Neu im Kino/Filmkritik: „Superman“, Hundeliebhaber und…

Juli 10, 2025

Lassen wir die ganze Vorgeschichte mit Neu- und Fehlstarts, Reboots und wasauchimmer weg. Es gibt, nach Christoper Reeve, Brandon Routh und Henry Cavill einen neuen Kino-Superman. David Corenswet heißt er und bislang trat er als Schauspieler primär in TV-Serien und Nebenrollen auf. In seiner Filmographie stehen „The Politician“, „Hollywood“, „We own the City“, Pearl“ und „Twisters“.

James Gunn inszenierte nach seinem Drehbuch die Geschichte, die auf die sattsam bekannte Origin Story verzichtet und gleich mitten im Geschehen beginnt. Genaugenommen beginnt sie drei Sekunden nachdem Superman in einem Kampf zum ersten Mal besiegt wird. In seiner im Eis liegenden Festung der Einsamkeit lässt er sich zusammen flicken. Danach geht es in die nächste Runde gegen die von Lex Luthor (Nicholas Hoult) gesteuerte Kampfmaschine. Der unglaublich reiche Unternehmer will Superman unbedingt töten. Gleichzeitig engagiert er sich in Osteuropa. Dort hat gerade ein von ihm militärisch unterstützter Staat seinen Nachbarn überfallen. Zu seinem Ärger griff Superman auf der Seite des überfallenen Landes in den Konflikt ein und drängte die Invasoren für den Moment zurück.

Um diesen im Zentrum stehenden Konflikt gruppiert Gunn weitere kleinere Konflikte, in die eine fast schon unüberschaubare Zahl von Superhelden und Superbösewichtern involviert sind. Unter anderem treten ‚Green Lantern‘ Guy Gardner (Nathan Fillion mit einer schon jetzt legendär verunglückten Frisur), Mister Terrific (Edi Gathegi), Hawkgirl (Isabela Merced), Metamorpho (Anthony Carrigan), ‚The Engineer‘ Angela Spica (Maria Gabriela de Faría) und Eve Teschmacher (Sara Sampaio) auf. Ihnen allen gibt Gunn einprägsame Auftritte.

Dieses Mal hat Superman mit dem Hund Krypto einen Begleiter, der ihm in der einen Sekunde rettet, danach abschlabbert und eine Sekunde später beißt. Er ist ein immer als CGI-Hund erkennbarer Comic Relief, der für einige Lacher sorgt. Das reale Vorbild für Krypto war ein von James Gunn adoptierter Hund, der sich ähnlich psychotisch verhielt.

Und natürlich muss Superman in Metropolis auch als harmloser ‚Daily Planet‘-Journalist Clark Kent auftreten und sich mit seiner großen Liebe Lois Lane (Rachel Brosnahan), wie in einer Screwball-Comedy, zoffen. Sie, und anscheinend halb Metropolis, weiß, dass Kent Superman ist.

Gunn, der Regisseur der drei „Guardians of the Galaxy“-Filmen und von „The Suicide Squad“, inszeniert dies gewohnt humorvoll, pointensicher, brutal und mit einigen überraschenden Wendungen und Enthüllungen. Dabei behält er immer den Überblick über seine im Gedächtnis bleibenden Figuren, die realen und fantastischen Orte (wie das Taschenuniversum) und die verschiedenen Handlungsstränge. Das hat ziemlich genau die Qualität, die man von dem Regisseur von „The Suicide Squad“ erwarten kann: schnörkellose, angenehm respektlose Superheldenunterhaltung von einem Nerd für andere Nerds und das breite Publikum.

Interessant wird sein „Superman“ durch seinen Blick auf den von dem Planeten Krypton kommenden einzigen Überlebenden dieses Planeten.

Er beraubt Superman des weltentrückt-vergeistlichten Pathos, das er in früheren Filmen hatte. Und er trennt die Figur Superman von dem Bild, das er für die Menschheit verkörperte. Superman war in der Vergangenheit nicht nur der an das Gute glaubende Kämpfer für eine bessere Welt und Beschützer der Menschheit, sondern auch die Verkörperung des Bildes das USA von sich hat.

Er repräsentiert in „Superman“ nicht mehr das Land, in dem er lebt, sondern nur noch sich selbst. Oder die ganze Welt, die zu einem friedlichen Ort werden soll.

