Neu im Kino/Filmkritik: Über Cédric Klapischs „Die Farben der Zeit“

August 14, 2025

Die Ein-Satz-Beschreibung für Cédric Klapischs neuesten Film ist: Wenn Ihnen „The Life of Chuck“ gefallen hat, wird Ihnen „Die Farben der Zeit“ gefallen. Aber nicht jeder hat die erst seit einigen Tagen ziemlich erfolgreich im Kino laufende Stephen-King-Verfilmung „The Life of Chuck“ (kein Horrorfilm) gesehen, und der Vergleich bezieht sich nur auf die sehr ähnliche Stimmung und Erzählweise. Beide Filme sind zutiefst humanistisch und äußerst freundlich in ihrer Grundstimmung. Sie sind assoziativ und verspielt erzählt. Dabei nehmen sie gerne Abschweifungen und Umwege in Kauf.

Aber die Filme erzählen vollkommen verschiedene Geschichten. Während „The Life of Chuck“ sich auf eine Person konzentriert, deren Leben rückwärts erzählt wird, ist „Die Farben der Zeit“ ein auf zwei klar voneinander getrennten Zeitebenen spielender Ensemblefilm.

In der Gegenwart erfahren ungefähr fünfzig Menschen, die über den gesamten Globus verstreut leben und sich bislang nicht kannten, dass sie in der Normandie ein kleines, verfallenes Landhaus geerbt haben. Auf dem Grundstück soll ein Einkaufszentrum entstehen. Die Erben sollen dem Verkauf des Landes an die Stadt zustimmen. Aus ihren Reihen wählen sie vier Vertreter, die sich das Haus und das Gelände ansehen sollen. Es sind der junge, in Paris bei seinem Großvater lebende, leicht versponnene Fotograf/Videokünstler/Content Creator Seb (Abraham Wapler), der leutselige Bienenzüchter Guy (Vincent Macaigne), der kurz vor der Pensionierung stehende Lehrer Abdelkrim (Zinedine Soualem) und die zunächst unnahbare Geschäftsfrau Céline (Julia Platon). In dem Gebäude entdecken sie viele um die Jahrhundertwende entstandene Fotografien und Gemälde.

Diese Bilder sind der Ausgangspunkt für den zweiten Handlungsstrang. 1895, nach dem Tod ihrer Großmutter, beschließt Adèle (Suzanne Lindon) nach Paris zu reisen. Die 21-jährige will herausfinden, wer ihre Mutter ist. Sie hat Adèle unmittelbar nach der Geburt weggeben, jeden Monat einen festen Geldbetrag gezahlt und sich nie gemeldet. Auf ihrer Reise nach Paris trifft Adèle die Freunde Anatole (Paul Kircher) und Lucien (Vassili Schneider). Der eine ist ein Maler (mit einem Hang zum Impressionismus). Der andere ein Fotograf, der Anatole damit aufzieht, dass die Fotografie bald die Malerei ersetzen werde. Zu dritt erkunden sie, an „Jules und Jim“ in ihrer glücklichen Zeit erinnernd, Paris.

Klapisch wechselt flüssig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In ihr lernen die vier Interessenvertreter für die Erbengemeinschaft sich besser kennen. Nach anfänglichem Zögern interessieren sie sich immer mehr für das Leben der anderen. Und sie entdecken in dem Haus ein bis dahin unbekanntes impressionistisches Gemälde. Es sieht gut aus, aber ist es in irgendeiner Beziehung wertvoll?

Die Farben der Zeit“ ist ein wundervolles, positiv stimmendes Stimmungsstück. Schon der Anfang, wenn Museumsbesucher vor den großen Gemälden in Zeitlupe durch ein Museum schweben, verzaubert. Dieser Zauber hält an und am Ende sieht man die Welt mit etwas impressionistischeren Augen.

