lauter Techno-Musik überdeckt werden soll, Zwischen diesen polarisierenden Meinungen dürfte es bei Guadagninos neuem Film nichts geben. Und das ist gut so.

Challengers – Rivalen (Challengers, USA 2024)

Regie: Luca Guadagnino

Drehbuch: Justin Kuritzkes

Musik: Trent Reznor, Atticus Ross

mit Zendaya, Mike Faist, Josh O’Connor, Darnell Appling, Bryan Doo, Nada Despotovich, Joan Mcshane

Länge: 132 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Challengers – Rivalen“

Metacritic über „Challengers – Rivalen“

Rotten Tomatoes über „Challengers – Rivalen“

Wikipedia über „Challengers – Rivalen“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „A bigger Splash“ (A bigger Splash, Italien/Frankreich 2015) und der DVD

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Call me by your Name“ (Call me by your Name, USA 2017)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Suspiria“ (Suspiria, Italien/USA 2018)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Bones and All“ (Bones and All, Italien/USA 2022)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Alice Rohrwachers „La Chimera“

April 11, 2024

Es heißt, die Geschichte von „La Chimera“ spiele in Italien in den 80er Jahren. Aber es ist ein Italien, das wie ein Fantasieland wirkt. Sicher, gedreht wurde in existierenden Landschaften in existierenden Gebäuden, aber nie sieht es nach den real existierenden 80er Jahren aus. Alles sieht wie ein über Jahrzehnte konserviertes Nachkriegsitalien zwischen Neorealismus, Felllini und etwas Pasolini aus. Eine alternde Aristokratin zelebriert in einer Villa, die mehr Ruine als Villa ist, einen aristokratischen Lebensstil. Arthur, so etwas wie der Protagonist der Geschichte, ist ein Ausländer unklarer, möglicherweise britischer Herkunft. Er lebt in einem an die Stadtmauer geklatschten Windschutz, der kaum Schutz vor dem Wetter bietet und sogar im Mittelalter als ärmlich gegolten hätte. Er ist der Anführer einer Bande ziemlich erfolgloser einheimischer Grabräuber. Mit einer Wünschelrute kann er in Etrurien Gräber finden. In ihnen sind wertvolle Grabbeigaben. Sie plündern die Gräber ohne einen Funken Kunstverstand und verkaufen die Beute anschließend für einige Lire auf dem Schwarzmarkt. Aber Arthur ist kein normaler Grabräuber. Seine von ihm gesuchte Chimäre sieht wie eine Frau aus, die er verloren hat und die er hinter dem Tor zum Jenseits hofft zu finden.

Und wer jetzt schon entnervt abwinkt, wird an „La Chimera“ keine Freude haben. Alice Rohrwacher neuer Film ist, nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“, der Abschluss ihrer Trilogie über das ländliche Italien. An einem schnöden Realismus oder einer einfach fassbaren Sozialkritik ist sie nicht interessiert. Ihr Realismus endet in „La Chimera“ mit den Drehorten und der in Italien real vorhandenen Grabräuberei. Danach ist der Schritt in fantastische und magische Welten, in denen die Gesetze der Logik und der Rationalität nicht gelten, schnell vollzogen. Zwischen diesen Welten, der Gegenwart und der Vergangenheit, mäandert der Film, wenig bis überhaupt nicht an Erklärungen interessiert, vor sich hin.

Das bewegt sich eigenständig in einem eigenen erzählerischem, an italienische Erzähltraditionen anknüpfendem Kosmos. Vielen Kritikern gefiel das sehr gut. Mir blieb der sich daraus ergebende Reiz weitgehend verborgen.

