Neu im Kino/Filmkritik: „Sterben“ mit Matthias Glasner

April 26, 2024

Zwölf Jahre sind seit seinem letzten Spielfilm „Gnade“ vergangen. Danach schrieb und inszenierte er für das Fernsehen unter anderem die vergurkte TV-Krimiserie „Blochin“ und die zweite Staffel von „Das Boot“. Mit „Sterben“ kehrt Matthias Glasner jetzt zurück ins Kino; wobei der dreistündige Spielfilm mit seiner Unterteilung in fünf weitgehend in sich abgeschlossene Kapitel und einem Epilog wie eine leicht für das Kino erfolgte Umarbeitung einer auf sechs halbstündigen Episoden bestehenden Miniserie aussieht. In Interviews und Statements betont Glasner dagegen, dass er, gerade Vater geworden, in Berlin in einem Coffee Shop vor sich hin schrieb über seine Eltern und notgedrungen auch über sich. Dramaturgische Regeln ignorierte er dabei. Am Ende hatte er zweihundert Seiten und stand vor der Frage, ob jemand eine Verfilmung dieses Konvoluts finanzieren würde.

Es geht, im ersten Kapitel von „Sterben“, um Lissy Lunies (Corinna Harfouch) und ihren Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer), der zunehmend unselbstständig wird. Dabei muss auch Lissy mit den Gebrechlichkeiten des Alters kämpfen. Glasner zeigt diesen Verfall präzise in Szenen, die gleichzeitig peinlich, grotesk und witzig sind. Ihre Kinder sind schon vor Jahren ausgezogen. Sie sehen sie nur selten. Ihr Sohn Tom (Lars Eidinger), den wir im zweiten Kapitel kennen lernen, arbeitet als Dirigent. Im Moment probt er das neue Stück seines Freundes Bernard (Robert Gwisdek). Dieser hadert, ganz die sensible, von Selbstzweifeln geplagte, depressive, suizidgefährdete Künstlerseele, mit seinem Werk und den Musikern, die es spielen sollen. Durch sein Verhalten verhindert er zuverlässig die geplante Aufführung des Stücks „Sterben“.

Und dann ist da noch Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg), die erst im dritten Kapitel auftaucht. Sie ist eine Alkoholikerin, die eine Beziehung mit ihrem Chef, dem verheirateten Zahnarzt Sebastian Vogel (Ronald Zehrfeld), beginnt.

Jedes dieser Kapitel und auch die nächsten beiden Kapitel und der kürzere Epilog, in denen Gerd ins Altersheim kommt, es nach Gerds Beerdigung eine hochpeinliche Aussprache zwischen Lissy und Tom gibt, es doch zur desaströs verlaufenden Uraufführung des Orchesterwerkes und weiteren Todesfällen kommt, sind eigenständige, teils parallel spielende Kurzfilme/-geschichten, die unabhängig voneinander genossen werden können. Keine dieser Geschichten ist auf ein bestimmtes Ende hin geschrieben. Immer gibt es Szenen, die die Filmgeschichte nicht voran bringen. So werden die Proben für Bernards Musikstück und seine Selbstzweifel ausführlich gezeigt. Das Stück wird auch im Film gespielt. In den Momenten erfahren wir nichts über die Familie Lunies.

Eine blinde Stelle des Films ist, dass wir zwar viel über schwierigen Familienmitglieder, die ein Talent zum Unglücklichsein haben, erfahren, aber vieles auch nur erahnen können, weil Glasner sich nicht sonderlich für eine tiefenpsychologische Ursachenforschung oder einfache Erklärungen interessiert.

Deshalb können wir nur erahnen, warum Lissy, Gerd, Tom und Ellen nur noch in gegenseitiger Abneigung miteinander verbunden sind. Sie sind zwar alle schwierige Personen, aber am Ende sind die Lunies‘ weniger eine dysfunktionale, sondern mehr eine schrecklich normale Familie, die nicht mehr miteinander spricht, weil sie an verschiedenen Orten leben und sich nur noch zu Beerdigungen sehen.

Inwiefern das Porträt der Familie Lunies auch ein Porträt der Familie Glasner ist, ist natürlich unklar und auch unerheblich, um die Qualität des Films zu beurteilen. Auch wenn Glasner es explizit auf eine solche Interpretation anlegt, weil er unter anderem auf dem Filmplakat den von Hans-Uwe Bauer gespielten Gerd Lunies als „mein Vater“ bezeichnet.

Alle Bedenken wegen der Länge und der Dramaturgie, die keine stringente Geschichte erzählt, sondern in Ab- und Umwege zerfleddert, werden schnell von Glasners epischem Atem und seiner erzählerischen Kraft hinweggefegt. „Sterben“ dauert drei Stunden, die schnell vergehen, weil das in diesem Fall die richtige Länge ist und es einiges zu Lachen gibt. Auch wenn es das Lachen der Verzweiflung ist.

Auf der diesjährigen Berlinale erhielt Glasner den Silbernen Bären für das beste Drehbuch und der Film den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost.