Diese Trennung verändert auch die anderen Figuren in Supermans Welt und die Strukturen der Welt. Lex Luthor ist nicht mehr der größenwahnsinnige Milliardär und Comic-Bösewicht, der irgendetwas in den USA zerstören will, sondern ein auch in der Rüstungsindustrie, dem Betrieb von Gefängnissen und militärischer und möglicherweise ziviler Forschung aktiver Unternehmer, der die Menschheit vor Gefahren retten will. Eine dieser Gefahren ist Superman, ein aus dem Weltraum kommender, unbesiegbarer, mit Superkräften ausgestatteter, selbsternannter Heilsbringer. Er ist sozusagen die Verkörperung von Gottes Sohn, die behauptet, den Menschen helfen zu wollen. Aber stimmt das? Luthor arbeitet bei der Umsetzung seiner Ziele mit der US-amerikanischen Regierung zusammen.

Und schon drängt sich – auch wenn das von den Machern bei den Dreharbeiten so nicht geplant sein konnte – eine politische Lesart des Films auf, die erstaunlich präzise die aktuelle Situation in den USA beschreibt.

James Gunn zeigt Bilder, die aus den Nachrichten stammen könnten. So wird Superman, als er sich freiwillig stellt, von Polizisten brutal auf den Boden gepresst. Später kommt er in ein Gefängnis, das von Lex Luthor im Auftrag der Regierung geführt wird. Nach außen ist es ein drakonisch geführtes militärisches Zeltlager abseits der Zivilisation. Nach innen ist es ein Verlies. Aus dem Verlies sollen die mehr oder weniger illegal gehaltenen Gefangenen niemals wieder entkommen.

In den realen Nachrichten wird in den Trump-USA gegen Ausländer gehetzt, Razzien von vermummten, schwerbewaffneten ICE-Agenten durchgeführt, über Kasernierungen an möglichst ungastlichen und abgelegenen Orten nachgedacht und Abschiebungen ohne ein reguläres Gerichtsverfahren in andere Länder durchgeführt. In dieser Politik sind Grausamkeit und Menschenverachtung kein individuelles Versagen, sondern Absicht und Ziel der Maßnahme. Die Zusammenarbeit zwischen dem Staat und davon profitierenden Unternehmen ist folgerichtig. Von all den Milliardären, die sich in Trumps Umfeld befinden, ist Elon Musk die schillerndste Figur. Sie wirkt wie eine realweltliche Version von Lex Luthor.

Die gegen das Völkerrecht verstoßende Besetzung eines Landes ist dann nicht mehr ein in einem filmischen Nirgendwo stattfindender Konflikt, sondern ein erstaunlich präziser Kommentar zum Ukraine-Krieg und den unterschiedlichen Interessen an dem Kriegsgebiet. Wenig überraschend heizt Luthor den Konflikt mit seinen Waffen an. Es gibt wertvolle Rohstoffe im Kriegsgebiet, die er haben möchte.

In dem Film bleibt es bei der Zustandsbeschreibung. Eine politische Analyse und damit verbundene Lösungsvorschläge gibt es nicht. Die von Gunn vorgeschlagene Lösung bleibt im Rahmen des Superheldenkinos: Superman und weitere Metawesen (vulgo Superhelden) sorgen künftig für Recht und Ordnung. Für die Realität ist das natürlich keine Lösung.

Insgesamt ist James Gunns „Superman“ eine sehr interessante Neuinterpretation von Superman. Er wirft Ballast weg. Es gibt Humor, Anspielungen auf andere Superhelden-Comics und -Filme, einige überraschende Wendungen und reichlich Action.

P. S.: Es gibt nach dem Abspann eine witzige, für diesen oder den nächsten Film nicht essenzielle Szene.

 

Superman (Superman, USA 2025)

Regie: James Gunn

Drehbuch: James Gunn (basierend auf der von Jerry Siegel und Joe Shuster erfundenen Figur)

mit David Corenswet, Rachel Brosnahan, Nicholas Hoult, Nathan Fillion, Edi Gathegi, Isabela Merced, Anthony Carrigan, Maria Gabriela de Faría, Skyler Gisondo, Wendell Pierce, Mikaela Hoover, Beck Bennett, Sara Sampaio, Alan Tudyk, Bradley Cooper, Michael Rooker, Pom Klementieff, Pruitt Taylor Vince, Neva Howell, Frank Grillo, Jake Tapper, John Cena (teils nur Cameos oder weniger)

Länge: 129 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Superman“

Metacritic über „Superman“

Rotten Tomatoes über „Superman“

Wikipedia über „Superman“ (deutsch, englisch)

zu Filmen

Meine Besprechung von Zack Snyders „Batman v Superman: Dawn of Justice“ (Batman v Superman: Dawn of Justice, USA 2016)

Meine Besprechung von Zack Snyder/Joss Whedons (ungenannt) „Justice League“ (Justice League, USA 2016)

