Französisch morden: Nestor „Burma“, erfunden von Léo Malet, gezeichnet von Jacques Tardi

November 9, 2021

Nestor Burma ist ein Privatdetektiv, der offensichtlich von Raymond Chandlers Philip Marlowe inspiriert ist. Allerdings ermittelt Burma nicht in irgendeiner US-amerikanischen Großstadt, sondern in Europa. Bevorzugt in Paris und sein Erfinder Léo Malet hatte die geniale Idee, Burma durch die Pariser Arrondissements ermitteln zu lassen. Pfeife rauchend, immer wieder gut aussehenden Frauen und fiesen Schlägern begegnend und dabei vertrackte Mordfälle aufklärend. Die Romane erschienen zwischen 1943 und 1983; wobei der Großteil in den Vierzigern und, vor allem, den Fünfzigern erschien. Sie spielen daher vor allem in den Fünfzigern; also dem Paris vieler großartiger SW-Kriminalfilme. Ins Deutsche wurden sie teilweise erst Jahrzehnte später, manchmal mehrmals, übersetzt. Aktuell sind im die Distel Literaturverlag erschienenen Neuübersetzungen regulär erhältlich. Ältere Übersetzungen und Ausgaben – am bekanntesten dürften die Rowohlt-Taschenbuchausgaben sein – sind nur noch antiquarisch erhältlich. Da dürften sie allerdings einfach zu finden sein.

Sie wurden auch mehrmals verfilmt. Am erfolgreichsten war die zwischen 1991 und 2003 ausgestrahlte, auf 39 Episoden kommende TV-Serie „Nestor Burmas Abenteuer in Paris“ (Nestor Burma). Guy Marchand spielte den Privatermittler. In Deutschland wurden nur einige wenige der jeweils spielfilmlangen Folgen gezeigt. Léo Malet war an mehreren Drehbüchern beteiligt.

Malet (1909 – 1996) begeisterte sich in jungen Jahren für surrealistisch-anarchistisch-trotzkistische Gruppen, wurde 1930 Mitglied der „Groupe Surréaliste“, begann in den 1940er Jahren mit dem Schreiben von Kriminalromanen und veröffentlichte 1943 mit „120, Rue de la Gare“ seinen ersten Nestor-Burma-Roman, der auch als erster französischer „Roman Noir“ bezeichnet wird.

Und es gibt mehrere Comicversionen der Nestor-Burma-Romane. Die erste war 1982 von Jacques Tardi. Tardi arbeitet immer wieder mit Krimiautoren, unter anderem Didier Daeninckx, Jean-Patrick Manchette, Daniel Pennac, Pierre Siniac und Jean Vautrin, zusammen. Manchmal erstellte er von deren Romanen Comics, manchmal erfanden sie gemeinsam Geschichten. Seinen endgültigen Durchburch hatte er in den Siebzigern mit der, auch von Luc Besson verfilmte, Reihe „Adeles ungewöhnliche Abenteuer“. Zu seinen jüngsten Arbeiten gehört, über seinen Vater, „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“.

Tardi veröffentlichte vier Nestor-Burma-Romanadaptionen und einen Comic, der der Welt von Nestor Burma nachempfunden war.

Diese vier Romanadaptionen – „120, Rue de la Gare“, „Wie steht mir Tod?“, „Die Brücke im Nebel“ und „Kein Ticket für den Tod“ hat die Edition Moderne jetzt in einem Sammelband veröffentlicht. Das Buch enthält neben den Comics keine Informationen über die Autoren, die früheren Ausgaben, die Originaltitel und die Bedeutung dieser Comics. Damit wirkt „Burma“ wie eine dieser lieblosen Zusammenstellungen, die einfach noch einmal bekannte Texte in einer billigeren Ausgabe zusammenfügt.

120, Rue de la Gare“ erschien als Roman 1943 und er ist eindeutig ein Zeitdokument. Nestor Burma ist am Anfang der Geschichte in einem Kriegsgefangenenlager. Einer seiner Mitgefangenen hat sein Gedächtnis verloren. Vor seinem Tod sagt er zu Burma „120, Rue de la Gare“. Kurz darauf, Burma wurde inzwischen aus dem Stalag befreit, trifft er in Lyon auf dem Bahnhof einen früheren Angestellten seiner Detektei „Fiat Lux“. Dieser ruft ihm, bevor er hinterrücks erschossen wird, die gleiche Adresse zu. Die mögliche Täterin ist – wir sind in einem Kriminalroman aus den Vierzigern! – eine gutaussehende Frau. Burma will hinter das Geheimnis der Adresse kommen und den Mörder seines Kollegen finden. Die Spur führt nach Paris und in die Vergangenheit.

