Neu im Kino/Filmkritik: Über den Science-Fiction-Film „Vesper Chronicles“

Oktober 9, 2022

Die Menschheit hat es mal wieder geschafft. Dieses Mal sogar ohne außerirdischen Besuch oder einen Atomkrieg. Mit gentechnisch veränderten Organismen und Pflanzen brachten sie unser Ökosystems endgültig aus dem Gleichgewicht. Seitdem lebt eine kleine Oligarchie in Zitadellen. Die anderen Menschen kämpfen in einem Ödland voller Matsch, Schlamm und glibberiger Wesen und Pflanzen um ihr Überleben. Jonas (Eddie Marsan) ist einer der im Ödland lebenden Menschen. Er hat sich einen kleinen Herrschaftsbereich mit treuen Gefolgsleuten aufgebaut und handelt mit den Zitadellen. Er erhält von ihnen gentechnisch verändertes Saatgut, das nur einmal ausgesät werden kann. Dafür verkauft er ihnen das Blut von Kindern.

Die junge Vesper (Raffiella Chapman), die titelgebende Hauptfigur der Geschichte, verkauft ihm immer wieder ihr Blut. Mit ihrem bewegungslos im Bett liegendem Vater und einer mit ihm verbundenen Drohne lebt sie in einem Bauernhof. Sie forscht an eigenen Pflanzenzüchtungen und streift allein durch den Wald.

Bei einem ihrer Streifzüge entdeckt sie die schwer verletzte, aus der Zitadelle kommende Camellia (Rosy McEwen). Sie könnte Vespers Weg in die Zitadelle sein.

Vesper Chronicles“ ist ein von Kristina Buozyte und Bruno Samper in Litauen gedrehter Science-Fiction-Film, der teurer aussieht als er war. Das liegt an den überzeugenden Spezialeffekten, die vor allem für die Pflanzen und einige Set-Erweiterungen benutzt wurden. Die Bilder der geheimnisvoll aussehenden, sumpfigen und oft nebligen Waldlandschaft und und kleinen Dingen, wie einem auf eine besondere Weise getragenem Umhang oder einem vor dem Gesicht getragenem Tuch, kreieren eine unheimliche Atmosphäre. Dazu kommt eine sich auf wenige Personen konzentrierende Geschichte, die in einer in sich stimmigen Welt spielt. Dabei wird vieles nur angedeutet. Die Geschichte selbst ist klug, aber auch ohne große Überraschungen entwickelt. Vieles kennt man so ähnlich aus anderen Dystopien, in denen die Menschheit nach einer Katastrophe zuverlässig alles erworbene Wissen vergisst und umstandslos in eine mittelalterliche Welt zurückfällt, in der nur das Recht des Stärkeren zählt. In dieser Welt und weil wir ein typisches bombastisches Hollywood-Ende erwarten, überrascht das Ende von „Vesper Chronicles“. Es verweigert sich den Drehbuch-Konventionen zugunsten eines fast schon undramatisch-realistischem Endes.

Letztendlich ist der von Kristina Buozyte und Bruno Samper, die bereits bei „Vanishing Waves“ zusammengearbeitet haben, inszenierte Science-Fiction-Film mehr am Visuellen als an der Story interessiert.

Für Science-Fiction-Fans ist „Vesper Chronicles“ definitv einen Blick wert. Die wissen natürlich auch, dass ein guter Science-Fiction-Film nicht unbedingt ein Multi-Millionen-Dollar-Budget benötigt, um gut zu sein.

Außerdem kann ein Film mit Eddie Marsan nicht schlecht sein. Denn Eddie Marsan spielt mit.

Vesper Chronicles (Vesper, Litauen/Frankreich/Belgien 2022)

Regie: Kristina Buozyte, Bruno Samper

Drehbuch: Kristina Buozyte, Brian Clark, Bruno Samper

mit Raffiella Chapman, Eddie Marsan, Rosy McEwen, Richard Brake, Melanie Gaydos, Edmund Dehn

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Vesper Chronicles“

Metacritic über „Vesper Chronicles“

Rotten Tomatoes über „Vesper Chronicles“

Wikipedia über „Vesper Chronicles“


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Die Insel der besonderen Kinder“ und die besonderen Bedrohungen

Oktober 6, 2016

Wenn man durch Ransom Riggs‘ Debütroman „Die Insel der besonderen Kinder“ blättert und sich die vor Jahrzehnten entstandenen, von Riggs auf Flohmärkten gesammelten Bilder ansieht, glaubt man, Bilder aus einem Tim-Burton-Film vor sich zu haben – und Tim Burton verfilmte jetzt auch den Roman, der bis auf das Ende der Vorlage ziemlich genau folgt. Der dritte Akt fällt im Film wesentlich pompöser als im Roman aus.

Als Kind lauschte Jake fasziniert seinem Großvater Abraham und seinen abenteuerlichen Erzählungen von einer Insel mit besonderen Kindern und seinen Kämpfen gegen Monster lauschte. Aber das – schwebende Mädchen, ein unsichtbarer Junge, ein Junge, aus dessen Mund, wenn er ihn öffnet, Bienen fliegen – sind nur Gute-Nacht-Geschichten, die Großvater Abraham mit Vintage-Fotos illustrierte.

