Neu im Kino/Filmkritik: „The Northman“ – kloppen und köpfen nach barbarischer Wikingerart

April 21, 2022

Ich könnte jetzt mühelos über Robert Eggers‘ neuen Film „The Northman“ ablästern. Dieses Menge an bodybuilding-gestählten strubbeligen Männern, die ständig, wilde Urlaute ausstoßend, aufeinanderprallen, sich prügeln mit Fäusten, Äxten, Schwertern und was sonst noch so gerade herumliegt, blutig die Köpfe einschlagen und dabei guttural grunzen, ist in den kommenden Monaten und wohl auch Jahren das dankbare Material für unzählige Memes. Da muss nur die DVD eingelegt werden und schwuppdiwupp hat man schon ein schönes Bild gefunden. Dass das alles mit bekannten, teils unter der Maske nicht erkennbaren Schauspielern inszeniert wurde und die Bilder in jeder Beziehung äußerst gelungen sind, erhöht da nur noch das Vergnügen am Erstellen der Memes.

Aber Robert Eggers wollte sicher nicht die Vorlage für unzählige Parodien abliefern. Schließlich inszenierte er vorher die äußerst gelungenen, sehr ernsten, sich an Erwachsene richtende Horrorfilme „The Witch“ und „Der Leuchtturm“. Sein Co-Drehbuchautor Sjón ist Romanautor, Texter für Björk (die in „The Northman“ mitspielt) und Co-Drehbuchautor von dem sanften, von isländischen Volksmärchen inspiriertem Horrorfilm „Lamb“. Von beiden ist also keine tumbe Schlachtplatte zu erwarten.

Die Story beginnt 895 nach Christus Geburt als König Aurvandil (Ethan Hawke) von einem Feldzug zurückkehrt. Kurz darauf wird er von seinem Halbbruder Fjölnir (Claes Bang) ermordet. Sein Sohn Amleth beobachtet die Tat seines Onkels. Weil er nicht ebenfalls getötet werden will, flüchtet er.

Zwanzig Jahre später kehrt Amleth (jetzt gespielt von Alexander Skarsgård), gestählt von Kämpfen (vulgo Gemetzeln) im Land der Rus, zurück. Der junge Mann will immer noch seinen Vater rächen. Dafür schleicht er sich unter falscher Identität am Hof von Fjölnir ein. Hof ist hier wörtlich zu verstehen. Fjölnir lebt in Island nicht in einer Festung, sondern in der Einsamkeit in einer willkürlichen Ansammlung von wenigen Häusern, die eher an einen Bauernhof erinnert. Bei ihm lebt Amleths Mutter Gudrún (Nicole Kidman).

Gut, den Plot kennen wir. Wer will, kann hier einige Shakespeare-Stücke einfügen und damit seine abendländische Bildung beweisen. Vor allem sollte er an „Hamlet“ denken und sich daran erinnern, dass Shakespeare sich für dieses Stück bei der Amletus-Sage bediente. Die englische Schreibweise von Amletus ist Amleth.

Aber für die Story und die damit verbundenen Themen interessiert Eggers sich kaum. Die Rachegeschichte entwickelt sich vollkommen überraschungs- und spannungsfrei in den bekannten Bahnen. Die Figuren, immerhin dauert der Film deutlich über zwei Stunden, bleiben eindimensional. Entsprechend wenig interessieren uns ihre Konflikte, die kaum bis überhaupt nicht vorhanden sind.

Die Rachegeschichte wird in langen Kampfszenen erzählt. Die Dialoge zwischen den Gemetzeln sind, wie bei einem Computerspiel, nur die knappen Anweisungen für den nächsten Kampf und die nächste Gore-Szene. Bei all dem spritzendem Blut, den abgetrennten Gliedern und herausquellenden Gedärmen fällt irgendwann auf, dass Eggers das alles ausführlich und leinwandfüllend präsentiert, aber seine Wikinger asexuell sind. Sie sind wie kleine vorpubertäre Jungs, die zwar ganze Dorfbevölkerungen abschlachten, dabei aber keine einzige Frau vergewaltigen. Auch später, wenn Amleth Olga von Birkenwald (Anya Taylor-Joy, erfolgreich bemüht um maximale Ausdruckslosigkeit) trifft, ändert sich das nicht. Liebe und Sex sind halt nichts für gestandene Wikinger. Sie vertreiben sich lieber die Zeit mit blutspritzenden Schlägereien im Matsch.