Die nächsten drei Burma-Geschichten spielen in Paris in den Fünfzigern.

In „Wie steht mir Tod?“ bittet ein halbseidener, älterer Künstler Nestor Burmas Sekretärin um Geld. Kurz darauf ist er spurlos verschwunden.

In „Die Brücke im Nebel“ wird ein Freund aus Burmas lange zurückliegenden Anarchistentagen, den er seit damals nicht mehr gesehen hat, ermordet.

In „Kein Ticket für den Tod“ wird während einer Achterbahnfahrt ein Mordanschlag auf Burma verübt. Burma wehrt sich. Der Angreifer überlebt den Kampf nicht und Burma fragt sich, wer ihn warum umbringen möchte.

120, Rue de la Gare“ ist mit gut zweihundert Seiten der längste Fall des Sammelbandes. Er liest sich, auch weil die Burma-Romane so um die zweihundert Seiten haben, wie eine illustrierte Version des Romans. In den anderen drei Comics, die immer um die siebzig Seiten haben, gelingt die Übertragen von dem einen in das andere Medium besser. Sie lesen sich nicht, wie ein illustrierter Roman, sondern wie eigenständige Geschichten.

Die Fälle sind, aus heutiger Sicht, ein nostalgischer Blick zurück. Tardi und Malet zeigen nicht nur ein Paris, das es nicht mehr gibt, sondern sie erzählen auch ihre Geschichten so, wie sie heute nicht mehr erzählt werden. Schließlich gehört der Hardboiled-Detektiv der fünfziger Jahre, der in diesem Fall sehr gut in Europa funktioniert, der Vergangenheit an. Und gerade das trägt zum Lesevergnügen bei.

Jetzt, nach den vier Nestor-Burma-Comics, habe ich Lust, einen Nestor-Burma-Roman zu lesen.

Léo Malet/Jacques Tardi: Burma

(übersetzt von Martin Budde, Kai Wilksen und Wolfgang Bortlik)

Edition Moderne, 2021

408 Seiten

39 Euro

enthält

120, Rue de la Gare (120, rue de la Gare, 1988)

Wie steht mir Tod? (M’as-tu vu en cadavre?, 2000)

Die Brücke im Nebel (Brouillard au pont de Tolbiac, 1982)

Kein Ticket für den Tod (Casse-pipe à la Nation, 1996)

Hinweise

Edition Moderne über „Burma“

Wikipedia über Léo Malet (deutsch, englisch, französisch), Jacques Tardi (deutsch, englisch, französisch) und Nestor Burma (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Leo Malets „Das Leben ist zum Kotzen“ (La vie est dégueulasse, 1948)

Meine Besprechung von Léo Malets „Die Sonne scheint nicht für uns“ (Le soleil n’est pas pour nous, 1949)


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Französisch morden mit Léo Malet und Christian Roux

April 20, 2016

pbRoux - Der Mann mit der Bombe

Wahrscheinlich wird in Frankreich genauso viel Mist veröffentlicht wie bei uns, aber es wird nicht alles übersetzt und das, was übersetzt wird, hat dann oft einen sehr eigenen Ton, der gefällt. Jedenfalls wenn man auf Noir steht.

Dass es düster wird, verrät schon der Titel von Léo Malets jetzt wieder veröffentlichtem zweiten Band der Schwarzen Trilogie: „Die Sonne scheint nicht für uns“. Und der Klappentext des im Original 1949 erschienenen hundertzwanzigseitigen Romans verrät das Ende: „Der sechzehnjährige André wird wegen Vagabundierens ins Jugendgefängnis gesteckt – und endet als jüngster Geköpfter Frankreichs unter der Guillotine.“ Aber über den Weg dorthin verrät der Klappentext nichts und dieser gradlinige Weg ins Verderben, natürlich beschritten mit einer Femme Fatale, ist überaus lesenswert. Immer noch. Denn während mir Malets erster Band der Schwarzen Trilogie „Das Leben ist zum Kotzen“ nicht so gefiel, ist „Die Sonne scheint nicht für uns“ ein spannender Einblick in das Leben der Unterschicht in den zwanziger Jahren (das Buch spielt 1926), das mit dem heute immer noch allseits bekanntem Leben der Bohème nichts zu tun hat. Woody Allen beschrieb es ja in seinem 2011er „Midnight in Paris“ wieder in den schönsten Farben, die in „Die Sonne scheint nicht für uns“ nichts zu suchen haben. Außerdem ist Malets Ich-Erzähler André für seine jungen Jahre schon erstaunlich desillusioniert. Aber er hatte auch nie eine Chance.