Als Jake ein Teenager ist, wird Abraham ermordet. Offiziell wurde er von einem Rudel Hunde getötet, aber Jake sah die Monster. Allerdings hat nur er die Monster gesehen. Kurz darauf erhält er eine mysteriöse Nachricht und er macht sich, begleitet von seinem Vater, einem Vogelbeobachter, auf den Weg nach Cairnholm Island, der walisischen Insel, auf der Abraham während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling einige Zeit in einem Kinderheim war. Und dort trifft Jake in einer Zeitschleife, die immer wieder einen Kriegstag wiederholt, all die Kinder, von denen Abraham ihm erzählte, und die Schulleiterin, Miss Peregrine, die sich – und das ist eine ihrer besonderen Fähigkeiten – in einen Wanderfalken (Falco Peregrinus) verwandeln kann. Eine andere Fähigkeit von ihr ist, dass sie eine Zeitschleife, die eine kleine Verbindung zur Außenwelt und Gegenwart hat, einrichten und so die Kinder vor Gefahren schützen kann.

Riggs‘ Roman, selbstverständlich der Beginn einer Trilogie, dessen letzter Band im November als „Die Bibliothek der besonderen Kinder“ bei Knaur erscheint, ist ein Fantasy-Roman für Jugendliche, geschrieben mit überschaubaren literarischen Ambitionen und einer überschaubaren Spannungskurve. Das und dass sich alles recht langsam entwickelt (so betritt Jacob erst auf Seiten 80 die Insel und erst auf Seite 172, nachdem er einige Seiten vorher von den besonderen Kindern geschnappt wurde, trifft er Headmistress Peregrine) ist in dem Roman nicht so nachteilig.

Aber in dem Film fällt dann auf, dass es ewig dauert, bis Jacob mit seinem Vater Florida verlässt und nach England fliegt. Dort trifft er zwar ziemlich schnell auf Miss Peregrine und ihre besonderen Kinder, aber weil ihre Charakterisierung niemals tiefer als ihre besondere Fähigkeit geht (Wie oft müssen wir den Unsichtbaren sehen? Wie oft muss Fiona Pflanzen wachsen lassen? Wie oft muss Emma schwerelos gen Himmel schweben, bis wir ihre Fähigkeit verstanden haben?), langweilt dieser Teil schnell. Es gibt einfach keinen Konflikt. Alles spielt sich in einer Bilderbuchidylle ab. Nie ist der typische bizarre und schwarze Humor von Burton spürbar. Nie gibt es einen irgendwie produktiven oder verstörenden Austausch zwischen der normalen Welt und den besonderen Kindern. Auch Jakob, der anfangs behauptet, keine besonderen Fähigkeiten zu haben, nimmt die Fähigkeiten der besonderen Kinder und ihrer Betreuerin als gottgegeben hin. Er staunt noch nicht einmal eine Zehntelsekunde, dass die Fotografien seines Großvaters keine Fälschungen waren.

Und beim großen Finale, wenn dann endlich die Bösewichter auftauchen, die sich vorher gut versteckten, scheint Tim Burton sein Storyboard an die CGI-Abteilung mit dem Kommentar „macht mal, wird schon passen“ abgegeben zu haben. Dabei waren gerade in früheren Tim-Burton-Filmen die liebevoll animierten oder mit Puppen in Stop-Motion-Technik nachgestellten Monsterszenen unvergessliche Höhepunkte.

Die namhaften Schauspieler bleiben durchgehend blass. Nur Samuel L. Jackson als Bösewicht Barron hat einen eindrucksvollen Auftritt. Allerdings erst im Finale. Bis dahin tritt er, abgesehen von einem kurzen Moment am Filmanfang, nicht auf.

Die Musik plätschert ohne irgendeinen Eindruck zu hinterlassen vor sich hin. Sie ist auch nicht von Burton-Hauskomponist Danny Elfman, sondern von Michael Higham und Matthew Margeson.

Damit bleibt Tim Burton zwar der Vorlage treu, aber für diesen seelenlosen Film hätte man keinen Tim Burton gebraucht, der uns zuletzt mit „Frankenweenie“ in eine andere Welt entführte und in „Big Eyes“ sogar dem Fünfziger-Jahre-Amerika mild absurde Seiten abgewann.

Die Insel der besonderen Kinder“ ist da nur Malen nach Zahlen. Daran ändert auch das so entstandene farbenprächtige Bild nichts.

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Die Insel der besonderen Kinder (Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children, USA 2016)

Regie: Tim Burton

Drehbuch: Jane Goldman

LV: Ransom Riggs: Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children, 2011 (Die Insel der besonderen Kinder)

mit Eva Green, Asa Butterfield, Samuel L. Jackson, Judi Dench, Rupert Everett, Allison Janney, Chris O’Dowd, Terence Stamp, Ella Purnell, Finlay MacMillan, Lauren McCrostie, Hayden Keeler-Stone, Georgia Pemberton, Milo Parker, Raffiella Chapman, Pixie Davies, Joseph Odwell, Thomas Odwell, Cameron King, Louis Davison, Kim Dickens, O-Lan Jones

Länge: 127 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage (zum Filmstart mit besonderem Cover)

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Ransom Riggs: Die Insel der besonderen Kinder

(übersetzt von Silvia Kinkel)

Knaur, 2016

416 Seiten

12 Euro

Deutsche Erstausgabe

Pan-Verlag, 2011

Taschenbuchausgabe

Knaur, 2013

Originalausgabe

Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children

Quirk Books, Philadelphia 2011

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Die Insel der besonderen Kinder“

Metacritic über „Die Insel der besonderen Kinder“

Rotten Tomatoes über „Die Insel der besonderen Kinder“

Wikipedia über „Die Insel der besonderen Kinder“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Tim Burtons “Frankenweenie” (Frankenweenie, USA 2012, nach einem Drehbuch von John August)

Meine Besprechung von Tim Burtons „Big Eyes“ (Big Eyes, USA 2014)

Tim Burton in der Kriminalakte

Homepage von Ransom Riggs