TV-Tipp für den 20. Februar: Good bye, Lenin!

Februar 19, 2023

Arte, 20.15

Good bye, Lenin! (Deutschland 2003)

Regie: Wolfgang Becker

Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker

Als Mutter Kerner ins Koma fällt, gibt es die DDR noch. Als sie wieder wach wird, gibt es sie nicht mehr. Aber weil sie eine ultrastramme Kommunistin ist und ihr Arzt meint, auch die kleinste Aufregung könne sie töten, lässt ihr Sohn Alex die DDR wieder aufleben. Das entwickelt sich schnell zu einer Herkulesaufgabe.

Die süffige, warmherzige DDR-Komödie war vor zwanzig Jahren (der Kinostart war, wenige Tage nach der Berlinale-Premiere, am 13. Februar) ein unglaublicher Kassenerfolg. In Deutschland wurden 6,4 Millionen Kinotickets verkauft. Der erfolgreichste Kinofilm des Jahres war, mit 7,7 Millionen Zuschauern, „Findet Nemo“. Auf dem zweiten Platz folgte „Der Herr der Ringe 3“ und auf dem dritten Platz „Good bye, Lenin!“.

Anschließend, um 22.10 Uhr, zeigt Arte die gut einstündige, brandneue Doku „Daniel Brühl“.

mit Daniel Brühl, Katrin Sass, Florian Lukas, Chulpan Khamatova, Maria Simon, Alexander Beyer, Burghart Klaußner, Michael Gwisdek

Hinweise

Filmportal über „Good bye, Lenin!“

Rotten Tomatoes über „Good bye, Lenin!“

Wikipedia über „Good bye, Lenin!“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Wolfgang Beckers Daniel-Kehlmann-Verfilmung „Ich und Kaminski“ (Deutschland/Belgien 2015)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ in Kirill Serebrennikovs Alexei-Salnikow-Verfilmung

Januar 26, 2023

Erstens: Kirill Serebrennikovs neuer Film beginnt mit dem Hinweis, in dem Film seinen Szenen, in denen geraucht und Alkohol getrunken werde. Nun, ob diese zutreffende Warnung für Sechzehnjährige (der Film ist hier „frei ab 16 Jahre“) wirklich nötig ist, bezweifle ich ernsthaft. Außerdem, wenn es schon gut gemeinte Warnungen gibt, hätten die Macher auch gleich auf die teils sehr graphisch gezeigte Gewalt, längere Nacktszenen, vulgäre Sprache und die konstante Reizüberflutung hinweisen können. Und da sind wir noch lange nicht beim Inhalt angelangt. Vor dem könnte auch noch gewarnt werden. Denn dieser ist ziemlich verstörend. Jedenfalls für alle, die glauben, Russland sei ein Paradies, in dem jeder gerne leben möchte.

Aber wahrscheinlich ist die Warnung nur ein Witz über idiotische Triggerwarnungen – oder bei russischen Filmen eine Auflage, die erfüllt werden muss, um den Film dort im Kino zeigen zu dürfen.

Zweitens: Kirill Serebrennikov ist Russe und einer der wichtigsten zeitgenössischen russischen Regisseure.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem knappen Jahr wird ja darüber diskutiert, ob deswegen auch russische Künstler und Kunst boykottiert werden sollten. Wer dies etwas differenzierter tut, muss zur Kenntnis nehmen, dass Serebrennikov kein Putin-Freund, sondern schon seit Jahren ein wortstarker Putin-Kritiker ist. Mit offensichtlich fingierten Beschuldigungen wurde er angeklagt und verurteilt. Er stand jahrelang unter Hausarrest und er durfte das Land nicht verlassen. Seine Arbeiten wurden, wenig überraschend, von der Regierung als systemkritisch eingestuft.

Selbstverständlich kritisiert Serebrennikov den völkerrechswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Seit April 2022 lebt er in Berlin.

In dem Moment hatte er seinen neuen Film bereits abgedreht. In Cannes wurde „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ bereits 2021 im Wettbewerb gezeigt.

