Neu im Kino/Filmkritik: Über den feinen New-York-Gangsterthriller „Run all Night“

April 16, 2015

Vergessen wir einfach „96 Hours – Taken 3“ und wenden uns „Run all Night“ zu. Mit Liam Neeson als Mafiakiller, der in einer Dezembernacht in New York seinen Sohn, der zufällig Zeuge eines Mordes wurde, vor Gangstern und der Polizei beschützen will.
Jaa, das klingt jetzt nach „Taken 4“. Aber „Run all Night“ ist ein äußerst sehenswerter Gangsterthriller, der die Tradition und die Genreregeln kennt, sie gelungen variiert und mit einer ordentlichen Portion Action abschmeckt. Die Story erinnert Einige an „Road to Perdition“. Das stimmt. Aber „Road to Perdition“ ist mir auch viel zu prätentiös. „Run all Night“ will dagegen nur ein spannender Thriller sein, der nebenbei noch einige ernste Themen behandelt. Die nächtlichen Bilder von den weniger bekannten Ecken New Yorks und weil die Jagd quer durch die Millionenstadt geht, erinnern mich an Michael Manns „Collateral“, das ursprünglich ebenfalls in New York spielen sollte. Mann verlegte die Geschichte nach Los Angeles und genau wie „Collateral“ ein Porträt von Los Angeles ist, ist „Run all Night“ ein Porträt von Manhattan.
Weil Liam Neeson den irischen Mobkiller Jimmy Conlon spielt, porträtiert Jaume Collet-Serra in seinem Film auch den irischen Mob, der auch als „Westies“ bekannt ist. Wer will, kann als echtes Vorbild für Conlon den Mafiakiller Richard Kuklinski erkennen, der für Gambino-Familie mordete und der auch das entfernte Vorbild für den Erzähler in Dave Zeltsermans „Killer“ ist.
Auch die restliche Besetzung ist gut. Ed Harris spielt den irischen Mob-Boss, dessen Sohn von Conlon/Neeson erschossen wird, um seinen Sohn zu beschützen. Harris und Neeson haben euch einige tolle gemeinsame Szenen, in denen aus besten Freunden innerhalb weniger Stunden Todfeinde werden. Joel Kinnaman und Boyd Holbrook spielen die Söhne. Vincent D’Onofrio einen Polizisten, der seit Jahren Conlon verfolgt. Common einen eiskalten Killer, der nur an einer effektiven Erledigung seines Auftrages interessiert ist. Nick Nolte hat einen kurzen Auftritt als Neesons Bruder. Und Bruce McGill ist immer gut.
Brad Ingelsby („Auge um Auge – Out of the Furnace“ und, demnächst, das „The Raid“-Remake) schrieb das Drehbuch, in dem die Action die Handlung vorantreibt und auch einige ernste Themen fast schon nebenbei behandelt werden. Ich sage nur Familienbande, Freundschaft, Loyalität und die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Vätern und Söhnen. Dabei gibt „Run all Night“ dann keine einfachen Antworten, sondern lässt alles, wie „Ruhet in Frieden – A Walk among the Tombstones“, in einem wunderschönen Graubereich verschwinden. Das unterscheidet „Run all Night“, mit seinem durchaus sympathischen Siebziger-Jahre-Gefühl, dann auch von schlechteren Thrillern.
Insgesamt knüpft „Run all Night“ an „Unknown Identity“ und „Non-Stop“, die beiden vorherigen Filme des Teams Collet-Serra/Neeson, an.
Das war jetzt schon ziemlich lang, aber eigentlich sind das nur einige Ergänzungen zu meiner Filmbesprechung, die in der Stuttgarter Zeitung erschien.

Run all Night - Plakat

Run all Night (Run all Night, USA 2015)
Regie: Jaume Collet-Serra
Drehbuch: Brad Ingelsby
mit Liam Neeson, Ed Harris, Joel Kinnaman, Boyd Holbrook, Bruce McGill, Genesis Rodriguez, Vincent D’Onofrio, Lois Smith, Common, Beau Knapp, Patricia Kalember, Nick Nolte
Länge: 115 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Film-Zeit über „Run all Night“
Moviepilot über „Run all Night“
Metacritic über „Run all Night“
Rotten Tomatoes über „Run all Night“
Wikipedia über „Run all Night“
Meine Besprechung von Jaume Collet-Serras „Non-Stop“ (Non-Stop, USA 2013)


