Neu im Kino/Filmkritik: „Dear Evan Hansen“, Eltern sind Idioten

Oktober 29, 2021

Evan Hansen hat psychische Probleme. Deshalb soll er jeden Tag einen Brief an sich schreiben, der ihn auf einen fröhlichen, erfüllten und aufbauenden Tag einstimmt. Eines Tages schreibt er in seiner Highschool am Schulcomputer einen zweiten Brief an sich. Der ausgedruckte Brief gerät in die Hände von Connor. Connor ist der von allen gemiedene, aggressive, keine Freunde habende Schulpsycho.

Kurz darauf bringt Connor sich um. Seine Eltern, Cynthia Murphy und ihr neuer Mann Larry Mora, entdecken in Connors Nachlass Evan Hansens Brief. Allerdings glauben sie, aufgrund der Anrede „Dear Evan Hansen“/“Lieber Evan Hansen“ und der fehlenden Unterschrift, dass der Brief von ihrem Sohn ist, er in ihm über seine Gefühle schreibt und indirekt seinen Suizid ankündigt.

Evan hat in dem Moment nicht die Kraft, sie über ihren Irrtum aufzuklären. Stattdessen erfindet er Geschichten über Connor und sich.

Dear Evan Hansen“ ist die Verfilmung des gleichnamigen, mit sechs Tony-Awards ausgezeichnetem Broadway-Musical. Ben Platt, der schon am Broadway Evan Hansen spielte, übernahm wieder die Rolle. Und damit kommen wir zu einem eher kleinerem Problem des Musicals. Platt, der Evan Hansen als eine linkische jüngere Inkarnation von Woody Allen spielt, ist Jahrgang 1993 und damit schon lange aus dem Schulalter. Im Theater stört so etwas nicht sonderlich. Im Film führt dies zu einem seltsamen Verfremdungseffekt. Auch die anderen Schüler werden von Schauspielern gespielt, die schon lange die Highschool verlassen haben.

Ein größeres Problem des sich bis auf wenige Momente realistisch gebenden Films ist, dass die Prämisse ziemlich unglaubwürdig ist und die Themen ‚psychische Probleme‘ und ‚Suizid‘ oberflächlich behandelt werden. Regisseur Stephen Chbosky und Drehbuchautor Steven Levenson (und sicherlich auch das dem Film zugrunde liegende Musical) zeigen außerdem eine erschreckend oberflächliche Welt. So glauben alle, vor allem Connors verzweifelte Eltern, sofort an Evans Lüge über seine Freundschaft zu Connor. Eigentlich treiben sie ihn für ihr eigenes Seelenheil zu dieser Lüge.

Die Eltern – im Film werden nur die Eltern von Connor Murphy und Evan Hansens ihn allein erziehende Mutter gezeigt – haben erschreckend wenig Ahnung von dem Alltag und den Problemen ihrer Kinder. Sie interessieren sich auch nicht dafür. Die Lehrer, die Schulleitung und die Therapeuten, sofern sie überhaupt im Film vorkommen, haben ebenfalls keine Ahnung davon. Denn Evan Hansens Charade beginnt mit einem Gespräch mit Connors Eltern und dem Schuldirektor, der den Brief genau wie Connors Eltern interpretiert. Deshalb fragen sie sich auch nicht, warum ein Jugendlicher heute einen Brief am Computer schreibt und ihn dann ausdruckt, anstatt ihn seinem Empfänger elektronisch zuzuschicken.

Später wird auch von Evans Mitschülern seine Lüge umstandslos akzeptiert. Er wird zum großen Helden der Schule, weil er mit dem Toten befreundet war, jetzt trauert und auf einer pompösen Schultrauerfeier darüber reden kann.

Nur Connors Schwester weist anfangs darauf hin, dass niemand Connor mochte oder mit ihm befreundet war.

Regisseur Chbosky zeichnet dieses für uns doch sehr fremde Schulmilieu vollkommen kritiklos und unreflektiert als Ort, an dem Konkurrenzdruck, Mobbing, Verlogenheit und Oberflächlichkeit alltäglich sind. Es ist ein Ort, der, abhängig von der Schulleitung, zu psychischen Krankheiten, Suiziden und Amokläufen (die es in „Dear Evan Hansen“ nicht, aber an anderen Highschools gibt) führen muss. In „Dear Evan Hansen“ werden für die Probleme von Evan, Connor und den anderen Schülern trotzdem keine strukturellen Lösungen, sondern ein Arrangieren mit diesen Regeln und der Konsum von Tabletten vorgeschlagen. Als gäbe es in den USA keine Opioid-Epidemie, die jährlich zu zehntausenden Toten führt. Letztes Jahr starben über 90.000 Menschen an diesen oft von Ärzten verschriebenen Opioid-Schmerzmitteln. In „Dear Evan Hansen“ werden Tabletten dann wie Smarties genommen.

Die Musik – im Film sind elf Songs aus dem Musical und vier weitere Songs enthalten – gefällt als gefällige, altmodische Popmusik. Für die deutsche Fassung wurden die Songs ebenfalls synchronisiert.

