„Ich stelle mir den Film von morgen also noch persönlicher vor, als einen individualistischen und autobiographischen Roman, wie ein Bekenntnis oder Tagebuch. Die jungen Filmemacher werden sich in der ersten Person ausdrücken und schildern, was ihnen widerfahren ist. Das könnte die Geschichte ihrer ersten oder neuesten Liebe sein, ihr politische Erwachen, ein Reisebericht, eine Krankheit, ihr Militärdienst, ihre Hochzeit, ihre letzten Ferien, und es müsste fast notgedrungen ankommen, weil es wahr und neu wäre…Der Film von morgen wird ein Akt der Liebe sein.“ schrieb Francois Truffaut in der „Cahiers du Cinéma“. Er bewunderte die Filme von Max Ophüls, Ingmar Bergmann, Orson Welles, Alfred Hitchcock und den Film Noir (eigentlich ist, wenn ein Hollywood-Stil einen französischen Namen erhält, schon alles gesagt). Er schrieb herbe Verrisse über die damaligen französischen Filme und 1958 erhielt er keine Akkreditierung für das Filmfestival Cannes.
Ein Jahr später erhielt der Siebenundzwanzigjährige für seinen ersten Spielfilm, „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (Les quatre cents coups), den Großen Preis von Cannes für die Regie. In dem Film begann er den von ihm vorher formulierten Anspruch in die Tat umzusetzen. Denn die Geschichte von Antoine Doinel (verkörpert von dem Dreizehnjährigen Jean-Pierre Léaud) weist etliche Gemeinsamkeiten mit seiner Biographie auf. In dem Film erzählt Truffaut von Antoine, der in einer dysfunktionalen Familie aufwächst. Seine Mutter geht fremd. Sein Stiefvater flüchtet sich in sein Hobby und Antoine Doinel, der nach einem Vorbild sucht, flüchtet in die Welt des Kinos und der Bücher. Er beginnt zu stehlen, wird erwischt und landet in einem Erziehungsheim, aus dem er wieder flüchtet. Ein Klassiker der Nouvelle Vague.
1962 kehrte Truffaut für den Kurzfilm „Antoine und Colette“ (Antoine et Colette), der ein Teil des Episodenfilms „Liebe mit zwanzig“ (L’amour à vingt ans) ist, zu Antoine Doinel zurück. Die anderen Episoden waren von Renzo Rossellini, Andrzeij Wajda, Marcel Ophüls und Shintaro Ishihara..
Truffaut erzählt von Antoines erster Liebe zu Colette (Marie-France Pisier), wie er sich sein Geld verdient, die Abende verbringt und sich gut mit Colettes Eltern versteht. Ein wunderschöner und leichter Kurzfilm.
1968 folgte der zweite Doinel-Spielfilm „Geraubte Küsse“ (Baisers voles), der während der Proteste gegen die Entlassung von Henri Langlois, dem Leiter der Cinémathèque, entstand. In dem Film wird Antoine unehrenhaft aus dem Militär entlassen. Er arbeitet als Nachtportier, Privatdetektiv und, undercover, als Schuhverkäufer. Er verliebt sich in mehrere Frauen, vor allem in die Frau des Besitzers des Schuhgeschäfts (Delphine Seyrig), und er verfolgt Christine Darbon (Claude Jade), in die er wirklich verliebt ist, die aber, wie schon Colette in „Antoine und Colette“, nichts von ihm wissen will, und er versteht sich ausgezeichnet mit ihren Eltern. Am Ende des Films finden sie zueinander.
Schon 1970 gab es mit „Tisch und Bett“ (Domicile conjugal) den dritten Doinel-Spielfilm, Antoine und Christine sind verheiratet. Er versucht im Hinterhof das perfekte Rot für Blumen zu finden. Sie gibt Musikunterricht und der gesamte Hinterhof ist ein funktionierender Mikrokosmos der Gesellschaft. Er wird Vater. In einer wundervollen Montage zeigt Truffaut, wie Antoine begreift, dass seine Frau schwanger ist.
