Neu im Kino/Filmkritik: Für Deutschland auf der Oscar-Shortlist: „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

Dezember 28, 2024

In Cannes erhielt Mohammad Rasoulofs neuer Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ unter anderem den Spezialpreis der Jury, den FIPRESCI-Preis und den Preis der Ökumenischen Jury. Später wurde er als deutscher Beitrag für den Oscar als „Bester internationaler Film“ eingereicht. Möglich wurde diese nicht unumstrittene Entscheidung weil deutsches Geld in die Produktion floss und die Post-Produktion in Deutschland geschah. Davon abgesehen ist er ein von einem iranischen Regisseur im Iran mit Iranern über die aktuelle Lage im Iran gedrehter Film. Inzwischen steht er sogar auf der Shortlist für den Oscar und seit seiner Premiere wird er von der Kritik euphorisch abgefeiert. Dem Lob kann ich mich nur bedingt anschließen.

Es geht um den Untersuchungsrichter Iman und seine Familie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Rezvan ist zwanzig. Ihre Schwester Sana jünger. Auf der Straße – die Filmgeschichte spielt im Herbst 2022 während der Jina-Proteste – protestieren Frauen gegen das Regime. Jina Mahsa Amini war eine kurdischstämmige Iranerin, die am 13. September 2022 von der islamischen Sittenpolizei verhaftet wurde, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß. Sie wird misshandelt. Kurz darauf ist sie tot.

In diesem Moment wird Iman zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran befördert. Dort soll er nicht Recht sprechen, sondern, ohne irgendeine Prüfung, Todesurteile abzeichnen. Er hadert damit. Gleichzeitig fremdelt seine Familie mit seiner neuen Arbeit. Seine Frau unterstützt ihn. Aber seine beiden Töchter sind von dem neuen Leben und den damit nötigen Änderungen ihn ihrem Leben nicht begeistert. Jetzt müssen sie sich richtig kleiden und dürfen in den sozialen Medien keine Fotos mehr posten. Außerdem sympathisieren sie mit den protestierenden Frauen und ihren Anliegen.

Mohammad Rasoulof drehte mit einem kleinen Team und ohne das Wissen des Regimes vor Ort. Er erzählt sehr präzise, gnadenlos der Eskalationsspirale des Misstrauens folgend und nah an seinen Figuren, wie der Staat eine Familie zerstört. Es sind äußere Zwänge, verschiedene Perspektiven auf das Leben (so sieht der Vater die Welt anders als seine Töchter), das Ablehnen von Kompromissen (so sollen die Töchter sich dem Vater und seiner neuen Stellung bedingungslos unterordnen) und das daraus entstehende Misstrauen, das eine fatale Dynamik in Gang setzt. Vor allem nachdem eine Pistole, die Iman beim Dienstantritt von seinen Vorgesetzten zur Selbstverteidigung erhalten hat, spurlos aus der Wohnung verschwindet.

Aber mit fast drei Stunden ist „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ungefähr eine Stunde zu lang. Ohne auch nur irgendetwas an der Struktur zu ändern, hätte ich ihn schon beim ersten Ansehen locker um ein Drittel kürzen können. Es gibt einfach viel zu viele Szenen, in denen Menschen stumm vor sich hin starren oder minutenlang auf einem Laufband trainieren. Wir beobachten die Mutter beim Kochen für die Familie. Es gibt zu viele Szenen, die viel zu lang sind. Hier hätten beherzte Schnitte das Tempo des Films erhöht. So wirkt „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ wie eine weitere, die Geduld des geneigten Zuschauers strapazierende Übung in Langsamkeit.

Den Höhepunkt bildet eine erschreckend amateurhaft inszenierte und viel zu lange, absolut spannungsfreie Actionszene. Es ist nämlich nicht spannend, sondern verwirrend und ärgerlich, wenn der Regisseur seine Schauspieler einfach durch ein in den Bergen liegendes Landhaus treppauf, treppab, im und vor dem Haus durch Türen laufen lässt, das dann zusammenschneidet und glaubt, es wäre irgendwie interessant, planlos herumlaufende Menschen zu beobachten. Ist es nicht.