Neben der Schwarzen Trilogie ist Léo Malet vor allem als Erfinder von Nestor Burma bekannt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mit hundertvierzig Seiten ist Christian Roux‘ „Der Mann mit der Bombe“ ebenfalls ziemlich kurz geraten und auch hier würde niemand ernsthaft auf ein glückliches Ende wetten. Der Arbeitslose Mittvierziger Larry, der Tontechniker war, Frau und Kind hat, hat sich eine Bombenattrappe gebaut. Das verleiht ihm vor allem bei den peinlichen Vorstellungsgesprächen ein Gefühl von Macht. Als er, während er selbst gerade die Bank überfallen will, zufällig in einen aus dem Ruder laufenden Banküberfall gerät, zeigt er seine Bombe und flüchtet mit der Bankräuberin Lu, einer jungen, kokssüchtigen Frau, die panische Angst vor dem Alleinsein hat. Auf ihrer ziellosen Reise durch Frankreich überfallen sie kleine Postfilialen, werden von ihren Kompagnons und der Polizei verfolgt und fragen sich, wie ihr Leben enden soll.

Das hat natürlich etwas von Bonnie & Clyde, erinnert auch an all die französischen Krimis, in denen sich im Hinterland (also alles, was nicht das Zentrum Paris ist), garniert mit Sex und Gewalt, eine wilde Hatz zwischen Polizisten und mehr oder weniger unschuldig Verfolgten entwickelt.

Der Mann mit der Bombe“ ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman des 1963 geborenen Christian Roux. Für seine Romane erhielt er mehrere Krimipreise.

Léo Malet: Die Sonne scheint nicht für uns

(übersetzt von Andrea Jossen, mit einem Nachwort von Tobias Gohlis)

Nautilus, 2016

144 Seiten

14,90 Euro

Deutsche Erstausgabe

Edition Nautilus, 1989

Originalausgabe

Le soleil n’est pas pour nous

Editions du Scorpion, 1949

Christian Roux: Der Mann mit der Bombe

(übersetzt von Cornelia Wend, mit einem Vorwort von Frank Göhre )

Polar, 2016

154 Seiten

12,90 Euro

Originalausgabe

L’homme à la bombe

Editions Payot & Rivages, 2012

Hinweise

Wikipedia über Léo Malet (deutsch, französisch)

Krimi-Couch über Léo Malet

Meine Besprechung von Leo Malets „Das Leben ist zum Kotzen“ (La vie est dégueulasse, 1948)

Polar über Christian Roux

Wikipedia über Christian Roux


Französische Verbrechen mit Léo Malet und Jérémie Guez

September 14, 2015

Malet - Das Leben ist zum Kotzen - 2015 - 2Guez - Paris die Nacht

Vor einigen Wochen sagte ich zu einem Freund: „Warum soll ich ein Buch von Léo Malet lesen? Der ist schon seit fast zwanzig Jahren tot und Neuausgaben gibt es keine.“
Nun, tot ist Malet immer noch, aber mit „Das Leben ist zum Kotzen“ gibt es eine Neuausgabe von einem seiner alten Romane (mit einem informativem Nachwort von Tobias Gohlis) und damit auch einen guten Grund, einen Malet zu lesen. Malet – für alle, die sich verzweifelt fragen, wer dieser Malet denn ist – ist vor allem bekannt für seine derzeit vor allem antiquarisch erhältliche Nestor-Burma-Privatdetektivserie, von denen jeder Roman in Paris in einem anderen Arrondissement in Paris spielt.
In „Das Leben ist zum Kotzen“, dem ersten Band seiner zwischen 1947 und 1949 entstandenen Schwarzen Trilogie (Band zwei ist „Die Sonne scheint nicht für uns“, Band drei ist „Angst im Bauch“), erzählt Malet die Geschichte von Jean Fraiger. Er ist der Kopf einer kleinen Verbrecherbande, die ihren ersten Überfall auf einen Lohngeldtransporter quasi im Auftrag streikender Bergarbeiter begeht. Dummerweise gerät der einfache Überfall etwas außer Kontrolle. Der Fahrer wird verletzt. Der Beifahrer wird erschossen. Er ist der Vater von Gloria, der Frau von Lautier, was kein Probleme wäre, wenn Fraiger, der ihren Vater erschoss, nicht unsterblich in sie verliebt wäre.
Und die streikenden Arbeiter wollen nach dem aus dem Ruder gelaufenem Überfall auch nicht das Geld. Sie wollen es vollständig verbrennen.
Kein Wunder, dass Fraiger meint: „Das Leben ist zum Kotzen.“
Aber er und seine Bande machen weiter. Dass das kein gutes Ende nimmt, können wir uns denken. Immerhin ist der Roman schon vor über 65 Jahren geschrieben worden und damals war es eine eherne (heute immer noch gültige) Regel, dass die Verbrecher für ihren Taten büßen müssen. Und dass Gloria keinen guten Einfluss auf den Ich-Erzähler Fraiger hat, können wir uns ebenfalls denken und dennoch wollen wir wissen, wie Fraiger sich immer weiter in Schuld verstrickt. Das erzählt Malet auf knapp 140 Seiten, die sich wie die Vorlage für einen französischen Kriminalfilm aus den fünfziger Jahren lesen. Mit Simone Signoret oder Jeanne Moreau als verführerische Gloria. Jean Gabin ist natürlich auch dabei. Und vielleicht Jean-Paul Belmondo als Fraiger. Und so legt sich über die Geschichte, die etwas unglücklich zwischen Sozialdrama, verquerer Liebesgeschichte (aus heutiger Sicht) und knallhartem Gangsterdrama schwankt, die Patina der Vergangenheit.

