Georg Seidler will aus Europa nach Mexiko flüchten. In Marseille wartet er auf das rettende Transitvisum und trifft auf die Frau des Mannes, dessen Identität er angenommen hat.
Christian Petzold verlegt Anna Seghers während des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman in die Gegenwart. Mit einem sehr überzeugendem Ergebnis.
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
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Die lesenswerte Vorlage
ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, u. a.
Anna Seghers: Transit
Aufbau Taschenbuch, 2018
416 Seiten
12 Euro
–
Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
Drei Jahre nach dem Fall der Mauer sollen zwei Polizisten – ein Ossi und ein Wessi – in einer kleinen Gemeinde im östllichen Mecklenburg-Vorpommern zwei spurlos verschwundene Teenager-Schwestern finden. Bei ihren Ermittlungen erfahren sie, dass in den vergangenen Jahren mehrere Mädchen spurlos verschwanden.
Christian Alvarts in Ostdeutschland spielendes Eins-zu-eins-Remake von „Mörderland – La Isla Mínima“ (La Isla Mínima, Spanien 2014). Dabei ist Ostdeutschland nach dem Ende der DDR ein nie überzeugender Ersatz für das Post-Franco-Spanien. Da wäre mehr drin gewesen als ein durchschnittlicher, zu lang geratener Thriller.
Besser das kürzere, buntere und in seiner Gesellschaftsanalyse überzeugendere Original ansehen.
mit Felix Kramer, Trystan Pütter, Nora Waldstätten, Ben Hartmann, Ludwig Simon, Uwe Dag Berlin, Leonard Kunz, Michael Specht, Marc Limpach, Alva Schäfer, Nurit Hirschfeld, Alexander Radszun, Marius Marx
Die erste Verfilmung entstand 1954, einundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Vorlage. Schon damals verlegte der Drehbuchautor die Geschichte in die Gegenwart. 1973 und 2002 folgten die nächsten Verfilmungen, die Erich Kästners bekanntes Kinderbuch wieder mehr oder weniger gelungen modernisierten. Und jetzt gibt es die vierte Verfilmung, die sich erstaunlich unglücklich zwischen die Stühle setzt. Für Erwachsene ist das Ergebnis entsprechend ungenießbar. Kinder sehen das vielleicht anders.
Dabei inszenierte Regisseurin Carolina Hellsgård mit ihren vorherigen Filmen „Endzeit“ und „Sunburned“ zwei insgesamt sehenswerte Filme, die die Hoffnung auf eine interessante Neuinterpretation weckten. In beiden Filmen stehen junge Frauen, einmal ein Teenager, einmal zwei Mittzwanzigerinnen, im Mittelpunkt. Das Drehbuch ist von Gerrit Hermans. Er schrieb „Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft“, „Tabaluga – Der Film“ und „Vier zauberhafte Schwestern“. Tom Schilling, Trystan Pütter, Hannah Herzspurng und, in einer Minirolle, Jördis Triebel spielen mit.
Aber es nutzt nichts, dieses fliegende Klassenzimmer hebt nie ab. Und wer daran Schuld ist, ist natürlich offensichtlich: die Macher des Films.
Als ich allerdings Kästners Kinderbuch wieder las (ich hatte es schon einmal als Kind gelesen) und mir – endlich – die hochgelobte erste Verfilmung des „fliegenden Klassenzimmers“ (die jetzt wieder im Kino läuft) ansah, bemerkte ich, dass viele der Probleme der aktuellen Verfilmung schon im Buch und der ersten Verfilmung vorhanden sind. Für diese schrieb Kästner das Drehbuch. Am Anfang und Ende des Films hat er, wie im Buch, als Erzähler einen durchaus längeren Auftritt. Im allgemeinen wird diese Verfilmung als die originalgetreueste Verfilmung bezeichnet. Und sie ist auch sehr nah am Buch, das eine kurz vor Weihnachten spielende Abfolge von Episoden ist.
In Hellsgårds Remake steht die 13-jährige Martina (Martin in Kästners Buch) im Mittelpunkt der Geschichte. Sie lebt in Berlin in einer Hochhaussiedlung in ärmlichen Verhältnissen. Als sie zur Prüfung für ein Stipendium am begehrten Südtiroler Johann-Sigismund-Gymnasium zugelassen wird, ist sie begeistert. Für die Prüfung muss sie nach Kirchberg fahren und im Sommer einige Wochen im Internat verbringen.
In dem, bis auf einen kleinen Skatepark und einige akkurate Graffitis, aus der Zeit gefallenem, beschaulichen Dorf herrscht seit Ewigkeit ein erbitterter Krieg zwischen den Externen und den Internen. Die Externen sind die im Dorf lebenden Schüler. Die Internen sind die in der „Schülerkaserne“ (Kästner) lebenden Schüler. Den Grund für die Feindschaft kennt niemand mehr, aber das hindert die Kinder nicht daran, die Feindschaft zwischen den Internen und den Externen zu pflegen. Deshalb wird Martina, wenige Minuten nachdem sie ihre neuen ‚internen‘ Schulfreunde kennen gelernt hat, von einigen Externen durch das Dorf gejagt.
