Neu im Kino/Filmkritik: „Anemone“, der neue Film von Daniel Day-Lewis

November 28, 2025

Seit über zwanzig Jahren lebt Ray Stoker (Daniel Day-Lewis) irgendwo Großbritannien, weitab von der Zivilisation im Wald in einer Hütte. Den Kontakt zu seiner in Sheffield lebenden Familie hat er abgebrochen. Es handelt sich um eine selbstauferlegte Buße für etwas, das während des Nordirlandkonfliktes, den Troubles, geschah. Damals waren er und sein Bruder in Nordirland stationiert.

Weil es jetzt, Mitte der neunziger Jahre, Probleme in der Familie gibt, besucht ihn sein Bruder Jem (Sean Bean). Er will Ray überzeugen, in die Zivilisation zurückzukehren. Davor wühlen die beiden unterschiedlichen Brüder erst einmal in ihrer Vergangenheit herum.

Neun Jahre nach seinem letzten Spielfilm – Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ (Phantom Thread) und seinem selbsterklärten Rückzug in den Ruhestand – kehrt der bei seinen Rollen extrem wählerische Daniel Day-Lewis mit „Anemone“ auf die Leinwand zurück. Die Erklärung dafür dürfte sein, dass er das Drehbuch zusammen mit seinem 1998 geborenem Sohn Ronan Day-Lewis schrieb und Ronan Day-Lewis mit dem Film sein Spielfilmdebüt gibt. Es ist also eine Familienangelegenheit und die Förderung eines Familienmitglieds.

Ronan hat sich für sein Debüt seinen schweren Stoff ausgesucht. Es geht um Glaube, Schuld und Sühne vor dem Hintergrund der Troubles, erzählt als karges, fast ausschließlich in einer Hütte spielendem Zwei-Personenstück. Ronan hat ein Auge für atmosphärische Bilder und zwei unbestritten talentierte Hauptdarsteller, die wahrscheinlich auch ohne irgendeine Regieanweisung gut spielen können.

Aber sie müssen mit einem Drehbuch kämpfen, das ihnen wenig zum Spielen gibt. Die meiste Zeit schweigen sie sich, unterbrochen von einigen Monologen, an. Über ihre Vergangenheit reden sie meistens nur in Andeutungen. Schließlich geht es um ihnen bekannte Erinnerungen, Verletzungen und Vorwürfe. Da genügen dann ein zwei Stichworte und ein zustimmendes Nicken. Die beiden Miesepeter Ray und Jem wissen, über was sie sich vorwurfsvoll anschweigen. Aber der Zuschauer bleibt in den Momenten außen vor. Erst langsam erschließt sich ihm, was damals geschah und warum Ray sich von der Welt zurückzog. Das erfährt er erst am Ende und angesichts des damals tobenden Bürgerkrieges erscheint der Grund für Rays über zwanzigjährige Buße (sogar verurteilte Mörder verbringen weniger Zeit im Gefängnis) unglaubwürdig. Das liegt auch daran, dass Ray als Figur in dieser schlecht konstruierten Charakterstudie zu sparsam gezeichnet ist.

Als Kurzgeschichte oder Novelle könnte diese Geschichte funktionieren. Im Kino funktioniert sie in dieser Form in keinster Weise nicht.

P. S.: Anemone ist das englische Wort für Windröschen.

Anemone (Anemone, Großbritannien/USA 2025)

Regie: Ronan Day-Lewis

Drehbuch: Ronan Day-Lewis, Daniel Day-Lewis

mit Daniel Day-Lewis, Sean Bean, Samantha Morton, Samuel Bottomley

Länge: 126 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Anemone“

Metacritic über „Anemone“

Rotten Tomatoes über „Anemone“

Wikipedia über „Anemome“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „How to have Sex“ auf Kretas Partymeile

Dezember 11, 2023

Das ist eine britische Tradition, die wohl auch von einigen Deutschen ausgeübt wird: nämlich auf einer massentouristisch voll erschlossenen Mittelmeerinsel einige Tage verbringen und dort die Sau rauslassen. Der Trip soll eine einzige Party sein, mit viel Alkohol, Drogen und Sex.

Die drei sechzehnjährigen Freundinnen Tara, Em und Skye wollen das und nur das auf Kreta tun. Sie checken in einem billigem Touristenhotel ein, befreunden sich mit der Jungsclique auf dem Nachbarbalkon und los geht das wilde Partyleben mit Komasaufen, Sex und anschließender Ausnüchterung bis zum frühen Nachmittag. Am nächsten Abend wird im Hotelzimmer und in den Discos weitergetrunken und gefeisert.

Tara, die so etwas wie die Protagonistin des Films ist, will zwischen den Besäufnissen und den Discobesuchen endlich ihren ersten Geschlechtsverkehr haben.

Die Inspiration für die Erlebnisse der drei Freundinnen Tara, Em und Skye waren Erlebnisse von Molly Manning Walker, die sie selbst während eines solchen Partyurlaubs hatte und an die sie und Schulfreunde sich während einer Hochzeitsfeier erinnerten. Doch eigentlich ist egal, ob das tagelange Besäufnis, wie im Film, heute oder vor Jahren oder Jahrzehnten stattfindet. Bis auf die Handys und einige Frisuren änderten sich in den vergangenen Jahrzehnten auf den Partymeilen der Mittelmeerinseln nichts. Dort wird das immergleiche, allgemein akzeptierte Programm von übermäßigem Alkholkonsum und Sex zelebriert.