Neu im Kino/Filmkritik: Der top besetzte Rural-Noir „Auge um Auge“

April 6, 2014

Der deutsche Titel „Auge um Auge“ klingt alttestamentarisch martialisch, während der Originaltitel „Out of the furnace“, wie der Film, nachdenklicher ist. Denn auch wenn es in „Auge um Auge“ eine Rachegeschichte gibt, beginnt sie extrem spät, irgendwann nach der Filmmitte, und sie steuert dann so gradlinig auf diese letzte Konfrontation zwischen Russell Baze (Christian Bale) und Harlan DeGroat (Woody Harrelson) zu, dass offensichtlich ist, dass sie wirklich nicht im Zentrum des Interesses von Regisseur und Drehbuchautor Scott Cooper steht.
Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen den beiden gegensätzlichen, durch ihre Hölle gehenden Brüdern Russell und Rodney Baze Jr. (Casey Affleck), der als Soldat viermal im Irak war, jetzt seine Zeit in Wettbüros verbringt, dort meistens verliert, und sich mit illegalen Faustkämpfen Geld verdient, um seine Schulden zu bezahlen. Russell ist das vernünftige Gegenteil: er arbeitet in Braddock, Pennsylvania, wie schon sein Vater, im Stahlwerk, schiebt Doppelschichten und will mit der Kindergärtnerin Lena Taylor (Zoe Saldana) eine Familie gründen. Er ist vielleicht nicht wirklich zufrieden mit seinem Leben, aber er weiß, was er erreichen kann und eine Anstellung im Stahlwerk ist ja nicht das schlechteste. Er versucht auch seinen Bruder Rodney vor dem Hinterzimmer-Geldverleiher John Petty (Willem Dafoe) zu schützen.
Das gelingt ihm auch ziemlich gut, bis Rodney in den Wäldern von New Jersey kämpfen will. Dort soll um das wirklich große Geld gekämpft werden und er könnte mit einem Kampf schuldenfrei sein. Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit endet mit seinem Tod und der besonnene Russell will den psychopathischen Gangsterboss Harlan DeGroat, der auch die Kämpfe veranstaltet, zur Rechenschaft ziehen.
Das ist wahrlich keine neue Geschichte, aber sie gewinnt durch den präzisen Blick auf das Milieu der kleinen Leute und ihrer Sorgen – auch wenn sie alle von Hollywood-Stars gespielt werden.
„Auge um Auge“ ist ein Noir, wie er von Daniel Woodrell geschrieben sein könnte, und es ist der Versuch, die filmische Version des großen amerikanischen Romans zu erzählen, mit Reminiszenzen an „Die durch die Hölle gehen“ (The Deer Hunter, USA 1978), und der als Epos gerade keine Thriller-Spannung entfalten will. Deshalb gibt es in der ersten Hälfte auch einen längeren Gefängnisaufenthalt von Russell, der betrunken für einen Autounfall mit zwei Toten verantwortlich war. Nach dem Gefängnis hat Lena ihn verlassen, sein Vater ist gestorben, für die Beerdigung hat er keinen Freigang erhalten und natürlich wurde er als Stahlwerker entlassen. Die Stelle erhält er wieder.
Cooper erzählt trotz der Länge – und der für die Rachegeschichte verzichtbaren Gefängnisepisode, – oft elliptisch. So gibt es zwischen dem tödlichen Autounfall und Russells erstem Bild aus dem Gefängnis (das zuerst nur erkennbar an dem Schriftzug auf seiner Kleidung ist) keine verbindenden Szenen. Dass Russells Vater gestorben ist, erfahren wir auch auch erst, nachdem er nach seinem längeren Gefängnisaufenthalt (wie lange, erfahren wir nicht) das Grab besucht. In diesen Momenten hinterlässt Coopers elliptische Erzählweise das Gefühl, dass einige verbindende Szenen wenig elegant herausgeschnitten wurden, damit der Film nicht zu lang wird. Auch die Rolle von Forest Whitaker als Lenas neuer Freund und Ortssheriff ist für so einen bekannten und guten Schauspieler sehr klein ausgefallen.
Letztendlich hat „Auge um Auge“ vieles, was für ihn spricht, ohne wirklich hundertprozentig zu überzeugen, was auch an der extrem vorhersehbaren Geschichte, die eigentlich erst nach einer Stunde beginnt, liegt.
In der in seinem Blick auf die Schattenseite des amerikanischen Traums ähnlich düsteren Daniel-Woodrell-Verfilmung „Winter’s Bone“ beginnt die Hauptgeschichte viel früher und der Film ist auch viel kraftvoller als „Auge um Auge“. Aber Woodrell und Debra Granik, die den Roman verfilmte, wollten auch nur eine Geschichte erzählen, während Cooper eindeutig nach Höherem strebt.

Auge um Auge - Plakat - 4

Auge um Auge (Out of the Furnace, USA 2013)
Regie: Scott Cooper
Drehbuch: Scott Cooper, Brad Ingelsby
mit Christian Bale, Casey Affleck, Woody Harrelson, Willem Dafoe, Forest Whitaker, Zoe Saldana, Sam Shepard
Länge: 116 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Auge um Auge“
Moviepilot über „Auge um Auge“
Metacritic über „Auge um Auge“
Rotten Tomatoes über „Auge um Auge“
Wikipedia über „Auge um Auge“ (deutsch, englisch)

Und die immer hörenswerten DP/30-Interviews

mit Scott Cooper und Woody Harrelson

Christian Bale

Casey Affleck