Neu im Kino/Filmkritik: „Erwartung – Der Marco-Effekt“ beschäftigt das Sonderdezernat Q

Juni 3, 2022

An der Grenze nach Dänemark wird der vierzehnjährige Marco in einem Zug festgenommen. Für Carl Mørck und seinen Kollegen Assad vom Sonderdezernat Q, das sich um alte, nicht aufgeklärte Fälle kümmert, ist das eine Festnahme, die sie interessiert. Denn der Roma-Junge hat eine Seite aus dem Reisepass des vor vier Jahren spurlos verschwundenen William Stark bei sich. Stark arbeitete im Entwicklungsministerium und Nordic-Noir-Fans können sich jetzt den Rest der Geschichte schon denken. Denn natürlich wurde Stark ermordet, um eine große Schandtat zu vertuschen, angesehene Mitglieder der Gesellschaft sind involviert und Marco weiß mehr als er wissen sollte.

Erwartung – Der Marco-Effekt“ ist die fünfte Verfilmung eines Romans aus Jussi-Adler-Olsens unglaublich erfolgreicher Sonderdezernat-Q-Serie. Es ist auch gleichzeitig die Verfilmung des fünften Romans der auf zehn Bände angelegten Serie. Bis jetzt sind neun Romane erschienen. In den ersten Filmen spielte Nikolaj Lie Kaas Carl Mørck und Fares Fares seinen Kollegen Assad. Mørck wurde in Kopenhagen in das für ihn gegründete Sonderdezernat Q, das sich um Cold Cases kümmern soll, abgeschoben. Irgendeine Stelle muss der Miesepeter, der mit Menschen nicht umgehen kann, halt haben. Er ist ein wahrer Stinkstiefel und ein begnadeter Ermittler. Jedenfalls wird das uns in den Büchern und Filmen immer wieder gesagt. Tatsächlich verhält er sich normalerweise vollkommen unprofessionell, geht intuitiv vor und verärgert grundlos alle möglichen Leute. Der echte Ermittler ist Assad.

Nach vier Filmen, von denen der letzte Krimi „Verachtung“ (Journal 64, Dänemark/Deutschland 2018) überraschend gelungen war, ist jetzt ein umfassender Neustart geplant. Es gibt neue Drehbuchautoren, einen neuen Regisseur und auch die Hauptrollen wurden von anderen Schauspielern übernommen. Carl Mørck wird von Ulrich Thomsen, Assad von Zaki Youssef gespielt. Damit standen alle Zeichen auf Veränderung in einer bislang durchwachsenen, eher wenig überzeugenden Nordic-Noir-Krimireihe.

Erfreulich ist, dass der grundsätzlich depressive Carl Mørck hier endlich einmal etwas professioneller ermittelt und sich etwas normaler verhält. Die Betonung liegt auf ‚etwas‘. Die zielgerichtete Ermittlungsarbeit erledigt immer noch Assad. Verhöre und eigentlich alle Gespräche mit anderen Menschen sollten grundsätzlich von ihm geführt werden. Mørck behindert ihn dabei eher.

Erfreulich ist auch, dass das Privatleben der Ermittler hier nicht vorkommt. Es ist meisten für den Fall vollkommen uninteressant und lenkt daher nur von dem Fall ab.

Und das war es auch schon mit den erfreulichen Meldungen. Die Romangeschichte wurde, wie bisher, für die Verfilmung umfassend bearbeitet und damit verbessert. Das ändert nichts daran, dass die Geschichte absolut vorhersehbar ist. Die Inszenierung mit der Handkamera und den Nahaufnahmen ist ebenfalls anders als bei den vorherigen Filmen. Sie zielt eindeutig auf den TV-Bildschirm und genauso wirkt dann auch der ganze Film.

Insgesamt ist „Erwartung – Der Marco-Effekt“ ein überflüssiger Thriller; – sagt ein bekennender Nicht-Jussi-Adler-Olsen-Fan.