Sterben (Deutschland 2024)

Regie: Matthias Glasner

Drehbuch: Matthias Glasner

mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek, Anna Bederke, Hans Uwe Bauer, Saskia Rosendahl, Saerom Park, Nico Holonics, Catherine Stoyan, Tatja Seibt

Länge: 182 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Sterben“

Moviepilot über „Sterben“

Rotten Tomatoes über „Sterben“

Wikipedia über „Sterben“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Sterben“

Meine Besprechung von Matthias Glasner „Gnade“ (Deutschland/Norwegen 2012)

Meine Besprechung von Matthias Glasners „Blochin – Die Lebenden und die Toten: Staffel 1“ (Deutschland 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: „Volt“ – ein Polizist in gewissen Nöten

Februar 5, 2017

In naher Zukunft, mehr oder weniger irgendwo in Deutschland: Flüchtlinge vegetieren in einer abgezäunten Transitzone vor sich hin. In leerstehenden Häusern und ohne staatliche Gewalt. Die führt in unregelmäßigen Abständen Razzien durch. Bei einer solchen gewalttätigen Durchsuchung verfolgt der Polizist Volt (natürlich ist der Name Programm) einen Flüchtling und tötet ihn in einem Kampf. Volt vertuscht den Mord. Seine Kollegen von der Eingreifgruppe helfen ihm unwissentlich dabei und damit könnte die Sache vergessen sein, wenn der Tote nicht die Initialzündung für Proteste wäre und wenn nicht Volt, der Einzelgänger ohne Gewissensbisse, plötzlich Gewissensbisse hätte.

Er schleicht sich in die Transitzone und lernt eine Frau kennen, in die er sich auch verliebt. LaBlanche ist außerdem die Schwester des Toten.

Volt“ ist ein zwiespältiger Film. Nicht weil er eine Dystopie zeigt, die wir schon öfter gesehen haben, sondern weil es dem Drehbuch nicht gelingt, eine spannende Geschichte zu erzählen. Der Grundplot ist ja vertraut und, wie bei einem Western (oder einem Liebesfilm), geht es darum, wie der Protagonist an sein Ziel gelangt und warum das Ziel für ihn wichtig ist. Natürlich mit dreidimensionalen Charakteren und guten Dialogen. „Volt“ liefert da allerdings nur die Chiffren aus dem Handbuch des Harten Mannes, abgeschmeckt mit einem rüpelhaftem Einsatzkommando, das sich in pubertären Testosteron-Spielchen gefällt, und etwas politischem Überbau der beliebigen Sorte. Obwohl einzelne Punkte an die Realität anknüpfen – die Flüchtlingskrise und ihr Umgang mit ihr (siehe das Flüchtlingslager in Calais), der Korpsgeist in Sondereinheiten, der Umgang mit internen Ermittlungen, die politischen Ränkespiele (die hier aber nur ein Newsflash sind) – wirkt die in „Volt“ gezeichnete Zukunft wie ein Recycling eines minderwertigen, irgendwo in der Provinz gedrehten Post-“Blade Runner“-Films, in dem nie eine kohärente und in sich glaubwürdige Zukunftsvision entwickelt wird.

Da wirken die achtzig Minuten dann arg lang.

Die Bilder der Dystopie sind einer der Pluspunkte des Films. Tarek Ehlail drehte an Nicht-Orten, die er mit minimalen Mitteln, Nachtaufnahmen, Farbfiltern, Gegenlicht und allem, was im Handbuch für eine Dystopie oder ein stylisches Rock-Video (Ehlail drehte Musikvideos für Slime, Bushido, NYZE und D-Bo) steht, zu einer ungemütlichen, betont rohen Vision Deutschlands machte. Die Musik von Alec Empire hilft dabei.

Ebenso die Besetzung. Neben bekannten Gesichtern wie Benno Fürmann, der Volt spielt (ihm aber wegen des klischeehaften Drehbuchs keine Tiefe verleihen kann), gibt es etliche Neuentdeckungen, wie die Songwriterin Ayo, die LaBlanche spielt.

Am Ende von „Volt“ bleibt die Erkenntnis, dass Tarek Ehlail mit einem guten Drehbuch einen wirklich überzeugenden Film drehen könnte. „Volt“ ist, so gesehen, eine Talentprobe, eine Visitenkarte.

volt-plakat

Volt (Deutschland/Frankreich 2016)

Regie: Tarek Ehlail

Drehbuch: Tarek Ehlail

mit Benno Fürmann, Sascha Alexander Gersak, Ayo, Denis Moschitto, Anna Bederke, Kida Khodr Ramadan, Stipe Erceg, Tony Harrisson Mpoudja, Surho Sugaipov, André M. Hennicke

Länge: 81 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Volt“

Moviepilot über „Volt“

Wikipedia über Tarek Ehlail

Die Welt: Interview mit Tarek Ehlail


Neu im Kino/Filmkritik: Deutscher Humor: „Frauen“ „Schrotten“

Mai 9, 2016

Deutsche Komödien – – – – nach dem Genuss einiger US-Komödien, deren Humor verklemmt unter der Gürtellinie bleibt und der ungefähr so witzig wie eine Gürtelrose ist, erscheinen deutschsprachige Komödien nicht mehr so schlimm. Gut sind sie trotzdem nicht, wie „Frauen“ und „Schrotten“ zeigen.

In „Frauen“ steigt K. O. Schott (Heiner Lauterbach) in die falsche Miet-Limousine. Er muss zu einem wichtigen Termin nach Bad Honnersheim. Viel später erfahren wir, dass er ein Millionär ist und zu seinem jüngsten Scheidungstermin gefahren werden will.

Sein Fahrer Rüdiger Kneppke (Martin Brambach) ist, egal welchen Standard man ansetzt, kein guter Chauffeur. Schlecht gekleidet, latent desorientiert, dumm wie Brot und nur am Quatschen, solange er nicht sein Blödel-Lieblingslied singt.

Kurz darauf springt Liz Tucha (Blerim Destani) in ihre Limousine. Der junge Mazedonier ist, wie wir erst viel später erfahren, ein Bräutigam auf der Flucht. Die betrogene Hochzeitsgemeinschaft verfolgt ihn und dass die Brüder der sitzengelassenen Braut Polizisten sind, verschlimmert die Situation von Tucha, Schott und Kneppke.

Ab jetzt ist das Trio, zusammengehalten durch den Willen des Drehbuchautors, auf einer ziemlich planlosen Reise durch Deutschland. Immer wieder unterhalten sie sich über Frauen, welche Probleme sie verursachen und warum Männer nicht von ihnen lassen können.

Aber öfter geht es um andere Dinge, krude Verwicklungen und, angesichts des Alters der beiden Hauptverantwortlichen, Regisseur Nikolai Müllerschön und Hauptdarsteller Heiner Lauterbach, die beide, wie schon bei dem letztendlich misslungenem Gangsterfilm „Harms“ auch zu den Produzenten gehören, einen Altherren- und Kneipenhumor, der selten amüsiert. Auch weil alle Charaktere mindestens grenzdebil sind.

Immerhin ist Tucha der Intelligenteste des Trios.

In „Schrotten“ wird Mirko Talhammer (Lucas Gregorowicz), ein halbseidener Versicherungsvertreter, der von seiner Familie, einer Schrotthändler-Dynastie, nichts mehr wissen will, von ebendiesen Familienmitgliedern bei seiner Arbeit besucht und zusammen geschlagen. Nur so können sie Mirko zur Beerdigung seines Vaters bringen und ihm seinen letzten großen Plan präsentieren: den Diebstahl eines mit wertvollem Schrott gefüllten Zuges. Dafür wollen sie in den Wald ein zweites Gleis legen.

Nach kurzem Zögern beschließt Mirko seinem Bruder Letscho (Frederick Lau) bei dem Diebstahl zu helfen. Denn Letscho beschwört zwar lautstark den Schrotthändler-Ethos, aber mit ihm als Kopf der Bande wird der Plan in einem Desaster enden.

Gleichzeitig verhandelt Mirko, der hoch verschuldet ist, hinter dem Rücken seiner Familie (Ganovenehre ist ja so etwas von 20. Jahrhundert) mit dem gegnerischen Schrotthändler Kercher (Jan-Gregor Kremp) über einen Verkauf des Thalheimerschen Erbe.

Das ist ähnlich ausgedacht wie die Drei-Männer-im-Auto-Idee von „Frauen“ und der geniale Plan in „Schrotten“ ist so bescheuert, dass es einen sprachlos macht.

Aber immerhin sind die Talhammers und ihr Clan ganz sympathisch in ihrem Zusammenhalt und Max Zähle rückt in seinem Spielfilmdebüt, nach seinem Oscar-nominiertem Kurzfilm „Raju“, ein Milieu in den Mittelpunkt, das vor einigen Jahrzehnten noch fest zum Landschaftsbild gehörte. Heute, seitdem Schrott Wertstoff ist, sind Schrotthändler ja eine aussterbende Spezies.

Der Humor ist beide Male eher grob. Die Zahl der Lacher beide Male überschaubar. Die Story beide Male unglaubwürdig.

Immerhin wurde beide Male versucht, keine typisch deutsche Schweiger/Schweighöfer-Familienkomödie abzuliefern.

Frauen - Plakat 4

Frauen (Deutschland 2016)

Regie: Nikolai Müllerschön

Drehbuch: Nikolai Müllerschön

mit Heiner Lauterbach, Blerim Destani, Martin Brambach, Victoria Mirovaya, Mark Keller, André Hennicke

Länge: 87 Minuten

FSK: ?

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Frauen“

Moviepilot über „Frauen“

Meine Besprechung von Nikolai Müllerschöns „Harms“ (Deutschland 2013)

schrotten_plakatA0_160304_RZ_ZW.indd

Schrotten (Deutschland 2016)

Regie: Max Zähle

Drehbuch: Max Zähle, Johanna Pfaff, Oliver Keidel

mit Lucas Gregorowicz, Frederick Lau, Anna Bederke, Lars Rudolph, Heiko Pinkowski, Jan-Gregor Kremp, Rainer Bock, Alexander Scheer

Länge: 102 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Schrotten“

Moviepilot über „Schrotten“