Dieser Krieg zwischen den beiden Gruppen führt, wie im Roman, zur Entführung eines Klassenkameraden der Internen. Während seiner Befreiung kommt es zu einer großen Schlägerei zwischen den Internen und den Externen. Im Roman im Schnee und mit einer Schneeballschlacht. Im Film am See mit Plantschen im See. Es gibt auch die Mutprobe von Uli, der nicht mehr für eine Feigling gehalten werden will. Beide Male endet sie im Krankenhaus. Es gibt die Proben für das von den Schülern inszenierte Theaterstück „Das fliegende Klassenzimmer“. Am Ende des Films sehen wir das Stück. Es gibt selbstverständlich den legendären „Nichtraucher“, der in einem stillgelegtem Eisenbahnwagon lebt, viel liest, musiziert und raucht.
Dass jetzt Jungen und Mädchen gemeinsam die Schule besuchen und dass die Geschichte von den Vorweihnachtstagen in den Sommer verlegt ist kein Problem. Auch Kästners Botschaft, die am Ende des Films vom „Nichtraucher“, dem Erzählers des Films, nochmal erklärt wird, ist immer noch richtig. Aber auch etwas von der Realität überholt. Vor neunzig Jahren war sie revolutionär. Bei ihm sind die Schüler (es ist ein reines Jungeninternat) eigenständige Menschen, die in der Schule von ihren Lehrern auch so wahrgenommen werden. Sie haben viel freie Zeit, die sie unbehelligt von den Lehrern und schulischen Pflichten außerhalb des Internats verbringen können. Die Lehrer wollen sie auf ihr künftiges Leben vorbereiten. Sie erklären ihnen alles. Sie wollen sie mit besseren Argumenten und Geschichten überzeugen. Das war damals ein utopischer Gegenentwurf zum Kasernenhofton, dem Kadavergehorsam und der Prügelstrafe. In „Das fliegende Klassenzimmer“ verprügeln sich die Schüler untereinander. Heute ist das, was bei Kästner eine Utopie ist, in der Schule schon seit Jahrzehnten gelebte Realität.
Die Schauspieler überzeugen nicht. Teils müssen sie mit papiernen Dialogen kämpfen. Tom Schilling ist als sich streng gebenden Internatsleiter Justus Bökh eine glatte Fehlbesetzung. Er wirkt immer zu jung für den Posten, den er hat, und es gelingt ihm nie, die richtige Balance zwischen strengen Auftritten und gutmütig-vertrauensvollen Gesprächen mit den Internen, vor allem mit Martina und ihren neuen Freunden, zu finden.
Auch seine Beziehung zum „Nichtraucher“ wirkt mit einem behaupteten Konflikt künstlich. Bei Kästner ist das anders. Da gibt es keinen Konflikt zwischen den beiden Jugendfreunden. Da meint Justus Bökh, nachdem er von seinen Schülern zum „Nichtraucher“ geführt wurde, nur „Alter Junge! Dass ich dich endlich wiederhabe!“ und sie beginnen einträchtig in Erinnerungen zu schwelgen.
Carolina Hellsgård inszeniert das episodische Drehbuch ohne ein Gefühl für die Welt der auf das Johann-Sigismund-Gymnasium gehenden Schüler. Bei Kästner waren die Schüler liebenswerte Bengel. Bei Hellsgård sind sie alles und nichts, auf dem Weg zu einem Fotoshooting.
Im aktuellen „Fliegenden Klassenzimmer“ wird zu viel aus Kästners neunzig Jahre altem und damit, notgedrungen, teilweise veraltetem Buch bruchlos übernommen, und viel zu wenig konsequent der Gegenwart angepasst. Das endet in einem Fantasieland, in dem die Einrichtung des Internats aus den Siebzigern kommt und der Eisenbahnwaggon, in dem „Nichtraucher“ lebt, von außen ein richtig alter, enger Eisenbahnwagen, von innen ein viel größerer, ungefähr quadratischer Raum mit viel Platz für viel Zeug ist.
Das fliegende Klassenzimmer (Deutschland 2023)
Regie: Carolina Hellsgård
Drehbuch: Gerrit Hermans
LV: Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer, 1933
mit Tom Schilling, Trystan Pütter, Hannah Herzsprung, Jördis Triebel, Leni Deschner, Lovena Börschmann Ziegler, Morten Völlger, Wanja Kube, Franka Roche, Holly Schiek, Leander Schumann, Aaron Sansi, Paul Sundheim, Gabriel Salhab, David Bredin, Anna Ewelina
Länge: 89 Minuten
FSK: ab 0 Jahre
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Die Vorlage (aktuell mit Filmcover und 16 Seiten Filmbilder; – so liebe ich Filmausgaben)
Auch dieser Film von Dominik Graf ist aus vielen Gründen nicht wirklich als Vorbereitung für seinen neuen Kinofilm „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (mit Tom Schilling, Albrecht Schuch und Saskia Rosendahl) geeignet. Seine überzeugende und selbstverständlich sehenswerte Erich-Kästner-Verfilmung läuft am 5. August 2021 an.