Erwartung – Der Marco-Effekt (Marco Effekten, Deutschland/Dänemark/Tschechien 2021)

Regie: Martin Zandvliet

Drehbuch: Anders Frithiof August, Thomas Porsager (Co-Autor), Martin Zandvliet (Co-Autor)

LV: Jussi Adler-Olsen: Marco Effekten, 2012 (Erwartung)

mit Ulrich Thomsen, Zaki Youssef, Sofie Torp, Henrik Noèl Olesen, Anders Matthesen, Lisa Carlehed, Caspar Phillipson

Länge: 125 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage, zum Filmstart mit neuem Cover

Jussi-Adler-Olsen: Erwartung

(aus dem Dänischen von Hannes Thiess)

dtv, 2022

576 Seiten

11,95 Euro

Deutsche Erstausgabe

dtv, 2013

Originalausgabe

Marco Effekten

Politikens Forlag, 2012

Hinweise

Filmportal über „Erwartung – Der Marco-Effekt“

Moviepilot über „Erwartung – Der Marco-Effekt“

Wikipedia über „Erwartung – Der Marco-Effekt“ und über Jussi Adler-Olsen

Dänische Homepage von Jussi Adler-Olsen

Deutsche Homepage von Jussi Adler-Olsen

Krimi-Couch über Jussi Adler-Olsen

Meine Besprechung von Jussi Adler-Olsens „Erbarmen“ (Kvinden i buret, 2008)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards Jussi Adler-Olsen-Verfilmung „Erbarmen“ (Kvinden i buret, Dänemark/Deutschland/Schweden 2013)und der DVD

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards Jussi-Adler-Olsen-Verfilmung „Schändung – Die Fasanentöter“ (Fasandræberne, Dänemark/Deutschland/Schweden 2014) (Film- und Buchbesprechung) und der DVD

Meine Besprechung von Hans Petter Molands Jussi-Adler-Olsen-Verfilmung „Erlösung“ (Flaskepost fra P, Dänemark/Deutschland/Schweden/Norwegen 2016)

Meine Besprechung von Christoffer Boes Jussi-Adler-Olsen-Verfilmung „Verachtung“ (Journal 64, Dänemark/Deutschland 2018) (Film- und Buchbesprechung)

Meine Besprechung von Martin Zandvliets „Unter dem Sand – Das Versprechen der Freiheit“ (Under sandet, Deutschland/Dänemark 2015)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Verachtung“ in der vierten Runde

Juni 20, 2019

Wer hätte das gedacht? Nachdem die ersten drei Jussi-Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“, „Schändung“ und „Erlösung“ massive Probleme hatten, machen die Macher bei der vierten Verfilmung alles richtig. Jedenfalls wenn man auf skandinavische Krimis steht und sich nicht an den oft elaborierten Plänen der Bösewichter und den Logiklöchern stört. Dass für die Verfilmung der Plot des Romans für den Film stark verändert wurde, kennen die Adler-Olsen-Fans von den vorherigen Sonderdezernat-Q-Verfilmungen.

Carl Mørck und sein Kollege Assad vom Sonderdezernat Q, der in den Keller verbannten Cold-Case-Abteilung der Polizei von Kopenhagen, stehen im Film „Verachtung“ vor einem wahrlich bizarren Rätsel. Als die Mietwohnung von Gitte Charles von Handwerkern aufgebrochen wird, entdecken sie eine luftdicht abgeschlossene Kammer. In dieser Kammer sitzen drei mumifizierte Menschen an einem Tisch. Ein Platz ist noch frei und die Mieterin der Wohnung, die seit zwölf Jahren pünktlich die Miete zahlt, ist verschwunden.

Durch die Rückblenden und den Subplot mit Dr. Curt Wad und der von ihm angeführten rechtsradikalen Partei kann man sich in Christoffer Boes Thriller schnell zusammenreimen, wie alles miteinander zusammenhängt. Entsprechend uninteressant ist für uns Zuschauer die Frage, wer der Mörder ist.