In ihrem Langfilmdebüt „How to have Sex“ zeigt Molly Manning Walker diesen Urlaub der drei Mädels präzise und mit nüchtern-dokumentarisch-beobachtendem Blick aus weiblicher Sicht. Ihre Episoden aneinanderreihende Chronologie eines Urlaubs hat dann, sobald es um Sex geht, keine „Eis am Stil“- oder „Hangover“-Fröhlichkeit mehr. Stattdessen geht es auch um Geschlechterverhältnisse und die Frage, wieviel Einvernehmlichkeit beim Sex vorhanden sein muss. Für Tara ist der erste Sex jedenfalls weniger befriedigend als von ihr erhofft. Und auch einer der Jungs aus dem Nachbarzimmer ist von einem Blowjob auf offener Bühne irritiert. Danach geht das Partyleben bis zum Rückflug weiter.

How to have Sex (How to have Sex, Großbritannien/Griechenland 2023)

Regie: Molly Manning Walker

Drehbuch: Molly Manning Walker

mit Mia McKenna-Bruce, Shaun Thomas, Lara Peake, Enva Lewis, Samuel Bottomley, Laura Ambler, Anna Antoniades, Daisy Jelley

Länge: 91 Minuten

FSK: ab 12 Jahre (mit Eltern ab 6 erlaubt; – das würde ich nicht unbedingt empfehlen, aber es zeigt, wie wenig explizit der Film ist)

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „How to have Sex“

Metacritic über „How to have Sex“

Rotten Tomatoes über „How to have Sex“

Wikipedia über „How to have Sex“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Sundown – Geheimnisse in Acapulco“, am Ende aufgeklärt

Juni 10, 2022

Neil Bennett (Tim Roth) und seine Familie hängen entspannt in einem noblen Hotel in Acapulco ab. Sie sind im Urlaub, trinken viel Alkohol, lassen sich manchmal ins Wasser gleiten, aber insgesamt achten sie darauf, sich möglichst wenig zu bewegen. Es ist ein Bild des Stillstands, das Regisseur Michel Franco (zuletzt „New Order – Die neue Weltordnung“) in den ersten Minuten seines neuen Films „Sundown – Geheimnisse in Acapulco“ zeichnet. Und im Gegensatz zum Titel, der zu einem generischen Thriller passt, ist Francos Film kein Krimi, sondern eine Stillstandsbeschreibung und ein psychologisches Drama.

Unterbrochen wird der Urlaub durch die Nachricht, dass seine Mutter gestorben ist. Seine Schwester Alice (Charlotte Gainsbourg) organisiert sofort die Rückreise und die Beerdigung. Am Flughafen sagt Neil, er habe seinen Pass im Hotel vergessen. Er werde mit dem nächsten Flug nachkommen.

Das tut er aber nicht. Stattdessen wirft er seinen Pass in die nächste Mülltonne, mietet sich in einem billigem Hotel ein und duselt, betäubt von Unmengen Bier, am Strand vor sich hin. Er will nur seine Ruhe haben, sich möglichst wenig bewegen und mit niemandem reden. Später lernt er eine jüngere Kioskverkäuferin kennen. Sie reißt ihn ein wenig aus seiner Lethargie.

Und wir fragen uns, warum er nicht zur Beerdigung fahren will, warum er sich nicht um sein Millionenerbe kümmern will und was die verschiedenen Verbrechen und Morde mit ihm und seiner Familie zu tun haben.

Am Ende, das hier nicht verraten wird, wird Neils Verhalten erklärt. Dadurch wird sein Verhalten nachvollziehbar und, hätten wir das von Anfang an gewusst, hätten wir eine sehr interessante Fallstudie gesehen. Andererseits wird der Film dadurch gleichzeitig schwächer. Denn jetzt gibt es eine Erklärung, die alle anderen Interpretationen ausschließt.

Dabei ist genau dieses Anbieten von vielen möglichen, teils widersprüchlichen Interpretationen die Stärke von „Sundown“; wenn man sich auf solche Filme einlassen möchte. Denn, wie bei einem abstraktem Gemälde, kann bis zur letzten Minute jeder irgendetwas in das Drama hineinintrepretieren oder sich einfach von der Atmosphäre gefangen nehmen lassen.

Gleichzeitig zeigt Franco die dunklen Seiten des Urlaubsparadieses, das seit Jahren im Verbrechen versinkt. Das heutige Acapulco hat nichts mehr mit der Stadt zu tun, in der 1979 geborene Franco als Kind seine Ferien verbrachte, und noch weniger mit dem Urlaubsparadies der sechziger Jahre für US-Amerikaner.

Tim Roth als passiver Protagonist ist fantastisch. Er redet fast nichts und er bewegt sich kaum. Es gibt auch kein erklärendes Voice-over. Und trotzdem verstehen wir, wie Neil sich fühlt.

Michel Franco schrieb das Drehbuch für ihn. Es handelt sich dabei, nach den Filmen „Chronic“ und „600 Miles“ (den er nur produzierte), um die dritte Zusammenarbeit zwischen ihnen.

Sundown – Geheimnisse in Acapulco (Sundown, Mexiko/Frankreich/Schweden 2021)

Regie: Michel Franco

Drehbuch: Michel Franco

mit Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Iazua Larios, Henry Goodman, Albertine Kotting McMillan, Samuel Bottomley

Länge: 82 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Sundown“

Metacritic über „Sundown“

Rotten Tomatoes über „Sundown“

Wikipedia über „Sundown“ (deutsch, englisch)

Und so sieht es aus, wenn Elvis Presley Acapulco besucht: