Neu im Kino/Filmkritik: „Woodwalkers“ – Gestaltwandler-Fantasy für Kinder

Oktober 24, 2024

Carag Goldeneye (Emile Chérif) ist ein Gestaltwandler, der als Berglöwe auf die Welt kam und zum Menschenjungen wurde. Das sorgt im Alltag mit seiner ihn liebenden Adoptivfamilie und in der Schule immer wieder für Probleme. Das mitten in den malerischen Bergen in Wyoming liegende Internat Clearwater High könnte ihm helfen, mit seinen Fähigkeiten besser zurecht zu kommen. Denn die Schule ist eine von Andrew Milling (Oliver Masucci) gegründete Schule für außergewöhnlich Kinder.

Diese von Katja Brandis für ihre enorm erfolgreichen „Woodwalkers“-Romane erfundene Schule für Gestaltwandler erinnert natürlich an die aus den „X-Men“-Comics und Filmen bekannte, von Professor X gegründete noble Privatschule für Mutanten, also Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Nur dass in „Woodwalkers“ alles sehr kindgerecht ist. Die Bücher sind Tierfantasy-Romane für Kinder ab 10 Jahre. Der Film richtet sich ebenfalls an ungefähr zehnjährige Kinder.

Entsprechend einfach sind die Konflikte, die in dem Film behandelt werden. Es geht, selbstverständlich um das Erlernen der eigenen Fähigkeiten und wie man seine Gestalt wandelt, um das Einfinden in die neue Klasse und seine Beziehung zu Milling. Er ist, wie Carag, ein Puma-Gestaltwandler, und er erblickt in Carag einen besonderen Gestaltwandler, den er besonders fördern möchte. Es gibt Konflikte mit den in der Nähe lebenden Menschen, die immer wieder von Tieren angegriffen werden. Sie sind auch gerade damit beschäftigt, den Wald abzuholzen.

Damian John Harper übernahm die Regie. Bekannt wurde er als Regisseur sperriger, sozialkritischer Arthaus-Dramen. „Los Ángeles“ und „In the Middle of the River“ gehen auf das Konto des seit fast zwanzig Jahren in Deutschland lebenden US-Amerikaners. Jetzt drehte er einen Film, der seinem Sohn gefallen könnte. Denn dieser gehört zur Zielgruppe der Bücher und des Films.

In „Woodwalkers“ ist nichts mehr von dem Arthaus-Stil seiner vorherigen Filme zu spüren. „Woodwalkers“ ist ein ordentlich budgetierter Film, der ein großes Publikum ansprechen soll und gezielt für Kinder inszeniert wurde, die sich diesen Fantasy-Abenteuerfilm ohne ihre Eltern ansehen können, wollen und sollten. Also ohne die Eltern. Ob sie sich wirklich diesen Film ansehen sollen, ist eine andere Frage.

Für mich war alles zu einfach, zu vorhersehbar, zu gewollt (das gilt vor allem für das Finale), zu harmlos, zu unlogisch und ohne eine zweite oder dritte Ebene, die man, wie bei einem Pixar-Film, als Kind sehr wahrscheinlich nicht mitbekommt, aber die Erwachsenen erfreut.

Für die Fans von Harpers vorherigen Filmen ist „Woodwalkers“ deshalb ein vollkommen uninteressantester Film, bei dem höchsten bemerkenswert ist, wie brav und ohne erkennbare Ambitionen er die Fantasy-Konventionen ausfüllt.

Das gesagt, könnte „Woodwalkers“, die Verfilmung der ersten beiden „Woodwalkers“-Bestseller von Katja Brandis, sein erfolgreichster Film werden.

Für die Produzenten ist „Woodwalkers“ der Auftakt einer Trilogie und einer möglichen späteren TV-Serie. Die drei Kinofilme basieren, so der Plan, auf den ersten sechs Romanen.

Der zweite Film soll in einem Jahr, der dritte Film übernächstes Jahr in die Kinos kommen. David Sandreuter schrieb für die Fortsetzung wieder das Drehbuch. Sven Unterwaldt übernahm die Regie. Er inszenierte die beiden „7 Zwerge“-Filme (mit Otto), „Catweazle“ (wieder mit Otto) und den zweiten und dritten „Die Schule der magischen Tiere“-Film.