La Chimera (La Chimera, Italien/Frankreich/Schweiz 2023)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

mit Josh O‘Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Yile Yara Vianello, Lou Roy-Lecollinet

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „La Chimera“

Metacritic über „La Chimera“

Rotten Tomatoes über „La Chimera“

Wikipedia über „La Chimera“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „The Riot Club“ ist nicht vorbildlich

Oktober 11, 2014

Auch wenn in der lauschigen, ehrwürdigen Universitätsstadt Oxford (152.000 Einwohner, 20.000 Studenten), wie wir aus „Inspector Morse“ und „Lewis – Der Oxford Krimi“ wissen, emsig im Universitätsmilieu gemordet wird, zeigt „The Riot Club“ ein Bild der Studentenkultur, das wir so noch nicht gesehen haben.
Der – erfundene – Riot Club ist eine Dining Society, ein elitärer Club, in dem sorgfältig ausgewählte Mitglieder sich zum Jahresabschluss zu einem exklusiven und kostspieligem Abendessen treffen. Mitglied wird man, indem man von anderen Mitgliedern eingeladen wird und die Aufnahmeprüfungen besteht; wobei die Existenz dieser Clubs bekannt, aber ihr Innenleben ein gut gehütetes Geheimnis ist. Jeder hat schon einmal von ihnen gehört, aber niemand spricht darüber. Jeder weiß, dass Premierminister David Cameron und Londons Bürgermeister Boris Johnson zur gleichen Zeit Mitglied im „Bullington Club“ waren, der für seine Exzesse bekannt-berüchtigt ist.
In ihrem Theaterstück „Posh“ poträtiert Laura Wade einen fiktiven Club, der allerdings an den „Bullington Club“ erinnert. Ihr erfolgreiches Theaterstück verarbeitete sie zu einem Drehbuch, das jetzt von Lone Scherfig (Italienisch für Anfänger, An Education) als „The Riot Club“ verfilmt wurde. Der titelgebende Club besteht aus Mitgliedern der englischen Oberschicht, die ein Haufen vergnügungssüchtiger Snobs sind, deren Leben aus Drogenkonsum, Sex und pubertärem Gehabe besteht und die Glauben, sich mit ihrem Geld alles kaufen zu können. Dass diese Elite nicht besonders vorteilhaft wegkommt, wäre untertrieben.
Für das diesjährige Festessen muss, weil der Riot Club aus zehn Mitgliedern besteht, der Clubpräsident zwei neue Mitglieder aufnehmen. Die erste Hälfte des Films zeigt das Leben der Studenten in Oxford und wie der bodenständig-normale Studienanfänger Miles und Alistair, dessen großer Bruder bereits Präsident des Clubs war, Mitglieder des Clubs werden.
In der zweiten Hälfte wird dann mit kühler Präzision die alljährliche Völlerei des Clubs und die ihr innewohnende destruktive Dynamik gezeigt. Denn das Programm des Abends besteht in Essen und Trinken bis zum Umkippen. Die Zerstörung des Inventars ist ein läßlicher Nebenaspekt, der am nächsten Tag ohne mit der Wimper zu zucken finanziell beglichen wird. Spaß haben kostet halt Geld. Und für die Dinge, die nicht sofort mit Geld geregelt werden können, gibt es ja gute Anwälte und Beziehungen, die sie nach diesem Abendessen brauchen werden.
„The Riot Club“ zeigt, trotz satirischer Zuspitzungen und einer wenig subtilen Darstellung der Klassengesellschaft (die edle Arbeiterklasse hier, die dekadenten Reichen da), wie eine Klasse sich an der Macht hält und damit ein marodes System konserviert. Denn das einzig elitäre an dem Riot Club ist der von ihren unhinterfragte Glaube an die eigene Überlegenheit.

The Riot Club - Plakat

The Riot Club (The Riot Club; Posh, Großbritannien 2014)
Regie: Lone Scherfig
Drehbuch: Laura Wade
LV: Laura Wade: Posh, 2010 (Theaterstück)
mit Sam Claflin, Max Irons, Douglas Booth, Sam Reid, Ben Schnetzer, Jack Farthing, Matthew Beard, Freddie Fox, Josh O’Connor, Olly Alexander, Jessica Brown Findlay, Holliday Grainger, Natalie Dormer
Länge: 107 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „The Riot Club“
Moviepilot über „The Riot Club“
Metacritic über „The Riot Club“
Rotten Tomatoes über „The Riot Club“
Wikipedia über „The Riot Club“