Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Verachtung“ in der vierten Runde

Juni 20, 2019

Wer hätte das gedacht? Nachdem die ersten drei Jussi-Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“, „Schändung“ und „Erlösung“ massive Probleme hatten, machen die Macher bei der vierten Verfilmung alles richtig. Jedenfalls wenn man auf skandinavische Krimis steht und sich nicht an den oft elaborierten Plänen der Bösewichter und den Logiklöchern stört. Dass für die Verfilmung der Plot des Romans für den Film stark verändert wurde, kennen die Adler-Olsen-Fans von den vorherigen Sonderdezernat-Q-Verfilmungen.

Carl Mørck und sein Kollege Assad vom Sonderdezernat Q, der in den Keller verbannten Cold-Case-Abteilung der Polizei von Kopenhagen, stehen im Film „Verachtung“ vor einem wahrlich bizarren Rätsel. Als die Mietwohnung von Gitte Charles von Handwerkern aufgebrochen wird, entdecken sie eine luftdicht abgeschlossene Kammer. In dieser Kammer sitzen drei mumifizierte Menschen an einem Tisch. Ein Platz ist noch frei und die Mieterin der Wohnung, die seit zwölf Jahren pünktlich die Miete zahlt, ist verschwunden.

Durch die Rückblenden und den Subplot mit Dr. Curt Wad und der von ihm angeführten rechtsradikalen Partei kann man sich in Christoffer Boes Thriller schnell zusammenreimen, wie alles miteinander zusammenhängt. Entsprechend uninteressant ist für uns Zuschauer die Frage, wer der Mörder ist.

Im Roman wird das Zimmer mit den fünf Leichen erst kurz vor dem Finale entdeckt und geöffnet. Hier beginnen die Ermittlungen, weil Mørck und Assad sich wieder den Fall der 1987 spurlos verschwundenen ‚erotischen Tänzerin‘ Rita Nielsen vornehmen. Aufgrund der Umstände ihres Verschwindens glauben sie die offizielle These, dass sie sich selbst umbrachte, nicht. Als die Ermittler nach weiteren nicht gelösten Vermisstenfällen suchen, entdecken sie mehrere ähnlich gelagerte Fälle aus dem Jahr 1987. Sie fragen sich, ob es einen Zusammenhang gibt. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie ebenfalls auf Dr. Wad und die Mietwohnung, die im Film von Gitte Charles, im Roman von Nete Rosen, geborene Hermansen, seit Jahren pünktlich bezahlt wird.

Weil Jussi Alder-Olsen den Roman auf zwei bis drei Zeitebenen (der Roman spielt 2010 und 1987, wo die Täterin sich an ihre Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren erinnert) spielen lässt, gibt es hier für den Leser ebenfalls keine großen Überraschungen. Der Roman zerfällt letztendlich in eine 1987 spielende Rachegeschichte und einen 2010 spielenden Ermittlerkrimi.

Der Film legt dagegen den Schwerpunkt auf den Thrillerplot, in dem Mørck und Assad gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner kämpfen müssen. Damit entwickelt sich die sinnvoll entwickelte Geschichte, mit deutlichen Unterschieden zur Romangeschichte, spannend auf die finale Konfrontation(en) zwischen Mørck, Assad, Gitte Charles/Nete Hermansen (der Mieterin der Wohnung mit dem Todeszimmer) und Dr. Wad und seiner Organisation.

Außerdem gibt es im Film zwei wichtige, im Buch nicht enthaltene Subplots. In dem einen kümmert sich Assad um eine junge, schwangere Nichte. Weil ihr Vater davon nichts erfahren soll, geht sie zu dem renommierten Abtreibungsarzt Dr. Wad, der immer noch die Gesellschaft vor lebensunwertem Leben beschützen will.

Gleichzeitig will Assad aufgrund einer Beförderung das Team verlassen. Mørck, der immer behauptet, es sei ihm egal, ist nicht damit einverstanden. Aber er sagt es nicht.