Jérémie Guez‘ Debüt „Paris, die Nacht“ erinnert überhaupt nicht an die klassischen französischen Kriminalfilme. Immerhin spielt der ebenfalls angenehm kurze Roman, der ebenfalls „Das Leben ist zum Kotzen“ heißen könnte, im heutigen Paris. Bei einem ihrer abendlichen Streifzüge entdecken die beiden jungen kleinkriminellen Gelegenheitsdealer Abraham und Goran einen illegalen Spielsalon, in dem Verbrecher zocken. Sie halten es für eine geniale Idee, die Verbrecher auszurauben. Denn die können nicht zur Polizei gehen.
Dass das dann doch keine so grandiose Idee war, erfahen sie kurz darauf. Denn die Gangster wollen ihr Geld zurückhaben. Und im Gegensatz zur Polizei müssen sie sich nicht an das Gesetz halten.
Guez war, als sein Debüt in Frankreich 2010 erschien, 22 Jahre und so überzeugt „Paris, die Nacht“ vor allem als Talentprobe, die er besser nicht im Präsens geschrieben hätte. Allzu oft stockt der Lesefluss, weil ich immer wieder nach zwei, drei, vier Sätzen bemerkte, dass ich in Gedanken mal wieder in der vertrauten, aber hier falschen Zeitform war. Dass sein Debüt den bekannten Genrepfaden folgt, kann ihm nicht wirklich vorgeworfen werden. Immerhin schrieb er nicht, wie andere Debütanten, eine langweilige Selbstbespiegelung und die Geschichte seiner ersten großen Liebe. Frauen haben in „Paris, die Nacht“ noch nicht einmal eine Nebenrolle. Und er verzichtet auf die aus anderen Gangstergeschichten bekannten Klischees über die Banlieue, das Migrantenviertel Belleville und die chancenlosen Migrantenkinder. Hier ist jeder für sein Schicksal verantwortlich. Deshalb buddeln sich der Ich-Erzähler Abraham, sein bester Freund Goran und ihre Freunde, die alle wirklich nicht die Hellsten sind, ohne fremde Hilfe ihr Grab.

Léo Malet: Das Leben ist zum Kotzen
(übersetzt von Sarah Baumfelder und Thomas Mittelstädt)
(mit einem Nachwort von Tobias Gohlis)
Nautilus, 2015
160 Seiten
14,90 Euro

Deutsche Erstausgabe
Nautilus, 1987

Originalausgabe
La vie est dégueulasse
S. E. P.E./Editions du Scorpion, 1948

Jérémie Guez: Paris, die Nacht
(übersetzt von Cornelia Wend)
(mit einem Nachwort von Thekla Dannenberg)
Polar, 2015
152 Seiten
12,90 Euro

Originalausgabe
Paris la nuit
La Tengo, 2011

Hinweise
Wikipedia über Léo Malet (deutsch, französisch) und Jérémie Guez
Krimi-Couch über Léo Malet
Meine Besprechung von Jalil Lesperts „Yves Saint Laurent“ (Yves Saint Laurent, Frankreich 2013) (Guez ist einer der Drehbuchautoren)