Im Mittelpunkt der schwarzhumorigen Satire steht, naja eher taumelt und schneuzt Petrow sich in den ruhigen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester durch Jekaterinburg. Er fährt Bus. Er trifft seinen alten Freund Igor und gemeinsam begeben sie sich in einem Leichenwagen, in dem gerade in einem Sarg eine Leiche befördert wird, auf eine ausgedehnte Sauftour.

Währenddessen schlägt sich Petrows Frau, eine Bibliothekarin, mit einem Lesekreis herum, kocht und verletzt ihren Sohn. Auch sie erkrankt und fantasiert.

Ihrem Sohn ergeht es nicht besser. Aber er will unbedingt ins Theater zum Jolkafest, dem sowjetischen und jetzt russischen Äquivalent zu einer hiesigen Weihnatsshow.

Petrov’s Flu“ ist wie ein Fiebertraum, in dem die Figuren sich immer wieder an vergangene Ereignisse erinnern, fantasieren und durch die Stadt stolpern. Im Film und in Alexei Salnikows Roman „Petrow hat Fieber“, den Serebrennikov verfilmte, bewegen Petrow und Petrowa sich zwar ständig durch die Stadt, aber eine konventionelle Geschichte ergibt sich daraus nicht. Ihre Bewegungen sind eher ziellos und immer wieder verändern Zufälle ihren ursprünglich geplanten Weg. Es wird munter vor sich hin assoziiert. Einige Figuren und Themen tauchen öfter auf. Einige Ereignisse werden zu einem späteren Zeitpunkt aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

Dabei folgt Serebrennikov Salnikows Roman ziemlich präzise. Auch wenn er einiges weglässt und einige Episoden verschiebt. Der größte Unterschied ergibt sich aus seiner Erzählweise. Der sehr russische Roman ist doch etwas langsam und fast schon langweilig realistisch erzählt. Obwohl die Geschichte in der Gegenwart spielt und es zahlreiche Anspielungen auf die US-Popkultur gibt (so werden „Matrix“ und „Fight Club“ erwähnt), könnte sie genausogut vor vierzig, fünfzig oder sogar hundert Jahren spielen. Der trinkfreudige Petrow und seine ebenso trinkfreudigen Freunde verkörpern genau das Bild, das wir von Russland haben. Die unhöfliche, die Fahrgäste beleidigende Schaffnerin und die abgeranzten Wohnungen strahlen genau den autoritätshörigen Mief aus, den wir mir der untergegangenen Sowjetunion und ihrer konstanten Mangelwirtschaft verbinden.

Im Film wird daraus eine Dystopie, die ein Land lange nach seinem Zerfall in einem Zustand hysterischer Ohnmacht zeigt. Serebrennikov zeigt diesen rasenden Stillstand in oft extrem langen Takes als eine konstante Reizüberflutung. Das gilt sogar für die wenigen ruhigen Szenen.

Das ist ein ziemlich furioser und die Sinne überwältigender Trip. Auch ohne Alkohol und Rauschwaren. Mit zweieinhalb Stunden ist diese kaum verhüllte Zustandsbeschreibung eines im Chaos vor sich hin taumelnden Reiches aber deutlich zu lang geraten. Eine halbe Stunde weniger wäre mehr gewesen.

Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber (Petrovy v grippe, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021)

Regie: Kirill Serebrennikov

Drehbuch: Kirill Serebrennikov

LV: Alexei Salnikow: Petrovy v grippe i vokrug nego, 2016 (Petrow hat Fieber)

mit Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn, Aleksandr Ilyin, Sergey Dreyden, Olga Voronina, Timofey Tribuntsev, Semyon Steinberg, Georgiy Kudrenko

Länge: 152 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

Alexei Salnikow: Petrow hat Fieber – Gripperoman

(übersetzt von Bettina Kaibach)

Suhrkamp, 2022

368 Seiten

25 Euro

Originalausgabe

Petrovy v grippe i vokrug nego

AST/Redakcija Elena Subina, 2016

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Moviepilot über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Metacritic über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Rotten Tomatoes über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“