Die Farben der Zeit (La Venue de l´avenir, Frankreich 2025)

Regie: Cédric Klapisch

Drehbuch: Cédric Klapisch, Santiago Amigorena

mit Suzanne Lindon, Abraham Wapler, Vincent Macaigne, Julia Piaton, Zinedine Soualem, Paul Kircher, Vassili Schneider, Sara Giraudeau, Cécile de France

Länge: 127 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

AlloCiné über „Die Farben der Zeit“

Moviepilot über „Die Farben der Zeit“

Metacritic über „Die Farben der Zeit“

Rotten Tomatoes über „Die Farben der Zeit“

Wikipedia über „Die Farben der Zeit“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Cédric Klapischs „Einsam Zweisam“ (Deux moi, Frankreich 2019)

Meine Besprechung von Cédric Klapischs „Das Leben ein Tanz“ (En Corps, Frankreich 2022)


Neu im Kino/Filmkritik: Für Cédric Klapisch ist „Das Leben ein Tanz“ voller Möglichkeiten

September 10, 2022

Elise Gautier ist jung. Sie tanzt durch das Leben. Als Balletttänzerin. Und sie steht kurz vor dem großen Durchbruch. Da sieht sie während einer Aufführung von „La Bayadère“ (Die Tempeltänzerin), wie ihr Freund sie mit einer anderen Tänzerin betrügt. Kurz darauf stürzt sie auf der Bühne unglücklich. Sie verletzt sich am Knöchel.

Ihre Ärztin empfiehlt ihr eine zweijährige Auszeit. In dieser Zeit kann die Verletzung am Knöchel vollständig heilen. Elise will diesen Ratschlag nicht akzeptieren. Sie ist jetzt 26 Jahre. Sie muss jetzt tanzen. In zwei Jahren, mit dann fast dreißig Jahren, ist sie zu alt.

Trotzdem und notgedrungen, weil sie im Moment kaum gehen, geschweige denn Tanzen kann, nimmt sie eine Auszeit. Der Koch Loïc und seine Freundin nehmen sie mit zu einem in der Bretagne liegendem Künstlerwohnheim. Dort hilft sie ihnen etwas beim Kochen und beobachtet die anderen Künstler, die in der Herberge einige Zeit verbringen. Unter anderem ein Tanzensemble, das nicht klassisches Ballett, sondern modernes Ballett tanzt.

Es ist die renommierte (real existierende) Hofesh Shechter Dance Company. Sie probt ihr Stück „Political Mother: The Choreographer’s Cut“. Hofesh Shechter bietet Elise an, mit ihnen zu tanzen.

1961. Das ist wahrscheinlich die erstaunlichste Zahl bei Cédric Klapischs neuem Film „Das Leben ein Tanz“. 1961 wurde Klapisch geboren. Er ist jetz in dem Alter, in dem andere Regisseure Filme über Eltern und ihre Probleme mit ihren erwachsenen Kindern oder über den Tod des geliebten Partners und die darauf folgende Trauer oder über das Ende des Arbeitslebens und den Ruhestand erzählen. Es sind Filme für Gleichaltrige, die die Jahre bis zu ihrer Beerdigung zählen und in denen sie sich wehmütig an ihre Jugend erinnern.

Nicht so bei Cédric Klapisch. Sein Film ist durch und durch jugendlich. Er versprüht die Kraft und den Optimismus der Jugend. Es geht darum, Chancen zu ergreifen und seinem Leben eine neue Richtung geben.

Gleichzeitig ist „Das Leben ein Tanz“ ein fulminanter Ballettfilm. Zuerst porträtiert Klapisch ausführlich die Welt des klassischen Balletts. Mit vielen Balletttänzern. Auch Elise wird von einer Tänzerin gespielt. Marion Barbeau ist seit 2018 ist Erste Tänzerin des

Balletts der Opéra National de Paris. „Das Leben ein Tanz“ ist ihr Schauspieldebüt. Danach, in dem Künstlerhotel, zeigt Klapisch eine ganz andere, von ihm ebenfalls geliebte Art des Balletts. Elise, die auf das klassische Ballett schwört, lehnt das moderne Ballett als mindere Tanzform zunächst heftig ab. Dann beobachtet sie das Ensemble, wird zum Mittanzen eingeladen und tanzt, zunächst zögernd, mit. Klapisch verlässt sich in den Szenen darauf, dass das Zeigen des modernen Tanzes auch beim Zuschauer ausreicht, um zu verstehen, wie Elise ihre Meinung ändert und was sie im modernen Ballett entdeckt. Außer der Freude, sich wieder bewegen zu können. Mit Mehdi, in den sie sich auch verliebt.

