Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Über die Max-Frisch-Verfilmung „Stiller“

Oktober 30, 2025

Ich bin nicht Stiller!“

Die Prämisse liest sich spannend. Ein Mann sitzt in der Schweiz im Gefängnis. Er soll der vor sieben Jahren spurlos verschwundene Schweizer Anatol Stiller sein. Er sagt, er sei der US-Amerikaner James Larkin White. Lügt er? Oder irren sich die Behörden?

Ausgehend von dieser Frage schrieb Max Frisch seinen Roman „Stiller“. Er wurde 1954 veröffentlicht und ein Bestseller. Seitdem wurde immer wieder über eine Verfilmung gesprochen. Stefan Haupt, der den Roman jetzt verfilmte, unterhielt sich noch vor Frischs Tod am 4. April 1991 mit ihm darüber und erhielt die Rechte. Seine damaligen und andere Verfilmungspläne zerschlugen sich.

Als ein Grund wurde immer gesagt, dass „Stiller“ zu wenig und die falsche Handlung für eine Verfilmung habe.

Ich bin nicht Stiller!“

Jetzt verfilmte Haupt, nach einem von ihm und Alex Buresch geschriebenem Drehbuch, den Roman nah am Roman als gediegenen TV-Film. Die Besetzung ist prominent. Albrecht Schuch spielt White, Paula Beer die mit Stiller verheiratete Balletttänzerin Julika Stiller-Tschudy, Max Simonischek Staatsanwalt Rolf Rehberg, Maria Leuenberger seine fremdgehende Frau Sibylle Rehberg, Stefan Kurt Dr. Bohnenblust und Sven Schelker spielt in den Rückblenden Anatol Stiller.

Der Film beginnt, wie der Roman, mit Whites Verhaftung. Was ihm genau vorgeworfen wird – außer dass er einen falschen Pass haben soll und alkoholisiert gegenüber Polizisten ausfällig wurde – erfährt White nicht. Ihm werden mehrere unbeschriebene Hefte gegeben. Der amtliche Verteidiger rät ihm, die Wahrheit aufzuschreiben. White beginnt zu schreiben über seine aktuelle Situation, sein Leben als White, von ihm erfundene Geschichten und über das, was ihm über Stiller und das Umfeld des verschwundenen Bildhauers berichtet wird.

Das ist gediegen, immer auf TV-Niveau inszeniert. Kein Bild verlangt nach der großen Kinoleinwand. Kein Bild und kein Dialog verunsichert. Dabei betonen Haupt und Co-Drehbuchautor Buresch an ein, zwei Stellen den Krimiplot stärker als im Roman. So wird im Film deutlich angedeutet, Stiller könnte in eine politische Affäre verwickelt sein, möglicherweise sogar einen Mord begangen haben und sich seitdem auf der Flucht befinden.

Oder bin ich doch Stiller?

Haupts Film hält sich, mit einigen notwendigen Straffungen und Akzentverschiebungen, an die Struktur und Geschichte des Romans. Damit hat er auch die massiven Probleme des Romans. „Stiller“ erzählt, nach einem vielversprechendem ersten Satz eine aus Sicht eines Krimilesers durchgehend unlogische Geschichte. Im Film wird das noch deutlicher als im Roman. Im Film wird White mehrmals gesagt, er könne das Gefängnis sofort verlassen, wenn er sagt, er sei Stiller. Danach, vor der Tür der Haftanstalt, könne er sich wieder White nennen und seines Weges gehen. Warum er das Angebot nicht annimmt, bleibt unklar.

Stiller“ ist, wie gesagt kein Kriminalroman. Max Frisch hatte auch nie die Absicht, einen Kriminalroman zu schreiben. Er ist absolut desinteressiert an allem, was zu einem Kriminalroman gehört. So bleibt bis zum Ende unklar, was White/Stiller genau vorgeworfen wird. Also woher das übergroße Interesse der Schweiz an seiner Inhaftierung kommt. Auch White fragt nie energisch nach. Stattdessen richtet er sich gemütlich in der Untersuchungshaft ein und schreibt mehrere Hefte voll.

Die im ersten Absatz aufgeschriebene Behauptung des Ich-Erzählers, er sei unschuldig inhaftiert, ist nur der Köder, der dazu dient, die Leser zum Lesen zu animieren. Frisch ging es um das Porträt eines Mannes, der aus seinem Leben in ein anderes Leben, über das wir nichts erfahren, flüchtet. Und um ein längliches Ehedrama.

Der Roman wird letztendlich aus einer Perspektive erzählt. Nämlich der von White. Über Stillers Leben und dem Leben von Sibylle Rehberg, einer Geliebten Stillers, schreibt er immer nur, was ihm andere Menschen über diese Menschen erzählt haben. Oder was er sich ausdenkt. Auch wenn die verschiedenen von White aufgeschriebenen möglicherweise wahren und definitiv erfundenen Geschichten verschiedene Perspektiven vortäuschen, sind die von White im Gefängnis getätigten Aufzeichnungen bestenfalls eine Selbstbefragung. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven auf Stiller, sondern immer nur eine Sicht.

Auch wenn am Ende des Romans gesagt wird, dass White Stiller ist und er wieder seine wahre Identität annimmt, kann auch interpretiert werden, dass White und Stiller zwei verschiedene Personen sind. White nimmt dann die Identität von Stiller an, weil er so seinen Frieden finden kann. Diese Interpretation ist möglich, weil Frisch trotz der epischen Länge von über vierhundert Seiten kaum etwas über Stiller und noch weniger über White verrät. Fakten, die eine Identität bestätigen könnten, gibt es auch nicht. Entsprechend fremd bleiben Stiller und White dem Leser.

