Seit 25 Jahren lebt eine namenlose Familie mit ihren wenigen Angestellten in einem hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenem Salzbergwerk. Aufgrund eines ökologischen Kollapses ist die Welt unbewohnbar. In ihrem Bunker habe sie sich eine eigene Welt aufgebaut, die wie eine leicht verschobene Version unserer Welt wirkt. Tägliche Routinen geben ihrem Leben eine Struktur.
Als eines Tages ein Schwarzes Mädchen bei ihnen auftaucht, könnte das für die Familie der Beginn von großen Veränderungen sein. Aber dann läuft doch alles seines gewohnten Gang weiter: das Mädchen wird in die Familie aufgenommen, es wird gesungen und eine Scheinnormalität aufrecht gehalten.
Während Joshua Oppenheimer („The Act of Killing“, „The Look of Silence“) mit einem Top-Cast – Tilda Swinton als Mutter, Michael Shannon als Vater, George MacKay als ihr Sohn und Moses Ingram als das Mädchen – dieses Leben in schönster Slow-Cinema-Manier über epische 149 Minuten zelebriert und die Schauspieler dreizehn verschiedene Lieder singen und unaufgeregt durch die Räume wandeln, konnte ich darüber nachdenken, warum sie nicht mehr von dem Mädchen wissen wollen, warum sie nicht verzweifelt nach der potentiell tödlichen Lücke in ihrem Sicherheitssystem suchen, durch die das Mädchen in ihren Bunker gelangte und warum sie nicht die Außenwelt, auf der man anscheinend wieder leben kann, erkunden. Keine dieser Fragen und möglichen Antworten interessierte Oppenheimer in seinem Irgendwie-Endzeit-Musical.
Wir erfahren auch nichts, über die Katastrophe, die die Welt unbewohnbar macht, über die Familie, die seit einem viertel Jahrhundert in diesem Bunker lebt und einen durchaus putzigen Wohlstandswahnsinn entwickelte. Über diese Wahnsinn können wir ebenfalls nachdenken, während die Kamera das fotogene Salzbergwerk zeigt.
Am Ende des merkwürdigen, zwischen allen Stühlen und Erwartungen sitztenden Films bleibt nur schön gefilmte Langeweile.
The End (The End, Deutschland/Irland/Italien/Schweden/Großbritannien 2024)
Regie: Joshua Oppenheimer
Drehbuch: Joshua Oppenheimer, Rasmus Heisterberg
mit Tilda Swinton, Michael Shannon, George MacKay, Moses Ingram, Bronagh Gallagher, Tim McInnerny, Lennie James, Danielle Ryan
Werner Herzog: Radikaler Träumer (Deutschland/USA 2022)
Regie: Thomas von Steinaecker
Drehbuch: Thomas von Steinaecker
TV-Premiere; „Werner Herzog: Radikaler Träumer“ ist die aus vollkommen unverständlichen Gründen um eine halbe Stunde gekürzte Fassung von Thomas von Steinaeckers sehr gelungener Doku „Werner Herzog – Radical Dreamer“ über das Leben und Werk von Werner Herzog.
Die Doku ist Teil eines langen Werner-Herzog-Abends. Um 20.15 Uhr zeigt Arte sein selten gezeigtes Kriegsdrama „Rescue Dawn“ (USA/GB/D 2006, mit Christian Bale), um 23.25 Uhr seine Dracula-Version „Nosferatu: Phantom der Nacht“ (D/Fr 1979, mit Klaus Kinski) und um 01.08 Uhr sein ebenfalls selten gezeigte Drama „Stroszek“ (D 1976, mit Bruno S.)
Mit (jedenfalls in der Kinofassung) Werner Herzog, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Lena Herzog, Nicole Kidman, Christian Bale, Robert Pattinson, Chloé Zhao, Thomas Mauch, Joshua Oppenheimer, Patti Smith, Lucki Stipetic, Carl Weathers, Peter Zeltinger
Im Umfeld von Werner Herzogs achtzigstem Geburtstag gibt es so etwas wie Herzog-Festspiele. Neben einer Ausstellung in der Deutschen Kinemathek gibt es einen im Kino laufenden Dokumentarfilm über sein Leben und seine Autobiographie „Jeder für sich und Gott gegen alle“
Außerdem verzeichnet die IMDb für dieses Jahr zwei von Herzog inszenierte Dokumentarfilme („Theatre of Thought“ und „The Fire Within: A Requiem for Katia and Maurice Krafft“). Für nächstes Jahr ist bereits ein weiterer Film („Fordlandia“) amgekündigt.
In seiner Dokumentation „Werner Herzog – Radical Dreamer“ zeichnet Thomas von Steinaecker Herzogs Leben chronologisch nach. Dafür unterhielt er sich ausführlich mit Herzog und besuchte mit ihm für ihn wichtige Orte, wie das Haus in Sachrang, einem oberbayerischem Dorf nahe der Grenze zu Österreich, in dem er seine Kindheit verbrachte. Dazu gibt es Statements von Freunden und Menschen, mit denen er arbeitete. Wim Wenders und Volker Schlöndorff, die wie er zum Jungen Deutschen Film (aka dem Neuem Deutschen Film) gehören, sind dabei. Ebenso einige Schauspieler, mit denen er zusammen arbeitete, wie Christian Bale, Nicole Kidman und Robert Pattinson, und Bewunderer, wie Chloé Zhao (sie erhielt 2017 für „The Rider“ den Werner-Herzog-Filmpreis). Dazu gibt es Ausschnitte aus einigen Filmen von Werner Herzogs.
Entstanden ist ein formal konventioneller, sehr informativer Film über sein Leben.
Für Herzog-Fans, die immer sein gesamtes Werk im Blick hatten, gibt es deshalb in diesem gleungenem Dokumentarfilm wenig Neues zu Entdecken. Für sie ist der Film höchstens eine willkommene Auffrischung und ein Schwelgen in Erinnerungen. Ergänzt um einige neue Statements von Werner Herzog, die sich mühelso in frühere Statements einreihen und in denen Herzog seinen Ruf als originärer, sympathisch verschrobener und oft sehr tiefsinniger Denker pflegt.
Herzog-Fans, die glauben, dass er nach „Fitzcarraldo“ keine Filme mehr drehte, sondern irgendwo im Dschungel verschwunden ist und Schuhe isst (Wunderschön sind die Reaktionen der Hollywood-Stars, wenn sie von dieser Herzog-Aktion erfahren, die Les Blank in seinem Kurzfilm „Werner Herzog Eats His Shoe“ dokumentierte.), werden erstaunt feststellen, dass Herzog in den vergangenen vierzig Jahren einige weitere Spielfilme und viele Dokumentarfilme drehte. Außerdem wurde Herzog zu einer Figur der US-Popkultur mit Auftritten bei den „Simpsons“ und kleineren Auftritten als Schauspieler in hoch budgetierten Hollywood-Produktionen wie „Jack Reacher“ und „The Mandalorian“.
Seine jüngeren Fans, die ihn aus den „Simpsons“ kennen, dürften erstaunt sein, dass er davor einer der wichtigen Regisseure des deutschen Films der siebziger Jahre war. Schon damals genoss er einen legendären Ruf als der Weltreisende des deutschen Films. Seinen Kaspar-Hauser-Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“ drehte er in Deutschland. Aber fast alle sene anderen Filme drehte er im Ausland. Mit „Aguirre, der Zorn Gottes“ und „Fitzcarraldo“ ging es nach Südamerika. Mit „Nosferatu – Phantom der Nacht“ inszenierte er seine von Murnau deutlich beeinflusste Dracula-Version. Und in „Cobra Verde“ beschäftigte er sich mit dem Sklavenhandel im 19. Jahrhundert. Ein Teil des in Kolumbien und Ghana gedrehten Films spielt im aktuell aus „The Woman King“ bekanntem Königreich von Dahomey.
Für alle, die bislang wenig bis nichts über Werner Herzog wussten, ist „Werner Herzog – Radical Dreamer“ eine gelunge, konzentrierte, die richtigen Schwerpunkte setzende Einführung in sein Werk.
Werner Herzog – Radical Dreamer(Deutschland/USA 2022)
Regie: Thomas von Steinaecker
Drehbuch: Thomas von Steinaecker
mit Werner Herzog, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Lena Herzog, Nicole Kidman, Christian Bale, Robert Pattinson, Chloé Zhao, Thomas Mauch, Joshua Oppenheimer, Patti Smith, Lucki Stipetic, Carl Weathers, Peter Zeltinger
Länge: 103 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Der Buchtipp
Werner Herzog erzählt sein Leben. Schön kurzweilig und immer nah an der Herzog-Wahrheit.
Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle – Erinnerungen
The Act of Killing – Der Akt des Tötens (Dänemark/Norwegen/Großbritannien 2012, Regie: Joshua Oppenheimer, Anonymous, Christine Cynn)
Allein schon für die Idee hätte „The Act of Killing“ einen Oscar verdient. Es wurde dann nur eine Nominierung als bester Dokumentarfilm. Dafür gewann der Film etliche andere Preise, unter anderem auf der Berlinale 2012 den Preis der ökomenischen Jury und den Panorama Publikumspreis.
Denn die Idee für den Film ist so einfach, wie genial: Joshua Oppenheimer ließ Männer, die 1965/66 in Indonesien bei den Massenmorden beteiligt waren und die heute immer noch unbehelligt in Indonesien leben und stolz auf ihre Taten sind, sie vor laufender Kamera nachinszenieren.
Der so entstandene Film bietet einen erschreckenden Blick in die Banalität des Bösen und zwingt zum Nachdenken. Kein angenehmer Film.
Arte zeigt eine 95-minütige Fassung. Im deutschen Kino lief eine zweistündige Fassung. Und dann gibt es noch eine 150-minütige Fassung des Films, die auf DVD erschien.