Meine Besprechung von Ian Bonhôte/Peter Ettedguis „Super/Man: The Christopher Reeve Story“ (Super/Man: The Christopher Reeve Story, USA 2024)

Meine Besprechung von James Gunns „Guardians of the Galaxy“ (Guardians of the Galaxy, USA 2014) und der DVD

Meine Besprechung von James Gunns „Guardians of the Galaxy Vol. 2“ (Guardians of the Galaxy Vol. 2, USA 2017)

Meine Besprechung von James Gunns „The Suicide Squad“ (The Suicide Squad, USA 2021)

Meine Besprechung von James Gunns „Gurdians of the Galaxy: Vol. 3“ (Guardians of the Galaxy Vol. 3, USA 2023)

zu Büchern

Meine Besprechung von Greg Ruckas “Die Welt ohne Superman” (The Sleepers, 2009)

Meine Besprechung von Greg Rucka/Mike Perkins‘ „Lois Lane – Reporterin im Fadenkreuz“ (Lois Lane: Enemy of the People, Part One – Part Twelve, September 2019 – September 2020)

Meine Besprechung von Alan Moore/Curt Swans „Superman: Was wurde aus dem Mann von Morgen?“ (Whatever happened to the Man of Tomorrow, 1986; The Jungle Line, 1985, For the Man who has everything…, 1985)


Neu im Kino/Filmkritik: „Twisters“ in Oklahoma, Tornados und Liebe im Kino

Juli 17, 2024

Beginnen wir dieses Mal mit ungefähr anderthalb Vorinformationen: In „Twisters“ gibt es keine fliegenden Kühe. Und „Twisters“ ist, auch wenn der Film als „Sequel“ vermarktet wird, keine irgendwie geartete Fortsetzung von „Twister“. Da sind manche Rip-Offs, Kopien, Plagiate oder wie wir sie gerade diesen Monat nennen wollen, näher am Original als dieser Film. Sicher, hinter der Kamera gibt es vor allem bei der Produktionsfirma und dem Verleih eine Kontinuität, die die Titelwahl erklärt und im Film kann man auch ein, zwei Hinweise auf Jan de Bonts Blockbuster „Twister“ von 1996 entdecken. Mal offensichtlicher, wie „Dorothy V“ im Prolog, oder, einmal, die funktionale Kleidung der Heldin, mal wirklich versteckt, wie ein Cameo von Bill Paxtons Sohn James Paxton. Bill Paxton spielte in „Twister“ eine der Hauptrollen, den Sturmjäger Bill Harding. Diese Kleinigkeiten ändern nichts daran, dass die Macher von „Twisters“ einfach eine vollkommen eigenständige Geschichte über Tornadojäger in den USA erzählen, in der es, wie in anderen Filmen mit Tornados, vor allem um die Tornados geht.

Als Regisseur wurde Lee Isaac Chung engagiert. Von ihm ist das sehenswerte Einwandererdrama „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“. Feinfühlig erzählt er seine und die Geschichte seiner Familie in den achtziger Jahren in Arkansas. Mit ihm könnte ein als Sommer-Blockbuster geplanter Film mehr als Spektakel sein. Aber anderseits haben viele Indie-Regisseure in den vergangenen Jahren atemberaubend schnell ihre Seele an austauschbare Superheldenfilme verraten; – und rückblickend waren ihre Superheldenfilme dann die schlechteren Superheldenfilme. Erinnert sei an Chloé Zhaos „Eternals“ und Nia DaCostas „The Marvels“.

Drehbuchautor Mark L. Smith schrieb, meist mit anderen Autoren, die Drehbücher für „The Revenant“, „Operation: Overlord“ und „Das Erwachen der Jägerin“ (The Marsh King’s Daughter). Bis auf „The Revenant“ (wobei hier Regisseur Alejandro G. Iñárritu den entscheidenden Anteil hat) ist kein künftiger Klassiker dabei, aber einige interessante Wendungen dürften ihm schon einfallen.

Im Mittelpunkt von „Twisters“ stehen zwei Gruppen von Tornadojägern: die eine Gruppe wird von Tyler Owens (Glen Powell) angeführt. Er und seine Gruppe sind Hasardeure, für die die Fahrt mitten in einen Sturm ein großer Spaß ist, den sie auf YouTube vermarkten. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein gut gebauter, arroganter, dummer Hallodri mit einem fotogenem Lächeln und einem großen Cowboyhut.