Trotzdem, und das ist die schon seit dem ersten Film überfällige Veränderung, arbeiten sie, wozu auch ihre Assistentin Rose gehört, zusammen und sie werden erstmals als sich ergänzendes und sich vertrauendes Team gezeigt. Außerdem ist Mørck nicht mehr, wie in den vorherigen Filmen (und auch noch im Buch) der blindgeleitete Sturkopf, der ohne irgendwelche Beweise Spuren verfolgt, ständig Grundlagen des Ermittlerhandwerks ignoriert und alle beleidigt. Er war bis jetzt das unaufmerksame Kind, das man mit einem Gameboy in die Ecke setzt, damit die Erwachsenen ihre Arbeit tun können. In „Verachtung“ arbeitet er endlich mit. Er ist Teil des Teams.

Das Thema des Films ist historisch verbürgt, erschreckend, immer noch aktuell und wird als Mordmotiv im Trailer noch deutlicher verraten als im Klappentext des Buches.

Von 1923 bis 1961 wurden auf der Insel Sprogø Frauen gebracht, die mit dem Gesetz oder den damaligen Moralvorstellungen in Konflikt gerieten oder für debil erklärt wurden. Dort wurden sie drangsaliert und sterilisiert. Diese Sterilisationen geschahen aufgrund damals gültiger Gesetze zur Rassenhygiene und Eugenik. In Dänemark waren für diese Gesetze und ihre Durchführung sozialdemokratische Regierungen verantwortlich.

Zwischen 1929 und 1967 wurden in Dänemark etwa elftausend Personen, vor allem Frauen, sterilisiert. Etwa die Hälfte der Fälle waren Zwangssterilisationen. In „Verachtung“ führt Dr. Wad, ein glühender Anhänger der Rassenlehre, diese Sterilisationen ohne das Einverständnis der Frauen durch.

So ist der Thriller eine willkommene Ergänzung im Feld der skandinavischen Kriminalfilme und die bislang beste Adler-Olsen-Verfilmung. All die von den Drehbuchautoren Nikolaj Arcel, Drehbuchautor der vorherigen Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“, Schändung“ und „Erlösung“, Mikkel Nørgaard, Regisseur der Adler-Olsen-Verfilmungen „Erbarmen“ und „Schändung“, und Bo Erhard Hansen gemachten Änderungen stärken die Geschichte, ohne sie zu verraten. Im Rahmen eines konventionellen Thrillerplots wird sogar Adler-Olsens Anklage gegen die staatlich verordneten Zwangssterilisationen und sein Hinweis auf das Fortbestehen rassistischen Denkens deutlicher.

Der Roman selbst ist ein langweiliges Desaster. Über viele Seiten herrscht immer wieder Stillstand. Überraschende Wendungen gibt es nicht. Und auch sonst fehlt „Verachtung“ alles, was man von einem Thriller erwartet. Naja, eigentlich erwartet man von einem Thriller nur diese atemlose Spannung, die einen immer weiter lesen lässt, auch wenn langsam die Sonne aufgeht.

Inzwischen ist mit „Marco effekten“ für 2020 eine fünfte Sonderdezernat-Q-Verfilmung angekündigt. Dann allerdings mit Ulrich Thomsen und Zaki Youssef als Carl Mørck und Assad.

Verachtung (Journal 64, Dänemark/Deutschland 2018)

Regie: Christoffer Boe

Drehbuch: Nikolaj Arcel, Bo Erhard Hansen, Mikkel Nørgaard

LV: Jussi Adler-Olsen: Journal 64, 2010 (Verachtung)

mit Nikolaj Lie Kaas, Fares Fares, Johanne Louise Schmidt, Søren Pilmark, Fanny Leander Bornedal, Clara Rosager, Luise Skov, Amanda Radeljak, Anders Hove, Nicolas Bro, Elliott Crosset Hove, Birthe Neumann, Anders Juul, Michael Brostrup, Marianne Høgsbro

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

(zum Filmstart mit neuem Cover)

Jussi Adler-Olsen: Verachtung

(übersetzt von Hannes Thiess)

dtv, 2019 (Filmausgabe)

544 Seiten

10,95 Euro

Deutsche Erstausgabe (als Gebundene Ausgabe)

dtv, 2012

Originalausgabe

Journal 64

Politikens Forlagshus A/S, Kopenhagen, 2010

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Moviepilot über „Verachtung“