Im Roman wird das Zimmer mit den fünf Leichen erst kurz vor dem Finale entdeckt und geöffnet. Hier beginnen die Ermittlungen, weil Mørck und Assad sich wieder den Fall der 1987 spurlos verschwundenen ‚erotischen Tänzerin‘ Rita Nielsen vornehmen. Aufgrund der Umstände ihres Verschwindens glauben sie die offizielle These, dass sie sich selbst umbrachte, nicht. Als die Ermittler nach weiteren nicht gelösten Vermisstenfällen suchen, entdecken sie mehrere ähnlich gelagerte Fälle aus dem Jahr 1987. Sie fragen sich, ob es einen Zusammenhang gibt. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie ebenfalls auf Dr. Wad und die Mietwohnung, die im Film von Gitte Charles, im Roman von Nete Rosen, geborene Hermansen, seit Jahren pünktlich bezahlt wird.

Weil Jussi Alder-Olsen den Roman auf zwei bis drei Zeitebenen (der Roman spielt 2010 und 1987, wo die Täterin sich an ihre Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren erinnert) spielen lässt, gibt es hier für den Leser ebenfalls keine großen Überraschungen. Der Roman zerfällt letztendlich in eine 1987 spielende Rachegeschichte und einen 2010 spielenden Ermittlerkrimi.

Der Film legt dagegen den Schwerpunkt auf den Thrillerplot, in dem Mørck und Assad gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner kämpfen müssen. Damit entwickelt sich die sinnvoll entwickelte Geschichte, mit deutlichen Unterschieden zur Romangeschichte, spannend auf die finale Konfrontation(en) zwischen Mørck, Assad, Gitte Charles/Nete Hermansen (der Mieterin der Wohnung mit dem Todeszimmer) und Dr. Wad und seiner Organisation.

Außerdem gibt es im Film zwei wichtige, im Buch nicht enthaltene Subplots. In dem einen kümmert sich Assad um eine junge, schwangere Nichte. Weil ihr Vater davon nichts erfahren soll, geht sie zu dem renommierten Abtreibungsarzt Dr. Wad, der immer noch die Gesellschaft vor lebensunwertem Leben beschützen will.

Gleichzeitig will Assad aufgrund einer Beförderung das Team verlassen. Mørck, der immer behauptet, es sei ihm egal, ist nicht damit einverstanden. Aber er sagt es nicht.

Trotzdem, und das ist die schon seit dem ersten Film überfällige Veränderung, arbeiten sie, wozu auch ihre Assistentin Rose gehört, zusammen und sie werden erstmals als sich ergänzendes und sich vertrauendes Team gezeigt. Außerdem ist Mørck nicht mehr, wie in den vorherigen Filmen (und auch noch im Buch) der blindgeleitete Sturkopf, der ohne irgendwelche Beweise Spuren verfolgt, ständig Grundlagen des Ermittlerhandwerks ignoriert und alle beleidigt. Er war bis jetzt das unaufmerksame Kind, das man mit einem Gameboy in die Ecke setzt, damit die Erwachsenen ihre Arbeit tun können. In „Verachtung“ arbeitet er endlich mit. Er ist Teil des Teams.

Das Thema des Films ist historisch verbürgt, erschreckend, immer noch aktuell und wird als Mordmotiv im Trailer noch deutlicher verraten als im Klappentext des Buches.

Von 1923 bis 1961 wurden auf der Insel Sprogø Frauen gebracht, die mit dem Gesetz oder den damaligen Moralvorstellungen in Konflikt gerieten oder für debil erklärt wurden. Dort wurden sie drangsaliert und sterilisiert. Diese Sterilisationen geschahen aufgrund damals gültiger Gesetze zur Rassenhygiene und Eugenik. In Dänemark waren für diese Gesetze und ihre Durchführung sozialdemokratische Regierungen verantwortlich.