Er kriegt, eher zufällig, einen Job bei einem amerikanischen Konzern. Er soll Modellboote steuern und das tut er hingebungsvoll. Er verliebt sich in eine Japanerin, die er während der Arbeit kennenlernte, und seine Ehe steht auf dem Spiel. Denn letztendlich kann Antoine gar nicht verstehen, dass er sich zwischen den beiden Frauen entscheiden muss.
1978 beschloss Truffaut mit „Liebe auf der Flucht“ (L’amour en fuite) seinen Antoine-Doinel-Zyklus. In dem Film begegnet Antoine, der sich seit „Tisch und Bett“ nicht veränderte, wieder seiner ersten Liebe Colette (die auch wieder von Marie-France Pisier gespielt wird) und er ist inzwischen von seiner Vergangenheit umzingelt. 18 Filmminuten des neunzigminütigen Films sind direkt aus den vorherigen Doinel-Filmen entnommen und werden in „Liebe auf der Flucht“ teilweise in einem anderen Zusammenhang zitiert werden. Dazu gibt es noch Zitate aus Doinels erfolglosem, autobiographischen Roman „Der Liebessalat“.
Die Antoine-Doinel-Film weitgehend episodisch und sie leben vor allem von Jean-Pierre Léauds Interpretation des Charakters, dessen Leben zuerst deutliche Parallelen zu Truffauts Leben hatte, später dann zu Léauds Leben.
Dank Léaud ist dieser Antoine Doinel ein sehr sympathischer Charakter, auch wenn er, wie ein Kind, Ich-bezogen, verantwortungs- und planlos ist. Denn er scheitert in ungefähr jedem Job und auch aus dem Militär wird er, am Anfang von „Geraubte Küsse“ unehrenhaft entlassen. Als der Vorgesetzte ihn fragt, warum er sich überhaupt verpflichtet habe, zuckt Doinel nur mit den Schultern und flüchtet sich in die Ausrede, er habe persönliche Gründe gehabt.
Aber gleichzeitig ist er, wie ein Kind, begeisterungsfähig, er nimmt nichts wirklich ernst und er ist hilfsbereit. Insofern ist er ein sympathischer Bruder Leichtfuß, der auch ein halber Schlawiner ist, und der nicht treu sein kann. Nicht weil er seine Frau Christine nicht liebt, sondern weil er die Frauen liebt.
Die Antoine-Doinel-Geschichten sind, im Gegensatz zu den kalten Abrechnungen Claude Chabrols, liebevolle Porträts der Bourgeoisie und des aufstrebenden Bürgertums. Denn auch wenn die ganze Welt revolutionär auf die Straße geht, ist Antoine nur an Christine, seiner guten Beziehung zu ihren Eltern und sich selbst interessiert.
Wahrscheinlich hat Antoine „1968“ überhaupt nicht wahrgenommen und eine Diskussion mit ihm über Politik und die Gesellschaft erscheint ziemlich fruchtlos; obwohl er die neu gewonnenen sexuellen Freiheiten gerne mitnimmt. Auch weil er bestimmte gesellschaftliche Konventionen einfach ignoriert.
Gerade in der Zeichnung des Lebens eines jungen Mannes, der keine Eltern mehr hat, und der versucht auf seinen eigenen Füßen zu stehen, der eine Familie gründet („Geraubte Küsse“ endet implizit mit der Heirat; „Tisch und Bett“ zeigt die ersten Ehejahre und die Freude über seinen Sohn) zeichnet Truffaut ein sehr präzises soziologisches Porträt der damaligen Zeit und mit welchen Gegenständen sich junge Menschen einrichteten; fast als ob er Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ gelesen hätte. Aber das Werk erschien erst 1979.
