Neu im Kino/Filmkritik: Über Baltasar Kormákurs „Touch“

August 8, 2024

Vorsicht, welche mit Erinnerungen gefüllte Boxen du öffnest, nachdem sie in deiner Wohnung Jahrzehnte friedlich vor sich hin zustaubten.

Und Vorsicht vor blöden Sprüchen während des Studiums. Sonst kann es dir wie Kristófer ergehen. Er studiert in den späten sechziger Jahren an der London School of Economics und ist revolutionär bewegt. Als er im Fenster eines japanischen Restaurants eine Stellenausschreibung liest und seine Freunde ihn aufziehen, er werde niemals als Tellerwäscher arbeiten, bewirbt er sich für die Stelle. Alle halten das für eine Schnapsidee. Seine Studienfreunde sind sich sicher, dass er nach einigen Stunden weiter mit ihnen Bier trinken und die Revolution planen wird. Der Restaurantbetreiber glaubt ebenfalls nicht, dass Kristófer länger bleiben wird. Aber Kristófer bleibt. Er wird Teil des Teams. Er lernt kochen. Er verliebt sich außerdem in Miko, die Tochter des Restaurantbetreibers.

Miko ist Kristófers erste große Liebe. Aber eines Tages verschwindet sie spurlos. Er kehrt nach Island zurück, eröffnet ein Restaurant, gründet eine Familie und ist seit kurzem Witwer. Er hat auch eine beginnende Demenz. Sein Arzt rät ihm, sich noch einmal mit den Dingen zu beschäftigen, an die er sich gerne erinnern würde. Einige Erkrankte würden auch, solange sie sich noch an sie erinnern, alte Freunde wieder besuchen.

Also stöbert Kristófer in den in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder weniger wichtigen Erinnerungsstücken gefüllten Schachteln herum. Dabei stößt er auf Andenken aus seiner wild bewegten und glücklichen Zeit in London und beschließt, die spurlos verschwundene Miko zu suchen. Seit ihrem Verschwinden vor einem halben Jahrhundert hörte er nichts mehr von ihr.

Die erste Station seiner Suche ist London. Dort landet er während der ersten Tage der Coronavirus-Pandemie. Während seiner Suche und den durch sie ausgelösten Erinnerungen gibt es immer mehr Restriktionen und immer weniger Gäste im Hotel. Gleichzeitig versucht seine Tochter ihn telefonisch zur Rückkehr nach Island zu bewegen.

Aber Kristófer sucht in London weiter nach Menschen, die Miko kannten. Als er erfährt, dass sie damals von ihrem Vater zurück nach Japan geschickt wurde, fliegt er ebenfalls nach Japan.

Touch“ ist der neue Film von Baltasar Kormákur. Bekannt ist er als souverän zwischen isländischen und internationalen Produktionen wechselnder Regisseur von packenden Action- und Kriminalfilmen. Davor, am Anfang seiner Karriere, inszenierte er am Theater klassische Stücke. Dieser Ausflug in Richtung Hochkultur endete, wie gesagt, im Genrekino. Mit „Touch“ geht es wieder in eine andere Richtung. Sein neuester, überaus gelungener Film, ist ein melancholischer Liebesfilm.

Kormákur erzählt Kristófers Geschichte auf zwei Zeitebenen und über mehrere Länder und Kontinente. Bei seiner Reise befindet Kristófer sich im Wettlauf gegen den eigenen geistigen Verfall und die sich nicht vorhersehbar verschärfenden Covid-Restriktionen. Denn im Gegensatzu zu allen anderen Menschen, die sich damals kaum vor die Tür wagten und auch aus Urlaubsparadiesen möglichst schnell zurück in die eigenen vier Wände wollten, will Kristófer nur möglichst weit weg von seinem Haus.

Kormákur erzählt diese Reise sehr gefühlvoll, ruhig und angenehm kitschfrei. Da verzeiht man gerne das doch etwas dick auftragende Ende.

Touch (Touch, Island/Großbritannien/USA 2024)

Regie: Baltasar Kormákur

Drehbuch: Ólafur Jóhann Ólafsson, Baltasar Kormákur

LV: Ólafur Jóhann Ólafsson: Snerting, 2020

mit Egill Ólafsson, Pálmi Kormákur, Kōki, Masahiro Motoki, Yoko Narahashi, Ruth Sheen, Masatoshi Nakamura, Meg Kubota

Länge: 121 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Touch“

Metacritic über „Touch“

Rotten Tomatoes über „Touch“

Wikipedia über „Touch“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs “Contraband” (Contraband, USA 2012)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs “2 Guns” (2 Guns, USA 2013)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs „Everest“ (Everest,USA/Großbritannien 2015)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs „Der Eid“ (Eidurinn, Island 2016)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs „Die Farbe des Horizonts“ (Adrift, USA 2018)