Die zweite Gruppe sucht nach einer Möglichkeit, mit der der Weg der Tornados besser vorhergesagt werden kann. Mit ihren Prognosen könnten sie Menschenleben retten. Dafür haben sie ein aus drei Teilen bestehendes Gerät gebaut, das, wenn diese Teile in der Nähe des Tornados an den richtigen Orten stehen, diesen Tornado analysieren kann. Das Gerät muss nur noch ausprobiert werden.

Helfen könnte ihnen Kate Carter (Daisy Edgar-Jones). Sie kann durch einen Blick in den Himmel und auf den nächsten Acker erspüren, wo ein Tornado entsteht und wohin er sich bewegt. Vor fünf Jahren endete ein von ihr an der Muskogee State University initiiertes Projekt, bei dem sie ein Gerät ausprobieren wollte, das irgendwie Tornados implodieren lässt, mit dem Tod von fast allen ihren an dem Projekt beteiligten Freunden. Heute verfolgt das Landei als Angestellte des United States Weather Service in New York in einem Büro vor einem Computer aus Tornados. Näher will sie diesen tödlichen Winden und ihrer tragischen Vergangenheit nicht mehr kommen.

Da taucht Javi (Anthony Ramos) bei ihr auf. Er war vor fünf Jahren bei ihrem Universitätsprojekt dabei. Sie waren damals die einzigen Überlebenden. Jetzt fragt er sie, ob sie ihnen, also der von ihm mitgegründeten, finanziell von Investoren gut ausgestatteten Firma StormPar, bei ihrem Projekt helfen könnte. Nach anfänglichem Zögern hilft sie Javi und StormPar.

Während die Stürme durch das Land toben, jagen die beiden Gruppen sich vor und hinter den Tornados über die grünen Wiesen von Oklahoma. Einen wirklichen Grund für die Konkurrenz gibt es nicht. Schließlich wollen sie aus verschiedenen Gründen in das Herz des Sturms. Sie sind wie kleine Kinder, die sich prügeln, obwohl das eine Kind Nudel und das andere Kind Pizza will.

Aber als Prämisse für einen Sommer-Blockbuster mit eindimensionalen Figuren, vorhersehbarer Story mit leichtem RomCom-Touch (denn selbstverständlich verlieben Kate und Tyler sich im Lauf des Films ineinander) und stürmischem Spektakel ist das ausreichend. Vor allem Tyler Owens hat nicht mehr Persönlichkeit als eine Werbefigur für eine kitschige Südstaaten-Romanze. Entsprechend rätselhaft bleibt seine Motivation. Sein öfters wiederholter Satz, dass er kein dummer Idiot sei, bleibt eine bloße Behauptung. Denn nie verrät er Kate (oder uns), warum er doch ein schlauer Kerl ist. Bei Kate Carter ist es etwas besser, aber auch nicht wirklich befriedigend. Glen Powell und Daisy Edgar-Jones können diese Defizite des Drehbuchs nicht ausgleichen.

Die meisten Mitglieder in ihren jeweiligen Teams bleiben vollkommen austauschbare Statisten. Entsprechend forciert wirken dann auch alle Szenen, die zeigen sollen, wie die einzelnen Teammitglieder sich untereinander verstehen. In Chungs Actionfilm ist nichts von der natürlichen Kameradie zu spüren, die in „Twister“ die Gruppe der von Jo Harding (Helen Hunt) angeführten Tornadojäger von der ersten Sekunde an so grundsympathisch macht. In „Twister“ sind sie Kumpels, die ein Abenteuer erleben wollen. In „Twisters“ sind sie – und das gilt für beide Tornadojäger-Gruppen – Angestellte, die für Geld einen Job erledigen.

Im Mittelpunkt von „Twisters“ stehen natürlich die titelgebenden Tornados, die auf der großen Leinwand annehmbar spektakulär aussehen und die innerhalb von Sekunden ganze Kleinstädte zerstören.

Dazu gibt es viel Americana und Country-Music. Und fertig ist ein Sommerblockbuster für die ganze Familie. Besondere Ambitionen, Überraschungen und etwaige Irritationen, die es beispielsweise in den Blockbustern von Roland Emmerich immer gibt, sind nicht erkennbar. Lee Isaac Chung erfüllt in seinem durchgehend altmodischem Blockbuster einfach den Wunsch des Publikums nach zwei Stunden Ablenkung. .