Als Briefroman – wie Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Bram Stokers „Dracula“ (um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen, die jetzt wieder verfilmt wurden) – wäre hier mehr möglich gewesen.

Und dann muss noch der Elefant im Raum angesprochen werden. „Stiller“ spielt 1952. Er verschwand Ende 1945/Anfang 1946. Seine Beziehung zu Julika und die Ereignisse die zu seinem Verschwinden geführt haben, ereigneten sich in den davor liegenden Jahren. Konkret: zu einem großen Teil ereigneten sie sich kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs. Auch wenn die Schweiz während des Kriegs neutral war, ist es schlechterdings unvorstellbar, dass das Kriegsgeschehen keinerlei Auswirkung auf das Leben in der Schweiz gehabt haben soll. Das macht „Stiller“ zu einem von der damaligen Realität der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs vollkommen abgekoppelten Fantasyroman.

Die eingestreuten Erzählungen von White sind schlechte Pulp-Kurzgeschichten, die mit der Hauptgeschichte nichts zu tun haben. Auch die in der zweiten Hälfte des Romans über Dutzende von Seiten geschilderten Eheprobleme und Erlebnisse von Sibylle Rehberg tragen nichts zur Klärung der Identität von White/Stiller bei.

Das erfolgt dann im Roman in einem über fünfzigseitigem Nachwort des Staatsanwalts. Im Film erfolgt die Enttarnung etwas anders.

Ich bin nicht Stiller!“

Stiller“ bebildert brav einen Literturklassiker, der mich niemals ansprach. Natürlich erkannte ich beim Lesen des Romans und Sehen des Films mühelos die Konstruktion und wie Myriaden von Studierenden die Geschichte in Abiturprüfungen und Seminararbeiten sie interpretieren und die zahlreichen Anspielungen fliegenbeinzählerisch aufschreiben können. Aber vieles an der Geschichte und den Figuren ist einfach zu unglaubwürdig und zu konstruiert um zu überzeugen.

Nachbemerkung, die wahrscheinlich nur wenige verstehen: Nicht auszudenken, was Donald Westlake aus der Idee gemacht hätte.

Stiller (Deutschland/Schweiz 2025)

Regie: Stefan Haupt

Drehbuch: Alex Buresch, Stefan Haupt

LV: Max Frisch: Stiller, 1954

mit Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek, Marie Leuenberger, Stefan Kurt, Sven Schelker, Martin Vischer, Marius Ahrendt

Länge: 99 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage (aktuell im Filmcover)

Max Frisch: Stiller

Suhrkamp, 2025

448 Seiten

12 Euro

Erstausgabe

Suhrkamp, 1954

Seitdem fester Bestandteil der Suhrkamp-Bibliothek

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Stiller“

Moviepilot über „Stiller“

Rotten Tomatoes über „Stiller“

Wikipedia über „Stiller“ (Roman: deutsch, englisch; Film) und Max Frisch (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Stefan Haupts „Finsteres Glück“ (Schweiz 2016)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Thomas Arslans Noir-Gangsterfilm „Verbrannte Erde“

Juli 18, 2024

Ob man Thomas Arslans neuen Film „Verbrannte Erde“ mag, hängt davon ab, ob man Profigangster wie Richard Starks Parker, der Archetyp des kalten Profigangsters, Garry Dishers Wyatt und Wallace Strobys Crissa Stone mag. Und, ja, das sind drei absolute Lektüreempfehlungen für hier schon exzessiv abgefeierte Serien, die auch in deutschen Übersetzungen gut erhältlich sind. Arslans zweiter Film um den Profiverbrecher Trojan steht knietief in dieser Tradition, filmisch verfeinert mit klassischen französischen Kriminalfilmen, vor allem natürlich denen von Jean-Pierre Melville.

Trojan, wieder adäquat verkörptert von Mišel Matičević, ist die sehr sehr gute filmische Ausgabe dieses Verbrechertyps, den es so wahrscheinlich nur in der Literatur und im Film gibt. Trojan ist ein am liebsten allein arbeitender Profi. Persönliche Gefühle haben bei seiner Arbeit nichts verloren. Gewalt vermeidet er. Probleme gibt es, wenn Amateure mitmachen oder andere Verbrecher ihn reinlegen wollen. Dann beginnt das große Sterben. Nicht weil Trojan zuerst schießt, sondern weil die anderen mit dem Töten beginnen oder eine Situation durch Dummheit, Inkompetenz und Gier so verschlimmern, dass Trojan sich nur mit Gewalt daraus befreien kann. Das war so in „Im Schatten“ und ist jetzt so in „Verbrannte Erde“.

Vor vierzehn Jahren hatte Trojan in Thomas Arslans hochgelobtem Gangsterfilm „Im Schatten“ seinen ersten Auftritt. Nach den Ereignissen verschwand er aus Berlin und verdiente an anderen Orten sein Geld mit Diebstählen. Jetzt hat er finanzielle Probleme. Er kehrt – wie Thomas Arslan, der seit „Im Schatten“ nicht mehr in Berlin drehte – zurück in ein verändertes Berlin. Er versucht alte Kontakte zu reaktivieren. Schließlich vermittelt Rebecca ihm einen vielversprechenden Job. Zusammen mit einem kleinen Team soll er aus dem Museum Dahlem das Gemälde „Frau vor der untergehenden Sonne“ von Caspar David Friedrich klauen. Der präzise geplante Diebstahl gelingt mitten in der Nacht ohne große Probleme, Verletzte oder Tote.

Danach beginnen die Probleme. Der anonyme Auftraggeber will sie nicht bezahlen, sondern bestehlen und ermorden. Dafür hat er einen skrupellosen Killer engagiert.