Rotten Tomatoes über „Verachtung“

Wikipedia über den Roman „Verachtung“

Dänische Homepage von Jussi Adler-Olsen

Deutsche Homepage von Jussi Adler-Olsen

Krimi-Couch über Jussi Adler-Olsen

Wikipedia über Jussi Adler-Olsen

Meine Besprechung von Jussi Adler-Olsens „Erbarmen“ (Kvinden i buret, 2008)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards „Erbarmen“ (Kvinden i buret, Dänemark/Deutschland/Schweden 2013)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards „Erbarmen“ (Kvinden i buret, Dänemark/Deutschland/Schweden 2013) (DVD)

Meine Besprechung von Mikkel Nørgaards Jussi-Adler-Olsen-Verfilmung „Schändung – Die Fasanentöter“ (Fasandræberne, Dänemark/Deutschland/Schweden 2014) und der DVD

Meine Besprechung von Hans Petter Molands „Erlösung“ (Flaskepost fra P, Dänemark/Deutschland/Schweden/Norwegen 2016)


Neu im Kino/Filmkritik: „Small Town Killers“ vor mörderischen Problemen

Juli 6, 2017

Beruflich läuft es für Edward und Ib gut. Auch weil sie als Handwerker am liebsten schwarz arbeiten.

Privat läuft es bei ihnen nicht so gut. Ihre Ehefrauen Ingrid und Gritt flirten lieber mit dem Tanzlehrer als ihren ehelichen Pflichten nachzukommen.

Etwas muss sich ändern, denken sich die beiden frustrierten Männer, die nicht gerade übermäßig intelligent sind. Eine Scheidung ist für sie keine Option. Denn dann müssten sie ihr schwer verdientes Schwarzgeld mit ihren Frauen teilen und das wäre dann doch zu teuer. Aber ein Profikiller könnte das Problem lösen. Betrunken organisiert Edward einen aus dem Osten kommenden Killer. Igor heißt er und er ist trinkfreudig, wie man es von einem Russen erwartet.

Schon bevor er zur Tat schreiten kann, plagt die beiden Auftraggeber das schlechte Gewissen. Immerhin haben sie ja nichts gegen ihre Frauen und den Tod haben sie auch nicht verdient. Daher würden sie den Doppelmord-Auftrag gerne abbrechen. Bevor es dazu kommt, erzählt Igor Ingrid und Gritt unwissentlich, dass er sie umbringen soll.

Nach einer Schrecksekunde beauftragen sie Miss Nippleworthy, ihre beiden Männer umzubringen. Miss Nippleworthy kommt, wie man bei ihrem Namen ahnt, aus England ins dänische Nibe. Sie sieht wie eine Schwester von Miss Marple aus und am liebsten bringt sie Menschen mit einer Portion Gift um.

Ole Bornedal erzählt seine schwarze Komödie „Small Town Killers“ im gemächlichen Rhythmus des ländlichen Lebens. Man kennt sich schon seit Ewigkeiten. Man hat sich in seinem Leben eingerichtet, bis dann eine ungute Mischung aus Langeweile, sexueller Frustration, Tagträumereien und einer Schnapsidee ein tödliches Karussell in Gang setzt. Denn die beiden Killer wollen ihren Auftrag ausführen. Dass sie dafür vielleicht noch ein, zwei Leute, die sie bei ihrer Arbeit behindern, umbringen müssen, stört sie nicht. Die Auftraggeber schon. Sie beginnen auch über ihr Leben nachzudenken.

So entsteht in neunzig Minuten ein kleines Sittengemälde, das nie mehr als eine kleine Skizze sein will. Und genau in diesem bescheidenem Anspruch gefällt die Kleinstadtfarce mit ihren absehbaren Entwicklungen.

Small Town Killers (Dræberne fra Nibe, Dänemark 2016)

Regie: Ole Bornedal

Drehbuch: Ole Bornedal

mit Nicolas Bro, Ulrich Thomsen, Mia Lyhne, Lene Maria Christensen, Marcin Dorocinski, Gwen Taylor, Søren Malling, Birthe Neumann, Ole Thestrup

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Moviepilot über „Small Town Killers“