ARD, 20.15
Hanne (Deutschland 2019)
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Beate Langmaack
Die frisch pensionierte Chefsekretärin Hanne Dührsen erfährt, dass sie vielleicht Leukämie hat. Während sie über das Wochenende auf die Diagnose warten muss, stürzt sie sich in das Nachtleben.
Berührendes Drama über eine Frau, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, das Leben genießt.Dafür gab es drei Grimme-Preise (Regie, Drehbuch, Hauptrolle).
mit Iris Berben, Petra Kleinert, Herbert Knaup, Trystan Pütter, Sophie Lutz, Mohamed Achour, Sönke Möhring
Georg Seidler will aus Europa nach Mexiko flüchten. In Marseille wartet er auf das rettende Transitvisum und trifft auf die Frau des Mannes, dessen Identität er angenommen hat.
TV-Premiere. Christian Petzold verlegt Anna Seghers während des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman in die Gegenwart. Mit einem sehr überzeugendem Ergebnis.
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
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Die lesenswerte Vorlage
ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, u. a.
Anna Seghers: Transit
Aufbau Taschenbuch, 2018
416 Seiten
12 Euro
–
Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
Seit einigen Tagen kann Christian Petzolds neuer Film „Undine“ online bei den einschlägigen Plattformen gekauft werden. Am 19. November veröffentlicht Piffl Medien/good!movies den Film als Stream, DVD- und Blu-ray.
Ostdeutschland, 1992: Die beiden Kriminalpolizisten Patrick Stein (Trystan Pütter) und Markus Bach (Felix Kramer) suchen zwei spurlos verschwundene, an der Schwelle zum Erwachsensein stehenden Schwestern. Sind sie nur von zu Hause abgehauen oder wurden sie ermordet?
Stein ist jung, offensichtlich ein Paragraphenreiter, kommt aus dem Westen und telefoniert ständig mit seiner hochschwangeren Frau, die von seinem Einsatz im Osten nicht begeistert ist. Auch er möchte so schnell wie möglich wieder zurück in seine Heimat.
Bach war schon in der DDR Ermittler. Seine Methoden und sein Verhalten scheinen direkt aus dem Hollywood-Drehbuch für den Hardboiled-Detective der alten Schule zu stammen: saufen, vögeln, Verdächtige einschüchtern und schlagen – und vielleicht auch noch Beweise manipulieren. Bei ihren Ermittlungen in der einsamen ostdeutschen Marschlandschaft entdecken die beiden gegensätzlichen Polizisten schnell, dass schon zu DDR-Zeiten Mädchen aus dem Dorf spurlos verschwanden.
In dem Moment wird aus dem Thriller eine Gesellschaftsanalyse, die auch danach fragt, was von der DDR im neuen Deutschland überlebte.
Aus dieser Idee wird allerdings wenig gemacht. Christian Alvart, einer der wenigen deutschen Regisseure, der gerne und zuverlässig für das Kino gelungene Genrefilme (wie „Antikörper“, „Pandorum“, „Banklady“ und „Abgeschnitten“) inszeniert, erzählt in „Freies Land“ eine Geschichte, die Krimifans bereits aus „Mörderland – La Isla Mínima“ (La Isla Mínima, Spanien 2014) kennen. Alvart kopiert den Film fast Einstellung für Einstellung. Nur dass bei ihm aus den satten spanischen Farben ein braungraues deutsches Einerlei wird. Neben den Farben gehen bei der Verlegung der Geschichte von Spanien nach Deutschland alle gesellschaftlichen und politischen Hintergründe verloren.
Alberto Rodriguez‘ Thriller entwickelt seine Wirkung zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Wissen um die Erbschaften der Franco-Diktatur und dem die gesamte Gesellschaft beherrschenden Katholizismus mit seinen Moralvorstellungen.
Dagegen ist die weitgehend säkularisierte DDR nur ein kümmerlicher Ersatz. In dem vereinigten Deutschland gibt es dann DDR-Nostalgie, von Westlern entlassene Arbeiter und einen austauschbaren Krimiplot, für den Alvart sich eine halbe Stunde mehr Zeit nimmt als Rodriguez ohne dabei mehr in die Tiefe zu gehen. So wirkt „Freies Land“ oft unerträglich langatmig. Denn gerade der nackte Thrillerplot ist schon in „Möderland – La Isla Minima“ nicht besonders aufregend. Er dient vor allem als ein Vehikel für eine vielfältige Gesellschaftsanalyse, die auch danach fragt, wie mit den Erbschaften einer Diktatur umgegangen werden soll.
Vielleicht wäre „Freies Land“ besser geworden, wenn Alvart die Geschichte nicht in das Jahr 1992 sondern in das Jahr 1952 verlegt hätte. Dann hätte ein junger Polizist (wahlweise aus West- oder Ostdeutschland) sich mit den Hinterlassenschaften der Nazi-Zeit hätte beschäftigen müssen. Oder wenn Alvart einfach eine neue Geschichte erfunden hätte, anstatt eine bekannte Geschichte in einer anderen Kulisse noch einmal zu erzählen.