In „Verbrannte Erde“ bedient Arslan die Anforderungen des Gangsterfilms und der Berliner Schule, die sich, wieder einmal, überraschend gut ergänzen. Kennzeichnend für die Berliner Schule sind die Aufnahmen von Nicht-Orten. Es sind städtische Orte ohne eine Geschichte oder besondere, wiedererkennbare Merkmale, die dem Ort irgendeine Individualität verleihen würden. Tiefgaragen, Brachen, anonyme Wohnsiedlungen, die so in jeder deutschen Mittel- und Großstadt stehen, sind solche Nicht-Orte. Getroffen wird sich auch in billigen Hotels und Schnellimbissen. Trojan und die anderen Gangster sehen maximal unauffällig aus. Sie führen ein Leben in der Anonymität. Sie hinterlassen keine Spuren. Niemand soll sich an sie erinnern.

Es ist eine rein utilitaristische Welt. Und so faszinierend ein Besuch in dieser Welt ist, so ungern möchte man in ihr Leben. Das ist auch der Grund, weshalb Richard Starks Parker einerseits so wichtig für das Genre ist, so hoch angesehen ist und so wenige literarische Nachfolger gefunden hat. Stark (ein Pseudonym des ungemein produktiven Donald E. Westlake) hat eine Figur erfunden und gleichzeitig perfektioniert und an ihre Grenzen getrieben. Andere Autoren, wozu auch Arslan gehört, haben nur noch die Wahl, diese Formel auszufüllen oder zu verwässern. Dann hat der Profi eine Vergangenheit und er ist in ein Netz von familiären und anderen Beziehungen eingebunden. Das tat Wallace Stroby mit seinen vier Crissa-Stone-Romanen. Stone ist verheiratet (ihr Mann sitzt im Gefängnis) und Mutter (ihre Tochter ist bei ihrer Cousine). Solche Bindungen machen sie menschlicher, angreifbarer und für ein Mainstream-Publikum goutierbarer.

In „Verbrannte Erde“ ist Trojan, trotz Bekanntschaften, noch der eiskalte Einzelgänger, der innerhalb von Sekunden spurlos verschwinden kann. Wenn er und seine Kumpanen nicht den versprochenen Lohn für ihnen Diebstahl haben möchten. In Berlin, meistens nach Sonnenuntergang, entwickelt sich mit wenigen, sehr reduzierten Dialogen ein elegant gefilmtes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem unklar ist, wer sich mit wem verbündet und wer überlebt. Und, in diesem Fall, wie Trojan überlebt.

Denn Thomas Arslan plant bereits einen weiteren Gangsterthriller mit Trojan. Deshalb wird „Verbrannte Erde“ als zweiter Film einer Trilogie beworben. Arslan sieht das zum Glück etwas anders. Für ihn sind die Filme keine klassische Trilogie, sondern eine lose Reihe. Im Presseheft sagt er dazu: „Das sind in sich abgeschlossene Filme, die durch die Hauptfigur und seine Tätigkeit verbunden sind.“

Ich freue mich schon darauf und hoffe, dass der dritte Trojan-Film mindestens genausogut wie „Im Schatten“ und „Verbrannte Erde“ wird.

Verbrannte Erde (Deutschland 2024)

Regie: Thomas Arslan

Drehbuch: Thomas Arslan

mit Mišel Matičević, Marie Leuenberger, Alexander Fehling, Tim Seyfi, Marie-Lou Sellem, Katrin Röver, Bilge Bingül

Länge: 101 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Verbrannte Erde“

Moviepilot über „Verbrannte Erde“

Rotten Tomatoes über „Verbrannte Erde“ (aktuell noch keine Bewertung)

Wikipedia über „Verbrannte Erde“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Verbrannte Erde“

Meine Besprechung von Thomas Arslans „Helle Nächte“ (Deutschland 2017)


TV-Tipp für den 17. Januar: Bis wir tot sind oder frei

Januar 16, 2024

Arte, 22.10

Bis wir tot sind oder frei (Schweiz/Deutschland 2020)

Regie: Oliver Rihs

Drehbuch: Dave Tucker, Oliver Rihs, Ivan Madeo, Norbert Maass, Oliver Keidel

TV-Premiere. In den achtziger Jahren ist der Unternehmersohn Walter Stürm in der Schweiz bekannt als Berufsverbrecher und Ausbrecherkönig. Mit seiner neuen Anwältin, Barbara Hug vom Zürcher Anwaltskollektiv, wird er auch zu einer Symbolfigur und Held der linken Szene.

Wie es dazu kam, schildert Oliver Rihs, mit viel Zeitkolorit, in seinem gelungenen, auf wahren Ereignissen basierendem Drama. Hoffentlich zeigt Arte nicht die hochdeutsche Synchronisation sondern die Originalfassung.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Bibiana Beglau, Anatole Taubman, Pascal Ulli, Philippe Graber

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Bis wir tot sind oder frei“

Moviepilot über „Bis wir tot sind oder frei“

Rotten Tomatoes über „Bis wir tot sind oder frei“

Wikipedia über „Bis wir tot sind oder frei“

Meine Besprechung von Oliver Rihs‘ „Bis wir tot sind oder frei“ (Schweiz/Deutschland 2020)


TV-Tipp für den 10. März: Die göttliche Ordnung

März 9, 2023

3sat, 20.15

Die göttliche Ordnung (Schweiz, 2017)

Regie: Petra Volpe

Drehbuch: Petra Volpe

Schweiz, 1971: in einem Bergdorf im Appenzell ist die Zeit stehen geblieben. Der Mann ist der unumstrittene Herr im Haus und Frauen dürfen nicht wählen. Als die junge Nora Ruckstuhl wieder arbeiten möchte, erfährt sie, dass sie dafür die Erlaubnis ihres Mannes benötigt. Sie empfindet diese Regel als ungerecht. Als ihr Mann für einige Tage auf einer Militärübung ist, hat sie die Zeit sich immer mehr zu politisieren und in den Kampf um das Frauenwahlrecht einzumischen.