Zwischen 1929 und 1967 wurden in Dänemark etwa elftausend Personen, vor allem Frauen, sterilisiert. Etwa die Hälfte der Fälle waren Zwangssterilisationen. In „Verachtung“ führt Dr. Wad, ein glühender Anhänger der Rassenlehre, diese Sterilisationen ohne das Einverständnis der Frauen durch.

So ist der Thriller eine willkommene Ergänzung im Feld der skandinavischen Kriminalfilme und die bislang beste Adler-Olsen-Verfilmung. All die von den Drehbuchautoren Nikolaj Arcel, Drehbuchautor der vorherigen Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“, Schändung“ und „Erlösung“, Mikkel Nørgaard, Regisseur der Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“ und „Schändung“, und Bo Erhard Hansen gemachten Änderungen stärken die Geschichte, ohne sie zu verraten. Im Rahmen eines konventionellen Thrillerplots wird sogar Adler-Olsens Anklage gegen die staatlich verordneten Zwangssterilisationen und sein Hinweis auf das Fortbestehen rassistischen Denkens deutlicher.

Der Roman selbst ist ein langweiliges Desaster. Über viele Seiten herrscht immer wieder Stillstand. Überraschende Wendungen gibt es nicht. Und auch sonst fehlt „Verachtung“ alles, was man von einem Thriller erwartet. Naja, eigentlich erwartet man von einem Thriller nur diese atemlose Spannung, die einen immer weiter lesen lässt, auch wenn langsam die Sonne aufgeht.

Inzwischen ist mit „Marco effekten“ für 2020 eine fünfte Sonderdezernat-Q-Verfilmung angekündigt. Dann allerdings mit Ulrich Thomsen und Zaki Youssef als Carl Mørck und Assad.

Verachtung (Journal 64, Dänemark/Deutschland 2018)

Regie: Christoffer Boe

Drehbuch: Nikolaj Arcel, Bo Erhard Hansen, Mikkel Nørgaard

LV: Jussi Adler-Olsen: Journal 64, 2010 (Verachtung)

mit Nikolaj Lie Kaas, Fares Fares, Johanne Louise Schmidt, Søren Pilmark, Fanny Leander Bornedal, Clara Rosager, Luise Skov, Amanda Radeljak, Anders Hove, Nicolas Bro, Elliott Crosset Hove, Birthe Neumann, Anders Juul, Michael Brostrup, Marianne Høgsbro

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

(zum Filmstart mit neuem Cover)

Jussi Adler-Olsen: Verachtung

(übersetzt von Hannes Thiess)

dtv, 2019 (Filmausgabe)

544 Seiten

10,95 Euro

Deutsche Erstausgabe (als Gebundene Ausgabe)

dtv, 2012

Originalausgabe

Journal 64

Politikens Forlagshus A/S, Kopenhagen, 2010

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Moviepilot über „Verachtung“

Rotten Tomatoes über „Verachtung“

Wikipedia über den Roman „Verachtung“

Dänische Homepage von Jussi Adler-Olsen

Deutsche Homepage von Jussi Adler-Olsen

Krimi-Couch über Jussi Adler-Olsen

Wikipedia über Jussi Adler-Olsen

Meine Besprechung von Jussi Adler-Olsens „Erbarmen“ (Kvinden i buret, 2008)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards „Erbarmen“ (Kvinden i buret, Dänemark/Deutschland/Schweden 2013)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards „Erbarmen“ (Kvinden i buret, Dänemark/Deutschland/Schweden 2013) (DVD)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards Jussi-Adler-Olsen-Verfilmung „Schändung – Die Fasanentöter“ (Fasandræberne, Dänemark/Deutschland/Schweden 2014) und der DVD

Meine Besprechung von Hans Petter Molands „Erlösung“ (Flaskepost fra P, Dänemark/Deutschland/Schweden/Norwegen 2016)