Freies Land(Deutschland 2020)
Regie: Christian Alvart
Drehbuch: Christian Alvart, Sigfried Kamml
mit Felix Kramer, Trystan Pütter, Nora Waldstätten, Ben Hartmann, Ludwig Simon, Uwe Dag Berlin, Leonard Kunz, Michael Specht, Marc Limpach, Alva Schäfer, Nurit Hirschfeld, Alexander Radszun, Marius Marx
Toni Erdmann (Deutschland/Österreich/Rumänien 2016)
Regie: Maren Ade
Drehbuch: Maren Ade
Winfried, ein Alt-68er, will die sich auf dem Tiefpunkt befindende Beziehung zu seiner Tochter verbessern. Diese berät in Bukarest eine Firma bei geplanten Massenentlassungen. Er besucht sie und, als sie die väterliche Nervensäge loswerden will, wird er zu Toni Erdmann, der schlechten Parodie eines Unternehmensberaters.
Feelbad-Movie mit unzähligen Fremdschäm-Momenten, das zu einem Kassenhit wurde. „Toni Erdmann“ ist kein Film, den man unbedingt zweimal sehen will, aber unbedingt einmal sehen sollte.
Über ein Hollywood-Remake wird immer noch gesprochen.
Toni Erdmann (Deutschland/Österreich/Rumänien 2016)
Regie: Maren Ade
Drehbuch: Maren Ade
Winfried, ein Alt-68er, will die sich auf dem Tiefpunkt befindende Beziehung zu seiner Tochter verbessern. Diese berät in Bukarest eine Firma bei geplanten Massenentlassungen. Er besucht sie und, als sie die väterliche Nervensäge loswerden will, wird er zu Toni Erdmann, der schlechten Parodie eines Unternehmensberaters.
Feelbad-Movie mit unzähligen Fremdschäm-Momenten, das zu einem Kassenhit wurde. „Toni Erdmann“ ist kein Film, den man unbedingt zweimal sehen will, aber unbedingt einmal sehen sollte.
Über ein Hollywood-Remake wird immer noch gesprochen.
Georg, ein Mittzwanziger, hängt in Marseille fest. Wie unzählige andere Flüchtlinge. Er wartet und steht in Schlangen bei verschiedenen Konsulaten, um an Visa und Transitbescheinigungen zu gelangen. Denn er darf nur dann in der Hafenstadt bleiben, wenn er sie verlassen will. Das ist allerdings leichter gesagt, als getan, denn die verschiedenen Bescheinigungen, die unterschiedliche Gültigkeitstage haben, erhält er nur nacheinander von verschiedenen Staaten, die sich untereinander nicht absprechen, und er kann erst dann abreisen, wenn er einen lückenlosen Reiseweg nachweisen kann. Dieses kafkaeske Labyrinth schildert Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“, den sie während ihrer Flucht schrieb und der erstmals 1944 veröffentlicht wurde, ausführlicher als Christian Petzold in seiner grandiosen Verfilmung, in der er frei mit der Vorlage umging, aber ihrem Geist treu blieb.
Die größte und augenfälligste Veränderung ist dabei Petzolds Entscheidung, den Film nicht während des Zweiten Weltkriegs, sondern in der Gegenwart spielen zu lassen. Das fällt, wegen der historischen Kulisse, den zeitlosen Kleidern und dem Verzicht auf fast alles, was den Film eindeutig in der Gegenwart verortet, kaum auf. Auch die Dialoge, teils aus Seghers Roman, teils in diesem Stil, sind eher im Duktus der vierziger Jahre als in dem der Gegenwart gehalten. Hier gibt es die zweite große Veränderung zum Roman. Der Roman wird von einem Ich-Erzähler, von dem wir nur den Nachnamen Seidler kennen, erzählt. Im Film gibt es einen Voice-Over-Erzähler. Es ist ein Barkeeper. Die Verlegung der Geschichte in die Gegenwart wirkt daher eher wie ein Verfremdungseffekt, der mühelos die Geschichte aus ihrem historischen Korsett befreit und in die Gegenwart transportiert. Petzold muss die aktuellen Flüchtlingsbewegungen im Film nicht ansprechen. Durch die Filmgeschichte sind sie immer präsent.
Das gilt auch für den Rechtsruck und die verschiedenen Renationalisierungstendenzen. Durch den einfachen Trick, Gegenwart und Vergangenheit übereinanderzulegen, wird die Vergangenheit erschreckend lebendig.