Wundervolle, nah an den historischen Fakten entlang erzählte, sehr aufbauende Komödie über Frauen, die beginnen für ihre Rechte zu kämpfen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Marie Leuenberger, Max Simonischek, Rachel Braunschweig, Sibylle Brunner, Marta Zoffoli, Bettina Stucky, Peter Freiburghaus, Therese Affolter, Ella Rumpf, Nicholas Ofczarek, Sofia Helin

Hinweise

Schweizer Homepage zum Film

Moviepilot über „Die göttliche Ordnung“

Wikipedia über „Die göttliche Ordnung“

Meine Besprechung von Petra Volpes „Die göttliche Ordnung“ (Schweiz 2017)


Neu im Kino/Filmkritik: „A Hero“, „Abteil Nr. 6“, „Das Ereignis“, „Bis wir tot sind oder frei“ – vier ausgezeichnete Filme für den Arthouse-Fan

April 4, 2022

Neben der neuen Marvel-Origin-Story „Morbius“(ein Arzt experimentiert sich zum Vampir) starten diese Woche auch einige Filme für den Arthouse-Fan. Garantiert ohne Vampire und CGI. Dafür zweimal auf Tatsachen basierend, zweimal könnte es so passiert sein, immer gab es auf Festivals Preise für die Filme und jeder dieser Filme ist, bei allen Unterschieden, sehenswert.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ ist der neue Film von Asghar Farhadi. In Cannes erhielt das absolut sehenswerte Drama 2021 den Großen Preis. Weil der titelgebende Rahim Soltani seine Schulden nicht bezahlen kann, verbüßt er eine Haftstrafe. Ab und zu darf er für einen Freigang die Anstalt verlassen. Er versucht seine Schulden irgendwie zu tilgen.

Als seine Freundin an einer Bushaltestelle zufällig eine Tasche mit wertvollen Münzen findet, könnte er damit seine Schulden auf einen Schlag bezahlen. Aber dann, nachdem er feststellt, dass die Münzen dafür nicht ausreichen, packt ihn das Gewissen. Sagt er jedenfalls. Er sucht in Shiraz die Besitzerin. Als sie sich meldet, geben er und seine Freundin ihr die Münzen zurück. Damit könnte die Episode zu Ende sein.

Dummerweise erfahren die Haftanstaltsleiter davon. Sie sind begeistert von dieser Heldentat, die einer ihrer Schützlinge begangen hat. Unverzüglich informieren sie, auch weil sie so ihr Gefängnis in einem positiven Licht präsentieren können, die Öffentlichkeit über Rahims edle Tat. Die Presse ist ebenfalls begeistert; bis sie die Geschichte genauer überprüft und auf immer mehr Widersprüche stößt. Auch Rahims Gläubiger erzählt seine Version und warum er Rahim die Schulden nicht erlassen will.

Nachdem Asghar Farhadi seinen vorherigen, etwas enttäuschenden Film „Offenes Geheimnis“ in Spanien drehte, kehrt er mit „A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ wieder in seine Heimat, den Iran, und zu alter Stärke zurück. Rahims Geschichte ist universell und gleichzeitig sehr konkret in der iranischen Wirklichkeit verortet. Es wurde vor Ort gedreht, es gibt einen Einblick in den iranischen Alltag und die Strukturen der Gesellschaft. Gleichzeitig könnte Rahims Geschichte prinzipiell überall spielen. Denn überall kann ein Mann sich mit einer schlechten Geschäftsidee verschulden, überall kann er zufällig etwas wertvolles finden und überall steht er vor der Frage, wie er mit dem Fund umgehen soll. Farhadi gibt allerdings keine einfachen Antworten auf Rahims Dilemma. Er zeigt nur, was geschieht und er präsentiert verschiedene, sich teils widersprechende Perspektiven und Interpretationen der Ereignisse. Es sind Interpretationen, die sich verändern können. So ist der Anstaltsleiter zunächst begeistert von Rahims edler Tat. Er fordert ihn sogar auf, sie etwas auszuschmücken. Als dann die ersten Zweifel an Rahims Geschichte aufkommen, lässt er ihn wie eine heiße Kartoffel fallen. Durch diese interpretationsoffene Erzählweise ist bis zum Schluss unklar, ob der um seine Ehre kämpfende Rahim wirklich so naiv und treudoof ist, wie er sich gibt, oder ob er nicht immer mindestens einen Hintergedanken hatte und der Lauf der Ereignisse sich anders als von ihm geplant entwickelte. Weshalb er wieder etwas tun muss. Dabei scheint es für ihn, auch wenn Menschen ihm helfen wollen, nur immer schlimmer zu werden.

Farhadi erzählt diese Geschichte eines Mannes, der um seine Ehre kämpft, mit nie nachlassender Spannung in einem ruhigen Erzähltempo.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani (Ghahreman, Iran/Frankreich 2021)

Regie: Asghar Farhadi

Drehbuch: Asghar Farhadi

mit Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadrorafaii, Sahar Goldoust, Maryam Shahdaie, Ali Reza Jahandideh

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Französische Homepage zum Film

AlloCiné über „A Hero“

Moviepilot über „A Hero“

Metacritic über „A Hero“

Rotten Tomatoes über „A Hero“

Wikipedia über „A Hero“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „Le Passé – Das Vergangene“ (Le Passé, Frankreich 2013)

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „The Salesman“ (Fourshande, Iran/Frankreich 2016) und der DVD

Meine Besprechung von Asghar Farhadis „Offenes Geheimnis“ (Todos lo saben, Spanien/Frankreich/Italien 2018)

Auch Juho Kuosmanens neuer Film „Abteil Nr. 6“ lief 2021 in Cannes und erhielt den „Grand Prix“.

Er erzählt die Geschichte von Laura, einer finnischen Archäologiestudentin, die im Winter von Moskau nach Murmansk aufbricht. Dort will sie die berühmten uralten Felsmalereien der Stadt besichtigen. Den tagelangen Weg dorthin legt sie in einem Zug zurück. Ihr Abteil muss sie mit Ljoha teilen. Der Jung-Macho ist das genaue Gegenteil der Studentin. Er ist ein Bergarbeiter, trinkfest, vulgär, ungebildet und scheinbar absolut unsensibel. Immerhin ist er in der ersten gemeinsamen Nacht zu betrunken, um sich ihr zu nähern. Lauras Versuch, in ein anderes Abteil zu wechseln, schweitert. Deshalb muss sie notgedrungen mit Ljoha arrangieren.

Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) konzentriert sich in seinem Roadmovie darauf, wie Laura und Ljoha im titelgebenden „Abteil Nr. 6“ eine für die Reise andauernde Freundschaft entwickeln.

Laura, die junge, lesbische, unglücklich verliebte, sich im Moskauer Intellektuellenmilieu bewegende Studentin, entdeckt nämlich ungeahnte Facetten in Ljoha. Er versucht, auf seine jugendlich-unbeholfene Art, sie zu beeindrucken. Er will ihr, soweit das auf einer Zugfahrt mit wenigen Stopps möglich ist, sein Land und die russische Seele zu zeigen. Dazu gehört auch ein Besuch bei seiner Pflegemutter. Und er wird zu ihrem Beschützer und Reiseführer.

Im Presseheft sagt Kuosmanen, dass er, mit Einverständnis von Rosa Liksom, so viel an ihrem Roman veränderte, dass der Film jetzt nur noch von ihm inspiriert sei: „Wir haben so viel geändert, dass die eigentliche Frage ist, was nicht geändert wurde.“

Das erklärt vielleicht, warum es keine Filmausgabe von Liksoms Roman gibt.

Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6, Finnland/Deutschland/Russland/Estland 2021)

Regie: Juho Kuosmanen

Drehbuch: Andris Feldmanis, Juho Kuosmanen, Livia Ulman, Lyubov Mulmenko (russische Dialoge)

LV: Rosa Liksom: Hytti nro 6, 2011 (Abteil Nr. 6)

mit Seidi Haaria, Yuriy Borisov, Dinara Drukarova, Julia Aug, Lidia Kostina

Länge: 112 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Abteil Nr. 6“

Moviepilot über „Abteil Nr. 6“

Metacritic über „Abteil Nr. 6“

Rotten Tomatoes über „Abteil Nr. 6“

Wikipedia über „Abteil Nr. 6“ (deutsch, englisch)

Audrey Diwans „Das Ereignis“ erhielt 2021 in Venedig den Goldenen Löwen als Bester Film. Wie Kuosmanen erzählt sie die Geschichte aus der Perspektive einer jungen Frau. Es handelt sich um die Geschichte von Annie Ernaux, die 1963 in Frankreich schwanger wurde. 2000 erschien ihr Buch über ihre Schwangerschaft. Damals studierte sie Literatur an der Universät und sie stand kurz vor den Abschlussprüfungen. Ein Kind hätte das Ende ihrer beruflichen Ambitionen bedeutet. Eine Abtreibung könnte ihren Tod bedeuten oder, wenn sie erwischt wird, eine Haftstrafe. Keine diese Möglichkeiten ist besonders prickelnd für die unverheiratete, in keiner festen Beziehung lebende Studentin.

Diwan erzählt diese in wenigen Wochen spielende Geschichte immer nah bei der an Anamaria Vartolomei gespielten Anne. Die Handkamera verfolgt sie und nimmt ihren Blick ein, wenn sie verschiedene Ärzte besucht, erfolglos verschiedene Abtreibungsmethoden ausprobiert und die Schwangerschaft vor ihren Eltern und Freundinnen verheimlichen will. Das wird natürlich zunehmend schwieriger.

Einerseits ist „Das Ereignis“ ein historischer Film. Er spielt 1963 als Abtreibung in Frankreich verboten war. 1975 wurde sie legalisiert. Seitdem gab es weitere Gesetzesänderungen, die die Rechte der betroffenen Frauen stärkten. Andererseits ist in anderen Ländern die Abtreibung verboten und auch in Ländern, in denen sie erlaubt ist, wird heftig über sie gestritten. So wurden in den USA in den vergangenen Monaten in einigen Staaten Gesetze formuliert, die eine Abtreibung verhindern sollen. Auch bei einer Vergewaltigung oder Inzest. Diese Aktualität des Themas ist in Diwans Drama jederzeit spürbar.

Gleichzeitig gelingt es ihr, nachvollziehbar zu machen, warum eine Frau abtreiben möchte und welchem Druck sie ausgesetzt ist. Von der Gesellschaft, ihren Eltern, Freunden und den Ärzten, die damals alle ausnahmslos Männer waren.

Das Ereignis (L’événement, Frankreich 2021)

Regie: Audrey Diwan

Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano, Anne Berest

LV: Annie Ernaux: L’événement, 2000 (Das Ereignis)

mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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AlloCiné über „Das Ereignis“

Moviepilot über „Das Ereignis“

Metacritic über „Das Ereignis“

Rotten Tomatoes über „Das Ereignis“

Wikipedia über „Das Ereignis“ (deutsch, englisch, französisch)

Bis wir tot sind oder frei“ lief nicht auf diesen großen Festivals. Das auf wahren Ereignissen basierende Drama hatte seine Premiere 2020 beim Filmfest Hamburg. Beim Black Nights Film Festival Talinn 2020 wurde die Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Beim Avanca Film Festival 2021 wurde das Drama unter anderem als bester Film ausgezeichnet.

In den deutschsprachigen Regionen der Schweiz lief Oliver Rihs‘ Film bereits im Januar 2021 an. Und das ist nachvollziehbar. Denn trotz der auch bei uns bekannten Schauspieler, wie Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Anatole Taubman und Bibiana Beglau in den Hauptrollen, ist es primär ein schweizer Film der eine schweizer Geschichte erzählt. Nämlich die von dem Ausbrecherkönig Walter Stürm und wie er in den Achtzigern zu einer Symbolfigur und Held der linken Szene wurde. Einige wichtige Rolle spielte dabei Barbara Hug.

Sie gehört zu dem 1975 gegründeten Zürcher Anwaltskollektiv. Diese Anwälte verteidigen, teils zu symbolischen Honoraren, Linke, Mieter*innen, Arbeitnehmer*innen und, im Allgemeinen und im Besonderen, von der staatlichen Repressionsmaschinerie betroffene Menschen. Das können mehr oder weniger friedliche Demo-Teilnehmer*innen, Autonome oder auch Menschen, die wegen terroristischer Taten angeklagt sind, sein. Das Kollektiv versteht sich als Teil einer Bewegung für eine Schweiz, die weniger verknöchert und rückständig ist. Und das war die Schweiz damals. Sie liegen im ständigen Streit mit dem sie bei der Arbeit behindernden Staat. Die seit ihrer Kindheit gehbehinderte Hug ist eine taffe Anwältin, die wegen ihres Verstandes und ihrer ebenso klaren, wie kämpferischen Argumentation vor Gericht hohes Ansehen genießt.

Der 1942 geborene Unternehmersohn Walter Stürm ist zu diesem Zeitpunkt – der Film beginnt 1980 – bereits ein bekannter Berufsverbrecher mit zahlreichen Gefängnisaufenthalten und -ausbrüchen. Ihm geht es um Geld und Frauen. Politik interessiert ihn nicht. Aber sein unbändiger Freiheitsdrang und sein damit verbundener Kampf gegen das System sind anschlussfähig bei den Linken. Und so wird der unpolitische, aber charismatische Stürm, mit Hilfe seiner Anwältin Barbara Hug, zu einer Symbolfigur der Linken, irgendwo zwischen Robin Hood und Mini-Che-Guevara. Hug stellte ihn auch Mitgliedern der zweiten Generation der RAF vor.

Rihs‘ Drama konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Hug und Stürm – und den historischen Hintergrund, der inzwischen immer mehr in Vergessenheit gerät. Denn auch die Schweiz hatte ihre 68er-Bewegung.

Bis wir tot sind oder frei“ ist eine schöne Zeitreise in die achtziger Jahre, die in der schweizerdeutschen Originalversion sicher rundum überzeugte. Für die hiesige Auswertung sprachen die Schauspieler eine hochdeutsche Synchronisation ein. Diese aseptische Tonspur zerstört viel von der O-Ton-Atmosphäre und verleiht dem Drama das Flair eines bemühten Fernsehspiels.

Gerade weil ich ein wenig Schweizerdeutsch verstehe, hätte ich viel lieber die Orignalversion, gerne auch mit Untertitel, gesehen.

Bis wir tot sind oder frei (Schweiz/Deutschland 2020)

Regie: Oliver Rihs

Drehbuch: Dave Tucker, Oliver Rihs, Ivan Madeo, Norbert Maass, Oliver Keidel

mit Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Bibiana Beglau, Anatole Taubman, Pascal Ulli, Philippe Graber

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

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Wikipedia über „Bis wir tot sind oder frei“


TV-Tipp für den 11. März: Die göttliche Ordnung

März 10, 2020

Arte, 20.15

Die göttliche Ordnung (Schweiz, 2017)

Regie: Petra Volpe

Drehbuch: Petra Volpe

Schweiz, 1971: in einem Bergdorf im Appenzell ist die Zeit stehen geblieben. Der Mann ist der unumstrittene Herr im Haus und Frauen dürfen nicht wählen. Als die junge Nora Ruckstuhl wieder arbeiten möchte, erfährt sie, dass sie dafür die Erlaubnis ihres Mannes benötigt. Sie empfindet diese Regel als ungerecht. Als ihr Mann für einige Tage auf einer Militärübung ist, hat sie die Zeit sich immer mehr zu politisieren und in den Kampf um das Frauenwahlrecht einzumischen.

TV-Premiere. Wundervolle, nah an den historischen Fakten entlang erzählte, sehr aufbauende Komödie über Frauen, die beginnen für ihre Rechte zu kämpfen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Marie Leuenberger, Max Simonischek, Rachel Braunschweig, Sibylle Brunner, Marta Zoffoli, Bettina Stucky, Peter Freiburghaus, Therese Affolter, Ella Rumpf, Nicholas Ofczarek, Sofia Helin

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Wikipedia über „Die göttliche Ordnung“

Meine Besprechung von Petra Volpes „Die göttliche Ordnung“ (Schweiz 2017)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Thomas Arslans „Helle Nächte“

August 11, 2017

Michael hält es für eine gute Idee, einige Tage mit seinem Sohn Luis zu verbringen. Der ist vierzehn Jahre, lebt bei seiner Mutter und sieht seinen Vater Michael nie. Außer jetzt, als Luis seinen Vater notgedrungen, unwillig und unlustig zur Beerdigung seines Großvaters nach Norwegen begleitet und er möglichst schnell wieder zurück in sein normales Leben will.