Neben den ausführlich gezeigten Tanzszenen, umgibt Klapisch Elise von einem Ensemble sympathischer Figuren. Das sind, vor allem, Loïc, der sie bekocht, sich immer wieder heftig mit seiner Freundin streitet und versöhnt, die Herbergsmutter Josiane, deren Talent darin besteht, Künstlern einen Ort für Kreativität zu geben, Elises verständnisvoller New-Age-Psychotherapeut Yann, der unsterblich in Elise verliebt ist und die seine Gefühle ignoriert, und Elises Vater, der als Witwer mit drei erwachsenen Töchtern, immer noch an erster Stelle Anwalt und Büchernarr ist.

Das macht „Das Leben ein Tanz“ zu einer wunderschönen Liebeserklärung an das Ballett und einem lebensbejahendem und witzigem Musical.

Das Leben ein Tanz (En Corps, Frankreich 2022)

Regie: Cédric Klapisch

Drehbuch: Cédric Klapisch, Santiago Amigorena

mit Marion Barbeau, Hofesh Shechter, Denis Podalydès, Muriel Robin, Pio Marmaï, François Civil, Souheila Yacoub, Mehdi Baki

Länge: 118 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Das Leben ein Tanz“

AlloCiné über „Das Leben ein Tanz“

Rotten Tomatoes über „Das Leben ein Tanz“ (aktuell noch keine Kritiken)

Wikipedia über „Das Leben ein Tanz“

Meine Besprechung von Cédric Klapischs „Einsam Zweisam“ (Deux moi, Frankreich 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Einsam Zweisam“ und am Ende…

Dezember 19, 2019

Mélanie Brunet (Ana Girardot) und Rémy Pelletier (François Civil) leben in Paris im18. Arrondissement Tür an Tür. Trotzdem laufen sie immer aneinander vorbei, was in einer Großstadt nicht ungewöhnlich ist. Umgekehrt kennt man schnell die Menschen, die den gleichen Bus benutzen, die Verkäufer und Security-Mitarbeiter in den Geschäften, die Postboten und auch die Drogensüchtigen und Obdachlosen. Der Kontakt endet meistens schon vor einem wieder erkennendem und begrüßendem Kopfnicken.

Weil „Einsam Zweisam“ ein Spielfilm ist und weil es ein französischer Spielfilm ist, weiß man schon in den ersten Filmminuten (ach, eigentlich genügt ein Blick auf das Plakat), dass Mélanie und Rémy füreinander bestimmt sind und sie sich spätestens am Filmende begegnen werden.

Bis dahin zeichnet Cédric Klapisch („… und jeder sucht sein Kätzchen“, „L’auberge espagnole – Barcelona für ein Jahr“, „Der Wein und der Wind“) ein äußerst feinfühliges Doppelporträt von zwei schüchternen Menschen und des Stadtviertels, zu dem sie nur zum Schlafen und Einkaufen bei dem gut vernetzten und etwas bauernschlauem Chef eines kleinen Lebensmittelgeschäfts. Weitere Lebenshilfe erhalten Rémy und Mélanie, die beide in einer Depression stecken, von ihren Therapeuten, die auch etwas miteinander verbindet.

Klapisch erzählt in seinem herzerwärmendem Drama die Geschichte vor dem ersten Zusammentreffen, das auch der Beginn einer Liebe sein kann. Es ist, nachdem im Kino die traditionellen Weihnachtsfilme von den Disney-Filmen („Star Wars“!) vertrieben wurden, ein herzerwärmender Weihnachtsfilm ohne den oft unerträglichen Nikolaus-Christkind-Enkel-Kitsch älterer Weihnachtsfilme.

Einsam Zweisam (Deux moi, Frankreich 2019)

Regie: Cédric Klapisch

Drehbuch: Santiago Amigorena, Cédric Klapisch

mit François Civil, Ana Girardot, Camille Cottin, François Berléand, Simon Abkarian, Eye Haidara, Rebecca Marder

Länge: 110 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Einsam Zweisam“

AlloCiné über „Einsam Zweisam“

Rotten Tomatoes über „Einsam Zweisam“

Wikipedia über „Einsam Zweisam“