„Ich konnte mir vorstellen, dass jemand mit einem Anzug und einem Seesack am Hafen von Marseille langläuft, sich einmietet in ein Hotel und sagt: ‚In drei Tagen kommen die Faschisten, ich muss hier raus.‘ Das hat mich überhaupt nicht irritiert. Und das irritiert mich, dass es mich nicht irritierte. Das hieß für mich, dass die Fluchtbewegungen, die Ängste, die Traumata, die Geschichten der Menschen, die vor über 70 Jahren in Marseille festhingen, sofort verständlich sind. Die müssen überhaupt nicht erklärt werden. Das fand ich überraschend. (…)
Transiträume sind immer Balanceakte. Wir mussten immer die Balance halten zwischen etwas, das man heute noch findet, und etwas, das die Zeichen nicht zu modern macht. Wir wollten keine Blase von alten Gespenstern, die durch das heutige Marseille laufen, sondern diese Gespenster sind von heute.“ (Christian Petzold)
Während der Roman vor allem eine Ode an den Stillstand ist, werden im Film stärker Beziehungen und Geschichten herausgearbeitet. Die Personen, die im Roman immer flüchtig sind, werden konkreter und plastischer. Sie haben Geschichten, die schon im Buch vorhanden sind. Zum Beispiel die von Marie, die jetzt bei einem Arzt lebt, für den sie ihren Mann, den Schriftsteller Weidel, verlassen hat. Trotzdem möchte sie zurück zu Weidel und, weil sie hörte, dass er in Marseille sei, sucht sie ihn in den Cafés und Gassen der Hafenstadt. Auf ihrer Suche trifft sie Georg, der in Paris durch einen Zufall an den letzten, noch nicht veröffentlichten Roman und einige Briefe von Weidel gelangt ist. Es dauert lange, bis Georg erfährt, wenn Marie sucht. Bis dahin gelangt er, als bekannter Schriftsteller, mühelos an die benötigten und schon genehmigten Papiere für seine Reise nach Mexiko. Er begegnet einem Komponisten, der für verschiedene Transitvisa ansteht und einer Frau mit zwei Hunden. Er spielt Fußball mit einem Jungen, der zu seinem Begleiter wird.
Es sind oft wiederholte Begegnungen, aus denen sich im herkömmlichen Sinn keine Geschichte ergibt und es ist, im Roman stärker als im Film, auch die Beschreibung eines Vakuums. Eigentlich ist Georg in dem Alter, in dem er Erfahrungen machen sollte, an die er sich später erinnern möchte und die sein späteres Leben bestimmen. Aber in Marseille hängt er, wie die anderen Flüchtlinge, nur herum. Wie Zombies in einer Wartehalle.
Transit (Deutschland/Frankreich 2018)
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
LV (frei nach): Anna Seghers: Transit, 1944/1947
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
Länge: 101 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die lesenswerte Vorlage
ist aktuell in verschiedenen Ausgaben erhältlich
Anna Seghers: Transit
Aufbau Verlag
304 Seiten
10 Euro (Taschenbuch)
3,49 Euro (Ebook)
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Umfangreicher (wegen fast hundert Seiten Bonusmaterial) als Teil der Werkausgabe (Das erzählerische Werk I/5) von 2001
384 Seiten
30 Euro
–
Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
3sat, 22.20 5 Jahre Leben (Deutschland 2013, Regie: Stefan Schaller)
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
Es trifft ja nur Terroristen. Zum Beispiel diesen Deutschtürken Murat Kurnaz, der kurz nach 9/11 als „feindlicher Kämpfer“ nach Guantánamo gebracht wurde. Nach fünf Jahren – auch weil die Bundesregierung absolut keine Eile hatte, den unschuldig Inhaftierten Kurnaz wieder in Deutschland einreisen zu lassen – kehrte er 2006 nach Bremen zurück.
Stefan Schallers beeindruckener Spielfilm konzentriert sich auf die Verhöre durch Gail Holford und Kurnaz’ Kampf um seine Würde. Gerade dank dieser Beschränkung gewinnt er an erzählerischer Kraft. Mehr in meiner ausführlichen Besprechung des Films.
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy Hinweise
Zuerst waren die Deutschen begeistert, dass nach acht Jahren wieder ein deutscher Film im Wettbewerb von Cannes lief.
Dann waren die Kritiker begeistert. Sie hätten „Toni Erdmann“ gerne den Hauptpreis und alle möglichen und unmöglichen anderen Trophäen gegeben. Aber die Jury ignorierte den Film bei der Preisvergabe.
Und jetzt startet der mit vielen Vorschusslorbeeren und einhelligem Kritikerlob bedachte Film in unseren Kinos.
Toni Erdmann ist ein von dem Musiklehrer Winfried (Peter Simonischek) erfundene Kunstgestalt. Der desillusionierte, megaschlaffe 68er mit einem Hang zu abgestandenen und unwitzigen Witzen erfindet Toni Erdmann, als er in Bukarest seine Tochter Ines (Sandra Hüller) besucht. Sie ist eine taffe Unternehmensberaterin, die gerade einer Firma die Gründe für eine Massenentlassung liefern soll. Zu ihrem Vater, der das komplette Gegenteil von ihr ist, vermeidet sie schon seit Jahren den Kontakt.