Meine Besprechung von Baltasar Kormákurs „Beast – Jäger ohne Gnade“ (Beast, USA 2022)


Neu im Kino/Filmkritik: Für Mike Leigh ist „Mr. Turner – Meister des Lichts“

November 7, 2014

Das nächste Biopic. Dieses Mal über einen Maler, dessen Gemälde heute immer noch bekannt sind: William Turner. Und Mike Leigh, der sonst für sein Gegenwartskino, seine Arbeiterdramen, bekannt ist, inszeniert diesen historischen Stoff abseits der normalen Biopic-Pfade, in denen das Leben des Protagonisten ein illustrierter Wikipedia-Artikel ist. Leighs „Mr. Turner – Meister des Lichts“ ist eher ein Filmessay. Eine chronologische Aneinanderreihung von Impressionen aus dem Leben des Malers, dem wir zum ersten Mal 1826 am Ende einer Reise nach Belgien begegnen. In dem Moment war der 1775 geborene Turner bereits ein bekannter Künstler.
In den folgenden gut hundertfünfzig Minuten erzählt Mike Leigh Turners Leben bis zu seinem Tod 1851.
Aber im Gegensatz zu anderen Biopics bemüht Mike Leigh sich nicht, uns William Turner nahe zu bringen. Er ist ein grunzendes Scheusal, das zwischen zwei Pinselstrichen seine Haushälterin vergewaltigt. Er ist gehässig. Er benimmt sich wie ein kleines Kind, aber er hat auch eine sensible Seite, die sich in seinen Gemälden, seiner normalen Beziehung zu Sophia Booth, einer Vermieterin in Margate, bei der er sich 1829 unter falschem Namen einmietete und für die er bis zu seinem Tod Mr. Mallord blieb, und seiner Beziehung zu seinem 1829 verstorbenem Vater, der auch der Manager und Diener seines Sohnes war, zeigt. Außerdem war Turner ein großer Künstler, der in seinen Bildern auch die Auswirkungen der Französischen Revolution und der Industrialisierung auf die Gesellschaft und das Individuum reflektierte. Mike Leigh reflektiert diese gesellschaftlichen Veränderungen und Unsicherheiten auch in seinem Film. Genau wie Turners Bilder immer abstrakter wurden, löst Leighs Film immer mehr die Gewissheiten eines Gewissheiten verkündenden Biopics auf. Je länger der Film ist, desto unschärfer wird William Turner, der sein Handeln nie erklärte.
Timothy Spall, zuletzt die RomCom „Wie in alten Zeiten“ und Wormtail in den Harry-Potter-Filmen, ist ein bekannter Leigh-Darsteller, der für sein Porträt des Malers in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet wurde. Er spielt diesen komplizierten Charakter eindrücklich in seiner Zerrissenheit und Maßlosigkeit. Auch die anderen Schauspieler sind toll, ebenso die Ausstattung und die Kamera. Leighs langjähriger Kameramann Dick Pope erhielt, ebenfalls in Cannes, den Vulcain Prize for the Technical Artist für seine Übertragung der Turner-Gemälde auf die große Leinwand.
Weil Leigh allerdings konsequent undramatisch Episoden aus einem viertel Jahrhundert aneinanderreiht, ohne dass sich die Jahre in den Gesichtern der Schauspieler spiegeln, und er kaum Hintergrundinformationen liefert, richtet sich „Mr. Turner“ nur an Turner-Fans, die die Bilder und Episoden einsortieren können.
Alle anderen sind, je nach Stimmungslage, dann von dem ruhigen Fluss der Erzählung fasziniert oder gelangweilt. Ich war gelangweilt, weil ich nichts über den Porträtierten erfuhr, auch der durch die Französische Revolution und die Industrialisierung forcierte Wandel nicht angesprochen wird und die einzelnen Episoden aus Turners Leben einfach nur Anekdoten sind, die nie eine eigenes Narrativ entfalten. Am Ende des Films wusste ich nicht mehr über William Turner als vorher – und das ist kein gutes Zeichen.

Mr Turner - Plakat

Mr. Turner – Meister des Lichts (Mr. Turner, Großbritannien 2014)
Regie: Mike Leigh
Drehbuch: Mike Leigh
mit Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Marion Bailey, Ruth Sheen, Lesley Manville, Martin Savage, Paul Jesson, Patrick Godfrey, Leo Bill
Länge: 150 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Englische Facebook-Seite zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Mr. Turner“
Moviepilot über „Mr. Turner“
Metacritic über „Mr. Turner“
Rotten Tomatoes über „Mr. Turner“
Wikipedia über „Mr. Turner“ (deutsch, englisch)

Das Q&A zum Film beim NYFF zum Film in großer Runde

DP/30 unterhält sich mit Mike Leigh über den Film und den ganzen Rest