Woodwalkers (Deutschland 2024)

Regie: Damian John Harper

Drehbuch: David Sandreuter

LV: Katja Brandis: Woodwalkers – Carags Verwandlung, 2016; Gefährliche Freundschaft, 2017

mit Emile Chérif, Oliver Masucci, Martina Gedeck, Hannah Herzsprung, Lucas Gregorowicz, Lilli Falk, Johan von Ehrlich, Sophie Lelenta, Olivia Sinclair, Emil Bloch

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Woodwalkers“

Moviepilot über „Woodwalkers“

Wikipedia über „Woodwalkers“

Homepage von Katja Brandis

Homepage von Damian John Harper

Meine Besprechung von Damian John Harpers „Los Ángeles“ (Deutschland 2014)

Meine Besprechung von Damian John Harpers „In the Middle of the River“ (In the Middle of the River, Deutschland/USA 2018)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über Jonathan Glazers grandiose Martin-Amis-Verfilmung „The Zone of Interest“

Februar 28, 2024

Wenige Tage vor der Oscar-Verleihung, den er fünfmal gewinnen könnte, läuft Jonathan Glazers hochgelobtes Drama „The Zone of Interest“ endlich bei uns an. Glazer inszenierte vorher die sehr unterschiedlichen, in jedem Fall sehenswerten Filme „Sexy Beast“ (2000), „Birth“ (2004, sein schwächstes Werk) und „Under the Skin“ (2013) und etliche Musikvideos.

Seit seiner Premiere in Cannes, wo „The Zone of Interst“ den Großen Preis der Jury erhielt, wird sein neuester Film überall abgefeiert. Vor wenigen Tagen erhielt „The Zone of Interest“ den BAFTA als „Bester britischer Film“ und als „Bester nicht-englischsprachiger Film“. Das ging, weil in der britischen Produktion nur Deutsch gesprochen wird. Hauptdarstellerin Sandra Hüller erhielt vor wenigen Tagen einen weiteren Schauspielpreis. In diesem Fall war es am 23. Februar 2024 ein César als beste Schauspielerin für „Anatomie eines Falls“. Aber im Moment ist das wie eine Münze werfen und am Ende erhält Sandra Hüller den Preis für „Anatomie eines Falls“ oder für „The Zone of Interest“. Die Nominierungen und Preise werden begleitet von euphorischen Kritiken. „The Zone of Interest“ ist unbestritten und schon jetzt einer der besten Filme des Jahres und, falls ich im Dezember eine Jahresbestenliste erstelle, wird Glazers Film einen der vorderen Plätze der Top Ten belegen. Er ist auch eine grandiose Romanverfilmung, obwohl Glazer sich viele Freiheiten nimmt und oft gesagt wird, der Film sei nur inspiriert von Martin Amis‘ Roman „Interessengebiet“. Glazer, der auch das Drehbuch schrieb, veränderte die Geschichte und die Namen der Figuren. Aber er übernahm die kalt-analytische Sicht auf die Figuren, das Thema und den Handlungsort. Ironischwerweise hat sein Film, wie Amis‘ Roman, Probleme im dritten Akt und damit mit dem Ende. Amis und Glazer finden verschiedene Lösungen, um die Geschichte zu beenden. Für mich funktioniert keine hundertprozentig. Glazers Film gehört zu den Romanverfilmungen, die sich alle erdenklichen Freiheiten bei der Bearbeitung der Vorlage nehmen und ihr dabei treu bleiben.

In dem im ‚Interessengebiet Auschwitz‘ spielendem Roman erzählt Amis eine Liebesgeschichte, die aus einer Schmonzette stammen könnte. SS-Offizier Golo Thomsen verliebt sich in Hannah Doll, die Frau des Lagerkommandanten Paul Doll. Sie erwidert seine Avancen. Neben dieser Liebesgeschichte erzählt Amis von Dolls Arbeit als Behfelshaber über das Konzentrationslager, die er möglichst perfekt und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausführen möchte, und von Szmul, einem im KZ sitzendem Juden und Führer des Sonderkommandos, das bei der Vernichtung von Juden mithilft. Geschrieben hat Amis seinen aus diesen drei Plots und damit verbundenen Perspektiven bestehenden Roman in einem nüchternen Tonfall, der einem genau deshalb erschauern lässt. Er schildert den Alltag der Familie Doll als ob es neben ihrem Haus nicht das Vernichtungslager gäbe, das ihnen allen ein gutes Leben beschert. Denn der Krieg ist weit weg und die Arbeit im KZ verhindert eine Einberufung an die Front. Währenddessen schwarwenzelt Thomsen um seine Frau herum.

Interessengebiet“ ist einer von Martin Amis‘ besten Romanen.

In der Verfilmung konzentriert Jonathan Glazer sich auf die Familie Doll, die im Film, wie in der Realität, Höß heißt. Glazer verzichtet auf die Liebesgeschichte. Er blickt auch nicht hinter die Mauer, die, wie ein Schutzwall, das KZ von dem Haus der Familie Höß trennt. Von dem KZ sind nur einige Häuserdächer und Wachtürme zu sehen. Die aus dem KZ kommenden Geräusche sind für die Familie Höß Hintergrundgeräusche, die sie in ihrem Alltag in ihrem Haus und Garten nicht weiter wahrnehmen. Während Rudolf Höß (Christian Friedel) jeden Tag das Familienhaus verlässt und über den Hof zu seinem Arbeitsplatz geht, betritt seine Gattin Hedwig (Sandra Hüller) niemals das KZ. Sie führt den Haushalt, erzieht die fünf Kinder, bewirtet Gäste und bestellt den Garten. Neben dem Interessengebiet Auschwitz hat sie sich den Traum vom trauten Heim erfüllt. Dieses Paradies will sie unter keinen Umständen verlassen.

Glazer beschreibt das Leben der Familie Höß als Situationsbeschreibung. Er verzichtet auf einen Plot. Er verzichtet auf eine vertiefende Analyse der Figuren. Dafür hätte es nämlich Konflikte benötigt. Er zeigt sie nur in ihrem selbstgeschaffenem kleinen Paradies.

Aufgenommen hat er diese Situationsbeschreibung in der Nähe des Konzentrationslagers. Ursprünglich wollte er in dem KZ und in dem Haus, in dem die Familie Höß gelebt hat, filmen. Als das wegen des Denkmalschutzes und Veränderungen auf dem Gelände des KZ (so sind vor über achtzig Jahren gepflanzte Bäume heute größer als damals) nicht möglich war, drehte er in der Nähe in einem Nachbau des Hauses, das er mit teils versteckten, teils fest installierten Kameras ausstattete. Die Kameras nahmen den gesamten Raum auf. Die Schauspieler konnten sich während der Dreharbeiten frei im Set bewegen. Sie wussten allerdings auch nicht, wann sie aufgenommen wurden. Sie wurden ständig überwacht. Gleichzeitig verhinderte diese Anordnung der Kameras und der damit verbundenen Ästhetik, dass der Regisseur spontan eingreifen oder Szenen in einer normalen Abfolge von Einstellungen und Schnitten auflösen konnte. Mit diesen starren Einstellungen, in denen verschiedene Dinge geschehen, wirkt „The Zone of Interest“ wie ein Theaterstück, das man als Zuschauer aus dem Saal heraus erlebt. Deshalb sollte das Drama im Kino gesehen werden. Auf einem kleinen Bildschirm sieht man einfach zu wenig.

Die für einen Spielfilm ungewohnt detailreichen Bilder (bei Dokumentarfilmen ist das anders), die präzisen Bildkompositionen und die kluge Farbdramaturgie verstärken gekonnt das Unwohlsein, das man beim Ansehen des banalen Lebens in der Villa Höß, hat.

The Zone of Interest“ ist ein sehr sehenswerter, konzentrierter und in sich geschlossener Feelbad-Film, der die Banalität des Bösen zeigt und, mit chirurgischer Präzision, die Frage stellt, wie man sich selbst verhalten würde. Oder, anders gesagt: wie viel Unrecht und Terror ist man bereit für seinen eigenen kleinen Traum vom Glück zu ignorieren?

Nach dem Kinobesuch sollte man den Roman lesen, der faktenreich, auch die Dinge erzählt, die einige im Film vermissen.

The Zone of Interest (The Zone of Interest, Großbritannien/Polen/USA 2023)

Regie: Jonathan Glazer

Drehbuch: Jonathan Glazer

LV: Martin Amis: The Zone of Interest, 2014 (Interessengebiet)

mit Christian Friedel, Sandra Hüller, Johann Karthaus, Luis Noah Witte, Nele Ahrensmeier, Lilli Falk, Anastazja Drobniak, Cecylia Pękala, Julia Polaczek, Kalman Wilson, Imogen Kogge, Medusa Knop, Zuzanna Kobiela, Martyna Poznańska, Stephanie Petrowitz, Max Beck, Andrey Isaev

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Originalfassung ist die deutsche Fassung.

Die Vorlage

Martin Amis: Interessengebiet

(übersetzt von Werner Schmitz)

Kein & Aber, 2017

416 Seiten

16 Euro (Taschenbuch)

13,99 Euro (E-Book)

Deutsche Erstausgabe

Kein & Aber, 2015

Originalausgabe

The Zone of Interest

Jonathan Cape, London, 2014

Hinweise

Moviepilot über „The Zone of Interest“

Metacritic über „The Zone of Interest“

Rotten Tomatoes über „The Zone of Interest“

Wikipedia über „The Zone of Interest“ (deutsch, englisch) und die Vorlage

Perlentaucher über Martin Amis „Interessengebiet“