Jetzt sitzt er in der Lobby ihrer Firma und sie muss ihn notgedrungen zu Empfängen mit Geschäftspartnern mitnehmen, auf denen er mit seinem unberechenbarem Verhalten, seiner Missachtung der Etikette und seinen lauen Scherzen die Anwesenden verzückt. Jedenfalls tun sie so.
Der große Krach zwischen Vater und Tochter ist vorgezeichnet. Aber anstatt Bukarest zu verlassen, kehrt er als Coach Toni Erdmann mit schlecht sitzender Perücke und Gebiss zurück. Ines geht, wie alle anderen, auf die Scharade ein.
Mit gut drei Stunden ist „Toni Erdmann“ sehr lang, ohne jemals wirklich zu langweilen. Das liegt an Maren Ades präzisem und unerbittlichem, aber die Charaktere nicht denunzierendem Blick für peinliche Situationen. Eigentlich reiht sich eine peinliche Situation an die nächste. Als Zuschauer denkt man ‚ja, genauso ist es‘, während die Kamera dran bleibt, bis auch wirklich die letzte Reaktion und der missglückte Versuch, die Peinlichkeit zu überspielen, gezeigt wurde. Die Fremdschäm-Grenze ist in diesem Moment schon lange überschritten. Denn kein Witz von Toni Erdmann ist witzig. Keine Verkleidung überzeugt.
Seine Tochter Ines ist als das komplette Gegenteil zu ihrem tiefenentspanntem Vater immer zu angespannt, zu gereizt, genervt und penibel, um als Mensch oder als Beraterin zu überzeugen.
Sie sind Kunstfiguren in einer Abfolge ausgedachter Situationen, die Teil einer gnadenlos durchgezogenen Versuchsanordnung sind, in denen es für die Charaktere keine Entwicklung, keine irgendwie geartete Erlösung und auch keine Veränderung gibt.
Dank der genauen Beobachtung und dem Talent von Peter Simonischek und Sandra Hüller geraten die absurden und peinlichen Szenen durchaus kurzweilig. Das häufige Lachen des wohlbehalten im dunklen Kinosaal sitzenden Publikums ist allerdings eher ein verzweifeltes Lachen, ein Ventil für das latente Unwohlsein, das fast jede Szene des Films hervorruft.
Es ist ein Feelbad-Film, den man nicht unbedingt ein zweites Mal sehen will und der keine große Geschichte erzählt, sondern nur Momente aneinanderreiht. Wobei Lehrer Winfried einmal meint, das Leben bestehe aus Erinnerungen an Momente.
Toni Erdmann (Deutschland/Österreich/Rumänien 2016)
Regie: Maren Ade
Drehbuch: Maren Ade
mit Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Witterborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis, Lucy Russell
HR, 23.15 5 Jahre Leben (Deutschland 2013, Regie: Stefan Schaller)
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
Es trifft ja nur Terroristen. Zum Beispiel diesen Deutschtürken Murat Kurnaz, der kurz nach 9/11 als „feindlicher Kämpfer“ nach Guantánamo gebracht wurde. Nach fünf Jahren – auch weil die Bundesregierung absolut keine Eile hatte, den unschuldig Inhaftierten Kurnaz wieder in Deutschland einreisen zu lassen – kehrte er 2006 nach Bremen zurück.
Stefan Schallers beeindruckener Spielfilm konzentriert sich auf die Verhöre durch Gail Holford und Kurnaz’ Kampf um seine Würde. Gerade dank dieser Beschränkung gewinnt er an erzählerischer Kraft. Mehr in meiner ausführlichen Besprechung des Films.
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy Hinweise
Weil es ein guter Film ist und er heute etwas früher kommt und ich Lars Beckers „Zum Sterben zu früh“ (Arte, 20.15 Uhr) noch nicht gesehen habe:
Eins Festival, 22.00 5 Jahre Leben (Deutschland 2013, Regie: Stefan Schaller)
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
Es trifft ja nur Terroristen. Zum Beispiel diesen Deutschtürken Murat Kurnaz, der kurz nach 9/11 als „feindlicher Kämpfer“ nach Guantánamo gebracht wurde. Nach fünf Jahren – auch weil die Bundesregierung absolut keine Eile hatte, den unschuldig Inhaftierten Kurnaz wieder in Deutschland einreisen zu lassen – kehrte er 2006 nach Bremen zurück.
Stefan Schallers beeindruckener Spielfilm konzentriert sich auf die Verhöre durch Gail Holford und Kurnaz’ Kampf um seine Würde. Gerade dank dieser Beschränkung gewinnt er an erzählerischer Kraft. Mehr in meiner ausführlichen Besprechung des Films.
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy Hinweise
ARD, 22.45 5 Jahre Leben (Deutschland 2013, Regie: Stefan Schaller)
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
Es trifft ja nur Terroristen. Zum Beispiel diesen Deutschtürken Murat Kurnaz, der kurz nach 9/11 als „feindlicher Kämpfer“ nach Guantánamo gebracht wurde. Nach fünf Jahren – auch weil die Bundesregierung absolut keine Eile hatte, den unschuldig Inhaftierten Kurnaz wieder in Deutschland einreisen zu lassen – kehrte er 2006 nach Bremen zurück.
Stefan Schallers beeindruckener Spielfilm konzentriert sich auf die Verhöre durch Gail Holford und Kurnaz’ Kampf um seine Würde. Gerade dank dieser Beschränkung gewinnt er an erzählerischer Kraft. Mehr in meiner ausführlichen Besprechung des Films.
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy Hinweise
ARD, 20.15 Hannas Reise (Deutschland/Israel 2013)
Regie: Julia von Heinz
Drehbuch: John Quester, Julia von Heinz (frei nach Motiven von Theresa Bäuerleins Roman „Das war der gute Teil des Tages“)
Das ist jetzt nicht nett von uns, aber wir gönnen Hanna, dieser karrieregeilen BWL-Zicke, die von ihrer Mutter nur eine Bescheinigung über ein Praktikum abholen wollte, das Praktikum in Israel in einer Behinderteneinrichtung. Das wird die Schnepfe hoffentlich erden.
Ansehen lohnt sich, auch wenn die vorhersehbare Geschichte ihre Probleme hat, die ich hier ausführlicher besprochen habe.
mit Karoline Schuch, Doron Amit, Max Mauff, Lore Richter, Trystan Pütter, Lia König, Suzanne von Borsody Wiederholung: Donnerstag, 25. Juni, 00.20 Uhr (Taggenau!)
Arte, 20.15 5 Jahre Leben (Deutschland 2013, Regie: Stefan Schaller)
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
Es trifft ja nur Terroristen. Zum Beispiel diesen Deutschtürken Murat Kurnaz, der kurz nach 9/11 als „feindlicher Kämpfer“ nach Guantánamo gebracht wurde. Nach fünf Jahren – auch weil die Bundesregierung absolut keine Eile hatte, den unschuldig Inhaftierten Kurnaz wieder in Deutschland einreisen zu lassen – kehrte er 2006 nach Bremen zurück.
Stefan Schallers beeindruckener Spielfilm konzentriert sich auf die Verhöre durch Gail Holford und Kurnaz‘ Kampf um seine Würde. Gerade dank dieser Beschränkung gewinnt er an erzählerischer Kraft. Mehr in meiner ausführlichen Besprechung des Films.
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy Hinweise
Das lief nicht gut. Zuerst erzählt Hanna bei einem Vorstellungsgespräch etwas von einem Praktikum mit Behinderten in Israel, was ihre zukünftigen Arbeitgeber wegen ihres sozialen Engagements beeindruckt, und dann will ihre Mutter, die Chefin von „Aktion Friedensdienste“ ist, ihr nicht einfach eine Bestätigung ausstellen, sondern verschafft ihr den Praktikumsplatz.
Stinkig bis zum Anschlag fliegt Hanna nach Israel. Bis jetzt hatte die BWL-Studentin nur ihre Karriere und ihre Kleider im Kopf. In Tel Aviv soll sie sich um Behinderte kümmern und mit Holocaust-Überlebenden reden. Übernachten kann sie in einer WG, die von „Aktion Friedensdienste“ bezahlt wird, in der zwei weitere Praktikanten leben und die wie eine typische, abbruchreife Studentenbude aussieht. Via Skype klagt sie ihrem Freund, der ebenfalls seine Banker-Karriere fest im Blick hat, ihr Leid.
Aber dann beginnt sie sich – notgedrungen – zu arrangieren und die Reise folgt, erwartungsgemäß, den Pfaden des Entwicklungsromans.
In „Hannas Reise“ erzählt Julia von Heinz feinfühlig und ohne allzu hoch erhobenen Zeigefinger die Geschichte einer Studentin, die zum ersten Mal über ihr Leben und ihre Ziele nachdenken muss. Gleichzeitig wirft sie einen Blick in die israelische Gesellschaft, die seit Jahrzehnten in einem ständigen Kriegszustand lebt und wie das das Leben der Jüngeren beeinflusst. So wollte Itay, der nette Leiter der Behindertengruppe, eigentlich mit einem Freund nach Berlin ziehen. Aber wegen seiner Familie blieb der Ex-Soldat in Tel Aviv. Dieser Blick in das Irrenhaus Jerusalem gewinnt in „Hannas Reise“ allerdings niemals die schwarzhumorige Verzweiflung von „45 Minuten bis Ramallah“. Außerdem spricht „Hannas Reise“ den Holocaust-Praktikumstourismus an. Denn Hannas WG-Genossen, die auf den ersten Blick wie linksorientierte, sozial engagierte Studenten wirken, haben das Praktikum auch nur als den Lebenslauf schönende Station angenommen.
Und Hanna, die bei Gesprächen mit Holocaust-Überlebenden auch einiges über ihre Familiengeschichte erfährt, fragt sich, wie sehr die Vergangenheit doch etwas mit ihr zu tun hat. Mit ihrer Mutter, mit der sie sich nicht besonders gut versteht, hat sie nie darüber gesprochen.
„Hannas Reise“ hat etwas von einem wohl abgewogenem Kommissionsfilm: gut gemacht, ausgewogen und brav den Konventionen folgend. Vieles ist gelungen, nichts ist wirklich misslungen, aber nichts begeistert wirklich und nichts bringt einen wirklich zum Nachdenken. Ein Film, der wahrscheinlich Fünfzigjährigen besser als Zwanzigjährigen gefällt.
Hannas Reise (Deutschland/Israel 2013)
Regie: Julia von Heinz
Drehbuch: John Quester, Julia von Heinz (frei nach Motiven von Theresa Bäuerleins Roman „Das war der gute Teil des Tages“)
mit Karoline Schuch, Doron Amit, Max Mauff, Lore Richter, Trystan Pütter, Lia König, Suzanne von Borsody
Nachdem Sherry Hormann mit „3096 Tage“ über die jahrelange Entführung von Natascha Kampusch nur langweilig-biederes Konsenskino ablieferte, macht Stefan Schaller in seinem Debütspielfilm, der gleichzeitig sein Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg ist, alles richtig. Dabei hat der von ihm ausgesuchte Fall von Freiheitsberaubung viel mehr reale und potentielle Fallstricke für eine filmische Bearbeitung als der vergleichsweise einfache Kampusch-Fall, in dem Gut (das Opfer) und Böse (der Enführer) fein säuberlich getrennt sind. In „5 Jahre Leben“ schildert Schaller die Haft von Murat Kurnaz, der von 2001 bis 2006 inhaftiert war, die meiste Zeit davon in Guantanamo. Zuerst als islamistischer Terrorist, später als Person, die nicht zurück nach Deutschland durfte, weil der deutsche Staat die Aufenthaltsgenehmigung des 1982 in Bremen geborenen Jungen nicht verlängerte. Dieses mehr als schäbige Spiel des Staates mit einem seiner Bürger wird in dem Film nicht angesprochen. Aber natürlich geht es um den „Kampf gegen den Terror“ in all seinen Facetten, Soldaten, die Gutes tun wollen, die Missachtung der Menschenrechte und des Rechts durch Staaten und einen jungen Mann, der ein islamistischer Terrorist sein soll. Da kann bei einer filmischen Bearbeitung leicht vieles – auch, oder gerade wenn man nur die besten Absichten hat – schief gehen.
Schaller konzentriert sich in seinem Film auf Murat Kurnaz (Sascha Alexander Gersak) und dessen ersten Jahre in der Haft. Nur selten verlässt er ihn: für einige, kurze Rückblenden in sein früheres Leben oder um die Arbeit des Verhörspezialisten Gail Holford (Ben Miles), der ein Geständnis benötigt, aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Denn in den Verhören weigert Kurnaz sich, ein falsches Geständnis zu unterschreiben und so seine Haft zu legitimieren.
Stattdessen versucht der Hauptschüler das System Guantanamo zu verstehen, seine Würde zu bewahren und nicht sein Mitgefühl zu verlieren. Er füttert einen Leguan mit Brotkrumen, obwohl es verboten ist und auch zu entsprechenden Konsequenzen führt. Holford zwingt ihn, sich zwischen dem Leguan und seinem eigenen Leben zu entscheiden.
All das schildert Schaller in ruhigen Bildern, die die zunehmende Einsamkeit von Kurnaz reflektieren und den Schauspielern viel Raum geben. Vor allem die beiden Hauptdarsteller Sascha Alexander Gersak („Im Angesicht des Verbrechens“) und Ben Miles („Zen“, „V wie Vendetta“) können ihre Charaktere in dem Psychoduell in all ihren Facetten zeigen. Gersak als Gefangener, der versucht, seine Würde zu bewahren und, weil Kurnaz während der Gefangenschaft in einen längeren Hungerstreik trat, er während des Drehs zwanzig Kilo abnehmen musste. Miles als höflicher Befrager, der letztendlich keine Skrupel kennt. Immerhin hat er ja einen gefährlichen Terroristen vor sich.
Schaller legt ihnen keine Meinung in den Mund, er predigt nicht. Er zeigt, ohne zu moralisieren, ein menschenverachtendes System, das nicht an der Wahrheit, sondern nur an bestimmten Ergebnissen interessiert ist. Während Kathryn Bigelow vor einigen Monaten in „Zero Dark Thirty“ sich noch mit einer Rechtfertigung von Folter versuchte, zeigt Schaller, was Folter für die Betroffenen bedeutet und warum das gesamte System Guantanamo ein Irrweg ist.
Obwohl noch etliche gute Filme ins Kino kommen, ist das zum Nachdenken und Diskutieren anregende Kammerspiel „5 Jahre Leben“ schon jetzt ein ganz heißer Anwärter auf einen der vorderen Plätze meiner Jahresbestenliste.
5 Jahre Leben (Deutschland 2013)
Regie: Stefan Schaller
Drehbuch: Stefan Schaller, David Finck
mit Sascha Alexander Gersak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy