Wie wurde Tony Soprano Tony Soprano? Diese Frage wird in „The many Saints of Newark“ nicht wirklich beantwortet.
Doch bevor wir zu diesem Kinofilm, der immer wie ein hoch budgetierter Prestige-TV-Film wirkt, kommen, muss ich einiges über Tony Soprano sagen. Gespielt wurde er von James Gandolfini in der Rolle seines Lebens. In den USA war die sich auf ihn, sein Leben und seine Familie konzentrierende TV-Serie ein Hit und ein kulturelles Phänomen. Sie revolutionierte das Erzählen im Fernsehen und wurde auch noch nach ihrem Ende in den höchsten Tönen gelobt. Die Writers Guild of America nannte „Die Sopranos“ die am besten geschriebene TV-Serie aller Zeiten. Das Magazin „Rolling Stone“ setzte „Die Sopranos“ auf den ersten Platz ihrer Liste der besten TV-Serien aller Zeiten. Bei uns wurde die Serie vor zwanzig Jahren zunächst auf einem schlechten Sendeplatz gezeigt, der durch einem noch schlechteren Sendeplatz ersetzt wurde, ehe auf die weitere TV-Ausstrahlung verzichtet wurde. Immerhin erschien auch in Deutschland die Serie vollständig auf DVD. Entsprechend überschaubar dürfte hier die Zahl der „Sopranos“-Fans sein.
Tony Soprano ist in der TV-Serie, die von 1999 bis 2007 produziert wurde, ein hoffnungslos überforderter, in New Jersey lebender Caporegime. Der Mafiosi muss auf seine Leute aufpassen, Konkurrenten in Schach halten, ein guter Vater, Ehemann und Sohn sein. Vollkommen überfordert von diesen Anforderungen begibt er sich in Psychotherapie. Mit seiner nichtsahnenden Therapeutin konnte er über seine Probleme reden. Nach acht Jahren und sechs Staffeln war dann Schluss.
„The many Saints of Newark“ springt jetzt zurück in die Kindheit und Jugend von Tony Soprano, der in dem Film nur eine Nebenrolle hat.
Die erste Hälfte des Mafiafilms spielt 1967. Tony ist noch ein Kind. ‚Hollywood Dick‘ Moltisanti kommt aus Italien mit einer deutlich jüngeren, wie Sophia Loren aussehenden Frau zurück. Giuseppina stellt schnell fest, dass das Leben in den USA nicht ihrem Bild von Amerika entspricht. Moltisantis Sohn Dickie Moltisanti ist ebenfalls ein Mobster. Er kümmert sich um das Tagesgeschäft. Er sammelt Schutzgeld. Er fährt, stilvoll gekleidet, mit seinem Chevrolet Impala Cabrio durch Newark. Er ist der Onkel von Tony Soprano. Und der elfjährige Tony bewundert seinen Onkel.
Als die Polizei einen schwarzen Taxifahrer zu Tode prügelt, ist das der Ausgangspunkt für mehrtägige, historisch verbürgte Straßenschlachten.
1971 ist Tony ein Teenager, der kleinere Verbrechen begeht. Tonys Vater ist aus dem Gefängnis entlassen worden. Schwarze Verbrecher machen der DiMeo-Verbrecherfamilie das Leben schwer. Wenn die Mafiosi nicht gerade ihre Familienmitglieder umbringen.
Auch in diesem Teil ergeben die Episoden aus Newark keine Geschichte. Es ist ein Blättern im Familienalbum. Tony Soprano stolpert manchmal durch das Bild. Einen Einfluss auf die Ereignisse hat er nicht. Dafür ist er noch zu jung und viel zu weit unten in der Mafia-Hierarchie. Immerhin kann er für die abendlichen Partys mit seinen Klassenkameraden stimmungssteigernde Drogen besorgen.
Viel wichtiger als Tony Soprano sind die anderen Familienmitglieder. Fans der TV-Serie müssten sie kennen und sich darüber freuen, sie in diesem Prequel-Film in jungen Jahren zu sehen. Alle anderen müssen die unzähligen familiären und kriminellen Verflechtungen erdulden, die nur deshalb Teil der Filmgeschichte sind, weil sie in der TV-Serie wichtig waren und ein solches Prequel in jedem Fall ein Film sein muss, der die Fans der Serie bedient.
Der gesamte Film zerfällt in unzählige Episoden. Figuren, die teils von hochkarätigen und bekannten Schauspielern wie Vera Farmiga, Ray Liotta, Jon Bernthal und Corey Stoll gespielt werden, tauchen kurz auf, verschwinden für Ewigkeiten aus der Filmhandlung und sind dann plötzlich wieder da. Die geisterhafte Voice-Over-Stimme könnte die disparaten Episoden zusammenhalten. Dieser Erzähler verrät uns schnell, von wem er später erschossen wird und wir sehen Ereignisse, bei denen er nicht dabei war. Da ist es fast schon überflüssig, zu sagen, dass das Voice-Over in „The many Saints of Newark“ niemals die Präsenz und den Druck entwickelt, den die Erzählerstimme in Martin Scorseses grandiosem Mafia-Epos „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“ hatte. Die Erinnerungen an Scorseses Gangsterfilm zeigen schmerzlich, wie sehr Alan Taylor („Thor – The Dark Kingdom“ [Thor: The Dark World], „Terminator: Genisys“ und mehrere „The Sopranos“-Episoden“) als Regisseur versagt. Wobei das auch am Drehbuch von „Sopranos“-Erfinder David Chase und Lawrence Konner liegt.
„The many Saints of Newark“ ist ein Film, der beständig in seine Teile zerfällt, die unverbunden nebeneinander stehen und sich in unzählige Sackgassen verirrt. Das führt dazu, dass der Gangsterfilm sich deutlich länger anfühlt als er ist.
The many Saints of Newark – A Sopranos Story (The many Saints of Newark, USA 2021)
Regie: Alan Taylor
Drehbuch: David Chase, Lawrence Konner (basierend auf von David Chase erfundenen Figuren)
mit Alessandro Nivola, Leslie Odom Jr., Vera Farmiga, Jon Bernthal, Corey Stoll, Ray Liotta, Michela De Rossi, Michael Gandolfini, Billy Magnussen, John Magaro, Michael Imperioli
Länge: 121 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „The many Saints of Newark“
Metacritic über „The many Saints of Newark“
Rotten Tomatoes über „The many Saints of Newark“
Wikipedia über „The many Saints of Newark“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Alan Taylors „Terminator: Genisys“ (Terminator: Genisys, USA 2015)