Diese äußerst brutalen Kämpfe sehen in jeder Beziehung toll aus. Ohne Schnitt bewegt die Kamera sich durch ein Dorf, das gerade geplündert wird. Auch in anderen Kampfszenen wird wenig geschnitten. Die Bilder von Eggers‘ Stammkameramann Jarin Blaschke erinnern an detailversessene Gemälde.

Aber all die Bildgewalt hilft nicht, wenn man sich für keine der Figuren interessiert. „The Northman“ ist eine fast hundertvierzigminütige Schlachtplatte mit Minimalstory.

The Northman (The Northman, USA 2022)

Regie: Robert Eggers

Drehbuch: Robert Eggers, Sjón

mit Alexander Skarsgård, Nicole Kidman, Claes Bang, Ethan Hawke, Anya Taylor-Joy, Gustav Lindh, Elliott Rose, Willem Dafoe, Björk, Oscar Novak, Kate Dickie, Ralph Ineson

Länge: 137 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Northman“

Metacritic über „The Northman“

Rotten Tomatoes über „The Northman“

Wikipedia über „The Northman“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Robert Eggers‘ „The Witch“ (The Witch: A New-England Folktale, Kanada/USA 2015)

Meine Besprechung von Robert Eggers‘ „Der Leuchtturm“ (The Lighthouse, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Lamb“ – Wir haben ein Kind.

Januar 8, 2022

Maria und Ingvar leben auf Island abgeschieden auf einem Bauernhof. Sie haben keine Kinder und auch keine Angestellten. Und weil sie schon lange zusammen leben, müssen sie nicht viel miteinander reden. Sie verstehen sich auch so. Und sie züchten Schafe.

Eines Tages gebärt eines ihrer Schafe ein wohl etwas seltsames Lamm. Denn anstatt es bei ihrer Mutter im Stall zu lassen, nehmen sie es mit in ihr Haus, nennen es Ada und behandeln es fortan wie ein menschliches Baby.

Als Ingvars halbseidener Bruder Pétur auftaucht und er Ada entsetzt anstarrt, sehen wir, ungefähr in der Filmmitte, nach fünfzig Minuten, Ada zum ersten Mal in ihrer ganzen Pracht.

Valdimar Jóhannsson schrieb das Drehbuch für sein Regiedebüt zusammen mit Sjón. Sjón ist Romanautor. Er schrieb Songs für Björk und war darüber auch in Lars von Triers „Dancer in the Dark“ involviert. Außerdem schreibt er Drehbücher. Unter anderem für Robert Eggers „The Northman“ (demnächst im Kino) und „Reykjavik Whale Watching Massacre“ (was für ein Titel!). Ihr gemeinsamer Film „Lamb“ ist von isländischen Volksmärchen inspiriert. Er erzählt, so Jóhannsson, „eine Geschichte, die sich mit der Natur der Menschen und dem Menschen in der Natur beschäftigt“.

Diese Geschichte erzählt er, indem er sich auf wenige Personen konzentriert, als Quasi-Stummfilm. Er gibt dabei keine eindeutige Interpretation vor. Er deutet verschiedene Lesarten eher an als sie auszuführen. Deshalb interessiert er sich auch nie für ein konsequentes Zuspitzen von Konflikten. Eigentlich ist die Geschichte von Maria, Ingvar und Ada sogar erstaunlich konfliktfrei. Jóhannsson lässt sich auch extrem viel Zeit beim Erzählen.

Das ist dann, je nach Standpunkt, unglaublich poetisch oder prätentiös langweilig. Mich ließ der sanfte Horrorfilm eher ratlos zurück.

P. S.: Tele 5 zeig am Sonntag, den 9. Januar 2022, um 20.15 Uhr als TV-Premiere „Angel of Mine“ (USA/Australien 2019, Regie: Kim Farrant). Ebenfalls mit Noomi Rapace in der Hauptrolle. In dem Psychothriller glaubt sie, dass die Nachbarstochter ihre vor sieben Jahre in der Klinik angeblich nach der Geburt verbrannte Tochter ist. Der Thriller soll gut sein.

Lamb (Dýrið, Island/Schweden/Polen 2021)

Regie: Valdimar Jóhannsson

Drehbuch: Sjón, Valdimar Jóhannsson

mit Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson

Länge: 106 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Lamb“

Metacritic über „Lamb“

Rotten Tomatoes über „Lamb“

Wikipedia über „Lamb“ (deutsch, englisch)