Und der Hinterhof, auf dem Antoine in „Tisch und Bett“ seine Blumen färbt, ist ein kleiner gesellschaftlicher Kosmos. Hier treffen sich die Menschen, sie kennen sich, sie helfen sich, sie tratschen und niemand hat ein Geheimnis. Heute sind diese Hinterhöfe und diese Hausgemeinschaften verschwunden. Und ob es sie 1970 noch so gab, wie Truffaut sie in „Tisch und Bett“ idealisiert, bezweifle ich.
Die Antoine-Doinel-Filme sind immer episodisch und auch etwas ziellos. Dank Léaud und den vielen kleinen, präzise beobachteten Vignetten und filmischen Witzen (wenn Doinel sich in „Geraubte Küsse“ als Privatdetektiv versucht und höchst auffällig eine Frau verfolgt; wenn er mit einer deutlich größeren Frau eine Straße hinuntergeht) und dem humoristischen Tonfall, der oft die Geschichte konterkariert, sind sie auch heute noch unterhaltsam, aber auch etwas zäh anzusehen.
Antoine-Doinel-Zyklus
enthält „Sie küssten und sie schlugen ihn“, „Geraubte Küsse“, „Tisch und Bett“ und „Liebe auf der Flucht“
Bild: verschieden
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono DD)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial, das es meistens nicht auf den Einzel-DVDs gibt: Episodenfilm „Liebe mit zwanzig“ (Regie: Shintarô Ishihara, Marcel Ophüls, Renzo Rossellini und Andrzej Wajda, mit dem Doinel-Film „Antoine und Colette“), „Arbeit mit François Truffaut“ (1986, Regie: Rainer Gansera), Einführungen des Truffaut-Biografen Serge Toubiana, „Die Unverschämten“ 1957, Regie: Francois Truffaut, Kurzfilm), Probeaufnahmen von Jean-Pierre Léaud, Patrick Auffay und Richard Kanayan zu „Sie küssten und sie schlugen ihn“, Jean-Pierre Léaud bei der Cannes-Premiere von „Sie küssten und sie schlugen ihn“, Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Cinéastes de notre temps: François Truffaut, dix ans, dix films“ (1970), Truffaut spricht über die ersten drei Teile des Zyklus, Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Midi Magazine“ (1970), Aufnahmen von den Dreharbeiten zu „Tisch und Bett“, Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Approches du cinéma: François Truffaut ou la Nouvelle Vague“ (1972), Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Cinescope“ (1980), Ausschnitt aus der Fernsehsendung „Champ contrechamp“ (1981), Unterstützungsspot für Henri Langlois von François Truffaut und Jean-Luc Godard, Originaltrailer, 24-seitiges Booklet
Länge: 451 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Einzeln erhältlich sind
Geraubte Küsse (Baisers voles, Frankreich 1968)
Drehbuch: Francois Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon
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DVD
Bild: 1,66:1 (anamorph)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono DD)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial: Einführung des Truffaut-Biografen Serge Toubiana, Unterstützungsspot für Henri Langlois von François Truffaut und Jean-Luc Godard, Trailer, Wendecover
Länge: 87 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Tisch und Bett (Domicile conjugal, Frankreich 1970)
Drehbuch: Francois Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon
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DVD
Bild: 1,66:1 (anamoprh)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono DD)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial: Einführung des Truffaut-Biografen Serge Toubiana, Trailer, Wendecover
Länge: 93 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Liebe auf der Flucht (L’amour en fuite, Frankreich 1979)
Drehbuch: Francois Truffaut, Marie-France Pisier, Jean Aurel, Suzanne Schiffman
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DVD
Bild: 1,66:1 (anamoprh)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono DD)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial: Einführung des Truffaut-Biografen Serge Toubiana, Trailer, Wendecover
Länge: 91 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Wikipedia über Francois Truffaut (deutsch, englisch, französisch)
Kriminalakte über Francois Truffaut
[…] Zweiter Teil meines Francois-Truffaut-Porträts: Die Antoine-Doinel-Filme […]
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