Auf unter zwei Stunden gekürzt hätte „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ein hochspannender Paranoia-Thriller über die Zerstörung einer Familie in einer Diktatur werden können, den ich ohne zu Zögern in meine Jahresbestenliste aufgenommen hätte. So ist Rasoulofs neuer Film nur ein überlanger, oft unnötig die Geduld strapazierendes Paranoia-Drama.

Noch vor der Premiere des Films floh Rasoulof auf dem Iran. Inzwischen lebt er in Hamburg. In den vergangenen Monaten wurde im Iran gegen fast alle leitenden Crewmitglieder wurde Anklage erhoben. Etliche von ihnen leben inzwischen nicht mehr im Iran.

Die Saat des heiligen Feigenbaums (Dāne-ye anjīr-e ma’ābed, Deutschland/Frankreich/Iran 2024)

Regie: Mohammad Rasoulof

Drehbuch: Mohammad Rasoulof

mit Misagh Zare, Soheila Golestani, Mahsa Rostami, Setareh Maleki, Niousha Akhshi, Reza Akhlaghi, Shiva Ordooei, Amineh Arani

Länge: 167 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

englischer Titel: The Seed of the Sacred Fig

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

Moviepilot über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

AlloCiné über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ 

Metacritic über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

Rotten Tomatoes über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

Wikipedia über „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Mohammad Rasoulofs „Doch das Böse gibt es nicht“ (Sheytan vojud nadarad/There is no Evil, Deutschland/Tschechische Republik/Iran 2020)


TV-Tipp für den 19. Februar: Doch das Böse gibt es nicht

Februar 18, 2024

Arte, 20.15

Doch das Böse gibt es nicht (Sheytan vojud nadarad/There is no Evil, Deutschland/Tschechische Republik/Iran 2020)

Regie: Mohammad Rasoulof

Drehbuch: Mohammad Rasoulof

TV-Premiere. In vier voneinander unabhängigen, nacheinander erzählten, im heutigen Iran spielenden Geschichten beschäftigt Mohammad Rasoulof sich mit der Frage, was die Todesstrafe für eine Gesellschaft bedeutet. In den einzelnen Geschichten sind die Protagonisten auf die eine oder andere Art davon betroffen und sie müssen sich entscheiden, wie sie damit umgehen. Wozu auch der Vollzug der Todesstrafe als Henker gehört.

Der sperrige 152-minütige Film gewann 2020 auf der Berlinale den Goldenen Bären.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Salar Khamseh, Darya Moghbeli, Mahtab Servati, Mohammad Valizadegan, Mohammad Seddighimehr, Jila Shahi, Baran Rasoulof

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Doch das Böse gibt es nicht“

Moviepilot über „Doch das Böse gibt es nicht“

Metacritic über „Doch das Böse gibt es nicht“

Rotten Tomatoes über „Doch das Böse gibt es nicht“

Wikipedia über „Doch das Böse gibt es nicht“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Doch das Böse gibt es nicht“

Meine Besprechung von Mohammad Rasoulofs „Doch das Böse gibt es nicht“ (Sheytan vojud nadarad/There is no Evil, Deutschland/Tschechische Republik/Iran 2020)

Arte über den Film (bis zum 19. März in der Mediathek)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Berlinale-Gewinner 2020 „Doch das Böse gibt es nicht“

August 20, 2021

Ein einfacher Film ist „Doch das Böse gibt es nicht“ nicht. Schließlich gewann Mohammmed Rasoulofs Film 2020 auf der Berlinale den Goldenen Bären. Und Berlinale-Gewinner sind normalerweise keine vergnüglichen Feelgood-Filme, sondern Arthaus-Kino. Wegen der Coronavirus-Pandemie kommt der Film erst jetzt in unsere Kinos.

Außerdem ist das Werk hundertfünfzig Minuten lang.

Dafür gibt es vier Geschichten, die aus dem Leben im heutigen Iran erzählen. Es sind thematisch miteinander verbundene Kurzgeschichten, die erst durch ihr Ende ihre Bedeutung gewinnen. Immer geht es um das Leben und Überleben in einer Diktatur. Immer geht es um die Todesstrafe und die Frage, ob man mit den Machthabern zusammenarbeiten soll oder welche Kosten man für die Weigerung einer Zusammenarbeit auf sich nehmen muss. Immer stehen ganz gewöhnliche Männer im Mittelpunkt, die manchmal schon vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen hatten. Weil die Schlusspointen der Geschichten nicht verraten werden sollen, ist es schwierig über die vier Geschichten zu reden.

So geht es um einen ganz normalen, verheirateten Mann, der nachts arbeitet. Was er tut, erfahren wir erst in der letzten Minute. Bis dahin beobachten wir ihn mit seiner Familie, seinen Nachbarn und seinen Bekannten. Es ist ein ganz gewöhnliches Leben, das sich nicht von dem Leben von tausenden anderer Angestellter und Arbeiter im Iran und in anderen Ländern unterscheidet.

In einer anderen Geschichte will ein Soldat, der eine bestimmte Tätigkeit nicht übernehmen möchte, will aus dem Gefängnis ausbrechen.

In der vorletzten Geschichte will ein anderer Soldat um die Hand seiner Freundin anhalten. Vor seiner Ankunft wurde ein älterer Freund seiner zukünftigen Frau getötet.

In der vierten Geschichte geht es um eine junge Frau, die in den Iran zurückkehrt, um einen älteren Mann zu besuchen. Zwischen beiden herrscht eine große Sprachlosigkeit.

Mohammed Rasoulof drehte den Film unter schwierigen Bedingungen. Für seine sieben Spielfilme, die seit 2002 entstanden, erhielt er zahlreiche Preise. Aber seit fünfzehn Jahren steht er im Fokus der iranischen Zensurbehörden. Sie verbietet eine öffentliche Aufführung seiner Filme: Auch Dreharbeiten gestalten sich für Rasoulof schwierig. Für „Doch das Böse gibt es nicht“ beantragte er deshalb keine Drehgenehmigung. Stattdessen meldete er vier Kurzfilme an, die von verschiedenen, nicht existierenden Regisseuren inszeniert werden sollten. An den Dreharbeiten nahm er teilweise verkleidet, teilweise überhaupt nicht teil . So übernahm am Teheraner Flughafen die Regieassistenz die Regie.

Er inszenierte die Geschichten vor allem als geduldiger, sich jeder Bewertung enthaltenden Beobachter seiner Figuren. Sie verrichten alltäglliche Tätigkeiten. Sie schweigen. Teilweise weil sie nicht darüber reden wollen, teilweise weil sie nicht darüber reden müssen. Damit überlässt Rasoulof es dem Zuschauer, seine Schlüsse aus dem Gezeigten zu ziehen. Gleichzeitig wirkt der gesamte Film etwas zäh.

Das liegt auch daran, dass die vier Geschichten nicht miteinander zusammenhängen oder aufeinander aufbauen. Sie könnten auch in irgendeiner anderen Reihenfolge gezeigt werden.

Doch das Böse gibt es nicht (Sheytan vojud nadarad/There is no Evil, Deutschland/Tschechische Republik/Iran 2020)

Regie: Mohammad Rasoulof

Drehbuch: Mohammad Rasoulof

mit Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar, Alireza Zareparast, Salar Khamseh, Darya Moghbeli, Mahtab Servati, Mohammad Valizadegan, Mohammad Seddighimehr, Jila Shahi, Baran Rasoulof

Länge: 152 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Doch das Böse gibt es nicht“

Moviepilot über „Doch das Böse gibt es nicht“

Metacritic über „Doch das Böse gibt es nicht“

Rotten Tomatoes über „Doch das Böse gibt es nicht“

Wikipedia über „Doch das Böse gibt es nicht“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Doch das Böse gibt es nicht“