Aber Michael will – wahrscheinlich geschockt durch den Tod seines Vaters, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt hatte – eine Beziehung zu seinem Sohn aufbauen. Also nimmt er ihn, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, mit auf eine von ihm minutiös durchgeplante Reise durch Norwegen, die in einem Wanderurlaub enden soll.

Diese Reise und die damit verbundene Annäherung zwischen Vater und Sohn erzählt Thomas Arslan in seinem neuen Film „Helle Nächte“ konsequent undramatisch. Immer dann, wenn es einen Konflikt geben könnte, vermeidet Thomas Arslan ihn. Wenn sie, zum Beispiel, eine Nacht am Strand verbringen und wenige Meter weiter eine Gruppe Jugendlicher kommt, die die Nacht durchfeiert, passiert nichts. Die Jugendlichen feiern. Michael und Luis ziehen sich in ihr Zelt zurück, schlafen bis zum Morgengrauen und fahren weiter. Wenn Luis mal wieder eine seiner kleinen Fluchten unternimmt, ist er schnell wieder bei seinem Vater. Auch weil es keine Flucht, sondern ein Spaziergang ohne Abmeldung war. Und die Begegnungen, die sie mit anderen Menschen haben, enden folgenlos.

Je nach Stimmung ist „Helle Nächte“ daher ein sehr subtiler, tiefer und präziser Einblick in eine Vater-Sohn-Beziehung, die vor allem an einer überwältigenden Kommunikationsunfähigkeit des Vaters (von einem Teenager kann man das nicht erwarten) scheitert und, wie ein gewöhnlicher Urlaub, im Nichts endet, weil man am Ende des Urlaubs der gleiche Mensch ist, der man am Anfang war und ein Urlaub nicht auf ein großes, filmreifes Finale hin geplant wird. Oder „Helle Nächte“ ist ein einziger, mühsam mit langen Szenen, in denen nichts passiert (außer dass das Auto sich durch die Landschaft bewegt) auf knapp neunzig Minuten gestreckter, prätentiöser, nichtssagender, auf der Stelle stehender Quark.

Im Kino, vor allem nachdem ich endgültig begriffen hatte, dass nichts Dramatisches geschehen wird, dass es keine kathartischen Momente und auch keine Katharsis geben wird, tendierte ich, tödlich gelangweilt, zu dieser Ansicht.

Jetzt, beim Schreiben meiner Kritik, tendiere ich etwas zur ersten Ansicht. „Helle Nächte“ ist ein Film über Kommunikationsunfähigkeit und Arslan zeigt das mit beeindruckender Konsequenz in jeder Szene und in jeder Sekunde. Schon in den ersten Minuten beobachtet Arslan Michael minutenlang bei der Arbeit auf einer Baustelle. Er ist allein. Er redet mit niemandem. Wenn Michael später in einer der zahlreichen ungeschnittenen Szenen des Films mit seiner Schwester telefoniert und mit ihr über den Tod ihres Vaters redet, sehen wir nur ihn. Dieser Inszenierungsstil zieht sich durch den gesamten Film bis, quasi als Höhepunkt, zu einer vierminütigen Autofahrt durch den Nebel, gedreht aus der Perspektive des Fahrers mit starrem Blick auf die kaum befahrbare Straße.

In der damit verbundenen künstlerischen Geschlossenheit ist das durchaus beeindruckend, aber auch nicht besonders spannend. Schließlich begreift man die Botschaft des Films recht schnell und ab diesem Moment zeigt Arslan, ohne große Variationen, immer wieder das Gleiche. Auch wenn es gegen Ende des Films einen kurzen Moment gibt, in dem sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn ändert und der Vater ein anderer, ein offener Mensch werden könnte. Letztendlich gibt es in dem Film keinen Ausweg aus dieser Isolation und Sprechunfähigkeit.

Zum Abschluss noch einige Fakten: Thomas Arslan drehte zuletzt den Western „Gold“ und den Gangsterfilm „Im Schatten“. Tristan Göbel, der Luis spielt, kennen wir als Maik aus Fatih Akins Wolfgang-Herrndorf-Verfilmung „Tschick“. Und Georg Friedrich, der Maiks Vater Michael spielt, erhielt auf der Berlinale den Silbernen Bär als Bester Darsteller.

Helle Nächte (Deutschland 2017)

Regie: Thomas Arslan

Drehbuch: Thomas Arslan

mit Georg Friedrich, Tristan Göbel, Marie Leuenberger, Hanna Karlberg, Aggie Peterson, Frank Arne Olsen, Helle Goldman

Länge: 86 Minuten

FSK: ohne Altersbeschränkung

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Helle Nächte“

Moviepilot über „Helle Nächte“

Rotten Tomatoes über „Helle Nächte“

Wikipedia über „Helle Nächte“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Helle Nächte“


Neu im Kino/Filmkritik: Was ist „Die göttliche Ordnung“? Und sollte sie bestehen bleiben?

August 4, 2017

1971: Die Jugend probiert den Aufstand. Freie Liebe. Hippies. Woodstock. Janis Joplin. Jim Morrison. Jimi Hendrix. Grenzen werden niedergerissen. Traditionen und Konventionen missachtet. Schwule gehen auf die Straße. Schwarze träumen von der Revolution. Frauen zeigen ihre Brüste. Auch in Europa ist etwas von dem revolutionären Zeitgeist zu spüren. In Deutschland bombt die RAF sich durch die Bundesrepublik.

Und in der Schweiz gibt es eine eidgenössische Abstimmung zum Frauenwahlrecht.

An dieser Volksabstimmung sind selbstverständlich nur Männer stimmberechtigt. Trotzdem gab es eine Mehrheit für das Frauenstimmrecht. Auf kantonaler Ebene wurde es Frauen dagegen teilweise noch lange verwehrt. Als letzter Kanton führt 1990 Appenzell Innerrhoden, gezwungen durch einen Entscheid des Bundesgerichts, das Stimmrecht für Frauen auf kantonaler Ebene ein.

Im Appenzell, das optisch eine richtige Postkarten-Schweiz ist, drehte Petra Volpe ihren neuesten Film „Die göttliche Ordnung“, in dem sie vom Kampf um die Abstimmung für das Frauenwahlrecht 1971 erzählt. In dem im Film nicht genannten Ort ist damals die Welt noch in Ordnung. Die Straßen sind sauber. Die Männer arbeiten. Die Frauen machen den Haushalt und kümmern sich um die Kinder. Sonntags wird in die Kirche gegangen und der Pfarrer predigt über die göttliche Ordnung. Das Frauenwahlrecht und die Ideen von Gleichberechtigung sind Verstöße dagegen. Einige Frauen, wie Dr. Charlotte Wipf, Firmenchefin und Vorsteherin des „Aktionskomitees gegen die Verpolitisierung der Frau“, sind gegen ein Frauenwahlrecht.

Nora Ruckstuhl macht sich darüber keine Gedanken. Aber dass sie ihren Mann Hans darum bitten muss, wieder in ihrem Ausbildungsberuf arbeiten zu dürfen, empfindet sie als ungerecht.

Als Hans für einige Tage zu einer Militärübung muss, kann sie sich ungestört politisieren. Sie nimmt immer mehr Ungerechtigkeiten des unumstritten herrschenden Patriarchats wahr. Der Mann ihrer Schwägerin kann seine Tochter wegsperren lassen, weil sie ihm zu aufständig ist. Die ehemalige Bären-Wirtin Vroni ist von ihrer Tochter finanziell abhängig, weil ihr Mann das gesamte Geld verschleuderte. Der gesamte Haushalt und die Kindererziehung wird von den Frauen gemacht, aber das ist ja keine Arbeit, weil nur die Männer arbeiten; – das klingt jetzt vielleicht urig schweizerisch, aber auch in Deutschland wurde damals ähnlich gedacht.

Als Nora sich auf einer öffentlichen Veranstaltung für das Frauenwahlrecht ausspricht, wird sie, von anderen Frauen mehr gezwungen und gedrängt, als aus eigenem Antrieb, im Dorf zur Sprecherin für das Frauenwahlrecht. Die Bären-Wirtschaft, jetzt geführt von der alleinstehenden Italienerin Graziella, die aus dem Gasthof eine Pizzeria machen will, wird zum Zentrum des Widerstandes, in dem sich immer mehr Dorffrauen versammeln. Aber können sie in ihrem Kanton unter den Männern eine Mehrheit für das Frauenwahlrecht herstellen? Denn den Männern gefällt die bisherige gesellschaftliche Ordnung, die sie zur göttlichen Ordnung verklären, sehr gut.

Petra Volpe („Traumland“, Drehbücher für „Lovely Louise“ und „Heidi“) inszenierte einen liebevoll nostalgischen, im Zeitkolorit badenden und die Solidarität zwischen Frauen beschwörenden Blick zurück in eine andere Zeit, in der die Enge (in jeder Beziehung) auch immer etwas heimeliges hat. Dass die Männer Probleme mit ihrer Rolle als Familienoberhaupt haben und vom Haushalt keine Ahnung haben, verschweigt sie nicht. Aber weil Volpe niemanden verurteilen will und für alle Verständnis hat, ist ihr Film dann auch immer harmloser als nötig. „Die göttliche Ordnung“ ist keine Anklage gegen die männliche Vorherrschaft, sondern nostalgisch gefärbtes Feelgood-Kino.

Das liegt auch daran, dass heute niemand das Frauenwahlrecht abschaffen will.

Die Argumente, die im Film gegen das Frauenwahlrecht vorgebracht werden, – um endlich den Sprung in die Gegenwart (und auch nach Deutschland) zu schaffen -, werden heute, wie ein Blick auf die „Wir wählen“-Seite zeigt, gegen ein Ausländerwahlrecht vorgebracht.

Und natürlich ist der Kampf um Gleichberechtigung noch nicht vorbei. Aber dafür interessiert sich „Die göttliche Ordnung“ nicht.

In unseren Kinos läuft der Schweizer Kinohit in der schweizerdeutschen Originalversion und einer auf Hochdeutsch synchronisierten Version. Wer das Schweizerdeutsche versteht, sollte sich die authentischere Originalversion ansehen.

Die göttliche Ordnung (Schweiz, 2017)

Regie: Petra Volpe

Drehbuch: Petra Volpe

mit Marie Leuenberger, Max Simonischek, Rachel Braunschweig, Sibylle Brunner, Marta Zoffoli, Bettina Stucky, Peter Freiburghaus, Therese Affolter, Ella Rumpf, Nicholas Ofczarek, Sofia Helin

Länge: 96 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Schweizer Homepage zum Film

Moviepilot über „Die göttliche Ordnung“

Wikipedia über „Die göttliche Ordnung“

Hier, zum Vergleichen, der Originaltrailer