Wikipedia über „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“ (deutsch, englisch)

Perlentaucher über den Roman „Petrow hat Fieber“

Meine Besprechung von Kirill Serebrennikovs „Leto“ (Leto, Russland/Frankreich 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: „Nurejew – The White Crow“ besucht Paris und entdeckt die Freiheit

Oktober 2, 2019

Im Mai 1961 gibt das renommierte Leningrader Kirow-Ballett ein fünfwöchiges Gastspiel in Paris. Am Ende des Gastspiels bittet der Tänzer Rudolf Nurejew um Asyl.

Am Anfang von „Nurejew – The White Crow“ muss Ballettmeister Alexander Puschkin einem Apparatschik erklären, warum sein Schüler Nurejew aus dem kapitalistischen Westen nicht zurückkehrte. Puschkin versucht das zu erklären und Ralph Fiennes, der Puschkin spielt, setzt zu einer langen Erklärung an, die mit Nurejews Geburt im März 1938 in der Transsibirischen Eisenbahn irgendwo in der Nähe von Irkutsk beginnt, über seine 1955 beginnende Ausbildung am Choreographischen Institut Leningrad weitergeht und 1961 mit seiner Flucht in den Westen endet. Im Westen hatte der am 6. Januar 1993 verstorbene Tänzer eine glänzende Karriere.

Fiennes‘ dritter Spielfilm ist eine etwas spröde Charakterstudie, die auch Nurejews problematische Charaktereigenschaften zeigt. Im Original wurde sie in russisch und englisch gedreht. Gefühlt wird dabei mehr russisch als englisch gesprochen. Englisch war die Sprache, in der Nurejew sich in Paris mit seinen französischen Bekanntschaften aus der Bohème, vor allem dem Tänzer Pierre Lacotte und die Chilenin Clara Saint, unterhielt. Für die deutsche Fassung wurde anscheinend alles synchronisiert.

Optisch erinnert das Drama an die Filme aus den frühen sechziger Jahren, wobei die Inszenierung gelungen wechselt zwischen der alles umfassenden Strenge und den starren Regeln in der Sowjetunion, gegen die Nurejew immer wieder aufbegehrt, und der inszenatorischen Freiheit der Nouvelle Vague, die mit entfesselter Kamera durch Paris läuft. So spiegeln die Bilder die beiden Systeme und Nurejews Sicht von der Welt. Denn er sah sich nie – und war es auch nicht – als unauffälliges Ensemblemitglied. Er wollte immer der Star, der umjubelte Solotänzer, sein, der er im Westen wurde.

Nurejew wird von Oleg Ivenko in seiner ersten Filmrolle gespielt. Seit 2010 ist der ausgebildete Balletttänzer Ivenko Ensemblemitglied des „Tatar State Academic Opera and Ballet Theatre“. Daher kann Fiennes in den Ballettszenen die Tänzer ausführlich zeigen und er muss nicht zwischen ausgebildeten Tänzern und Schauspielern hin und her schneiden.

Das Ballettdrama wirkt dabei, wegen der Inszenierung, dem Aussehen der Schauspieler, den Dekors und den Schauplätzen, wie ein damals verschollener und heute wieder entdeckter Film.

Nurejew – The White Crow (The White Crow, Großbritannien/Frankreich/Serbien 2018)

Regie: Ralph Fiennes

Drehbuch: David Hare

mit Oleg Ivenko, Adèle Exarchopoulos, Chulpan Khamatova, Ralph Fiennes, Alexey Morozov, Raphaël Personnaz, Olivier Rabourdin, Louis Hofmann, Sergei Polunin, Maksimilian Grigoriyev

Länge: 127 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Moviepilot über „Nurejew – The White Crow“

Metacritic über „Nurejew – The White Crow“

Rotten Tomatoes über „Nurejew – The White Crow“

Wikipedia über „Nurejew – The White Crow“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ralph Fiennes‘ „The Invisible Woman“ (The Invisible Woman, Großbritannien 2013)