So ist „Dear Evan Hansen“ ein prominent besetztes Musical, das wichtige Probleme nur antippt und sie mit gefälligen Songs abschmeckt.

Dear Evan Hansen (Dear Evan Hansen, USA 2021)

Regie: Stephen Chbosky

Drehbuch: Steven Levenson (nach dem Musical von Justin Paul, Steven Levenson und Benj Pasek)

mit Ben Platt, Kaitlyn Dever, Amy Adams, Julianne Moore, Daniel Pino, Amandla Stenberg, Nik Dodani, Colton Ryan

Länge: 137 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Dear Evan Hansen“

Metacritic über „Dear Evan Hansen

Rotten Tomatoes über „Dear Evan Hansen“

Wikipedia über „Dear Evan Hansen“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Wie komme ich aus dem „Escape Room“?

März 1, 2019

Sechs Menschen nehmen eine Einladung für ein Spiel an. Sie kennen sich nicht und sie wären sich wahrscheinlich niemals begegnet. Aber jetzt sind sie in einem Escape Room und, wie es die Spielregeln vorschreiben, müssen sie in diesem und vielleicht noch einigen weiteren Räumen nach Zeichen und Gegenständen suchen, die ihnen eine Flucht aus dem Raum ermöglichen. Es ist ein Spiel, das weltweit gespielt wird. Normalerweise ohne einen tödlichen Ausgang.

Aber in diesem Fall hat der unbekannte Spielmeister tödlichen Fallen gestellt. Das Ziel seines Spiels scheint es zu sein, alle Teilnehmenden zu töten und sie dabei mit ihren schlimmsten Erlebnisse zu konfrontieren.

Das führt dazu, dass die Teilnehmenden durch verschiedene, teils sehr prächtige und ungewöhnliche Räume stolpern müssen, ehe sie sterben. Jeder dieser Räume hat für einen der Teilnehmer eine besondere Bedeutung. Manchmal überlebt er seinen Raum, aber in dem nächsten Raum sind weitere tödliche Fallen. Zu den optisch ungewöhnlichsten Räumen dieses Spiels gehört sicher eine auf dem Kopf stehende Bar. Andere Räume sind eine Hütte an einem vereisten See, ein Krankenhaus und eine Bibliothek.

Mit der Bibliothek beginnt Adam Robitels Horrorfilm „Escape Room“. Ein Spielteilnehmer versucht aus ihr zu entkommen und er entziffert atemberaubend schnell die kryptischen Hinweise. Bevor er von den sich auf ihn zu bewegenden Wänden der Bibliothek zerquetscht wird, springt der Film zurück in die Vergangenheit. In dem Moment kennen wir allerdings schon einen (oder den?) letzten Überlebenden des Spiel.

In der Rückblende geht es dann darum, wie die sechs Spielteilnehmer sich von Raum zu Raum bewegen, manchmal den Fallen entkommen, manchmal sterben. Das erinnert an Vincenzo Natalis „Cube“ (Kanada 1997). In dem stilprägenden Horrorthriller erwachten sechs Personen, ebenfalls vier Männer und zwei Frauen, in einem Raum, aus dem sie versuchten zu entkommen. Nur um in den nächsten Raum zu gelangen. Während „Cube“ durchgängig als Metapher funktioniert, versucht „Escape Room“ es am Ende mit einer scheinbar realistischen, aber vollkommen idiotischen Erklärung, die die Hintergründe des Spiels erklärt und auf eine Fortsetzung spekuliert.

Diese ist auch schon für April 2020 angekündigt. Adam Robitel soll wieder Regie führen und Bragi Schut wieder das Drehbuch schreiben. Ob sie dann einfach die Geschichte von „Escape Room“ in anderen Räumen mit anderen Todeskandidaten wiederholen oder eine vollkommen neue Geschichte erzählen, ist noch unklar. Die Gefängnisausbruchsserie „Prison Break“ könnte da ein Vorbild sein. Während in der ersten Staffel erzählt wird, wie die Jungs aus dem Gefängnis ausbrechen, erzählt die zweite Staffel, wie sie durch die USA von der Polizei gejagt werden.

Das spannende B-Picture „Escape Room“ erzählt, abgesehen von den Räumen, durch die die sympathischen Schauspieler hetzen, nichts, was man nicht schon in unzähligen Filmen gesehen hat, in denen eine nur scheinbar zufällig zusammengewürfelte Gruppe Menschen, mehr oder weniger freiwillig, in einem Raum eingesperrt ist, aus ihm entkommen will und sie der Reihe nach getötet werden. Dieser oberflächliche Thrill funktioniert auch hier.

Escape Room (Escape Room, USA 2019)

Regie: Adam Robitel

Drehbuch: Bragi Schut, Maria Melnik (nach einer Geschichte von Bragi Schut)

mit Taylor Russell, Logan Miller, Deborah Ann Woll, Jay Ellis, Tyler Labine, Nik Dodani

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Escape Room“

Metacritic über „Escape Room“

Rotten Tomatoes über „Escape Room“

Wikipedia über „Escape Room“