Twisters (Twisters, USA 2024)

Regie: Lee Isaac Chung

Drehbuch: Mark L. Smith (nach einer Geschichte von Joseph Kosinski, basierend auf von Michael Crichton und Anne-Marie Martin erfundenen Figuren)

mit Daisy Edgar-Jones , Glen Powell, Anthony Ramos, Brandon Perea, Maura Tierney, Harry Hadden-Paton, Sasha Lane, Daryl McCormack, David Corenswet, Paul Scheer (Flughafenpolizist am Filmende, aber sein Gesicht kommt mir so verdammt bekannt vor)

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Twisters“

Metacritic über „Twisters“

Rotten Tomatoes über „Twisters“

Wikipedia über „Twisters“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Lee Isaac Chungs „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“ (Minari, USA 2020)

Mehr Wind: Meine Besprechung von Steven Quales „Storm Hunters“ (Into the Storm, USA 2014)

 


Neu im Kino/Filmkritik: Mia Goth ist „Pearl“. Und sie will raus aus Texas

Juni 2, 2023

Schon vor den Dreharbeiten für „X“ dachten Regisseur Ti West und Schauspielerin Mia Goth über die von Goth gespielte Pearl und ihre Backstory nach. Diese Überlegungen flossen dann – Corona sei Dank! – in ein Drehbuch, das sie direkt nach „X“ verfilmten. Die Location war vorhanden. Das Set, ein einsam gelegenes Farmhaus, musste nur etwas umdekoriert werden. Die Hauptdarstellerin war vor Ort. Etwas Zeit hatten sie auch. Die Finanzierung, immerhin mussten keine Blockbuster-Millionen besorgt werden, ging schnell.

In „X“ bringt, wir erinnern uns, Pearl die Mitglieder einer Filmcrew um. Die wollen 1979 auf ihrem Hof einen pornographischen Film drehen. In dem Film spielt Mia Goth vor allem eine alte Frau. Der Horrorfilm ist deutlich vom Siebziger-Jahre-Horrorfilm, vor allem dem „Blutgericht in Texas“ (inzwischen auch hier bekannter als „The Texas Chainsaw Massacre“), ergänzt um Spitzen gegen die damalige Pornoindustrie und junge, ambitionierte Filmemacher, inspiriert

Pearl“ spielt dann als Vorgeschichte, die man auch ohne „X“ versteht und die als vollkommen eigentständiger Film glänzend funktioniert, 1918. Die spanische Grippe wütet im Land. Der Krieg ist im ländlichen Texas nur am Mangel an jungen Männern erkennbar. Pearl ist, sechs Jahrzehnte vor den Ereignissen von „X“, ein Teenager mit Träumen von einem anderen Leben. Sie lebt noch bei ihren Eltern auf der Farm, auf der sie ihr Leben verbringen wird. Ihre Mutter ist eine tiefgläubige, deutschstämmige Bäuerin. In der Originalfassung des Films spricht sie deshalb immer wieder einige deutsche Sätze. Mit harter Hand führt sie den Hof. Pearls Vater liegt bewegungslos im Bett oder sitzt ebenso bewegungslos im Rollstuhl.

Pearl hilft auf dem Hof, wartet auf ihren Mann, der noch nicht aus dem Krieg zurück gekehrt ist, und träumt sich in eine Karriere als Hollywood-Girl. Als sie den neuen Filmvorführer, einen Schönling mit Hollywood-Sex-Appeal kennen lernt, zeigt er ihr im Vorführraum eine neue Welt: kurze pornographische angehauchte Filme, die demnächst legal würden. Diese Filme könnten ihr Weg zu Starruhm sein.

Eine andere Möglichkeit ist ein Vortanzen bei einer regionalen Revue-Show. Die Macher suchen neue Tänzerinnen für ihre Tour durch das Land. Pearl, die mit ihrer Schwägerin vortanzen will, hat ihren Tanz vorher heimlich in der Scheune des Hofes geübt. Sowieso funktioniert sie die Scheune immer wieder spontan zu einer Tanzbühne um und integriert die Tiere in ihre Tänze.

Ihr Tanz vor dem stocksteifen Gremium, das in einer Dorfkirche über die Aufnahme der jungen Tänzerinnen in die Revue entscheidet, ist wirklich anders als die Tänze ihrer erfolglosen Mitbewerberinnen. Aber sie ist kein All-American-Girl.

Derweil lebt sie ihre sexuellen Bedürfnisse an einer Vogelscheuche aus und versucht ihrem Vater eine Reaktion zu entlocken. Mal indem sie ihn verführt, mal indem sie versucht, ihn zu ermorden.

Und, das ist jetzt für alle, die entweder „X“ oder den Trailer gesehen haben, keine Überraschung, sie begeht einige ziemlich blutige Morde. Vor allem wenn jemand ihre Talente nicht genügend würdigt oder ihr etwas verbieten will.

Bis Pearl ihren ersten Mord begeht viel Filmzeit, in der Regisseur Ti West und „Pearl“-Darstellerin Mia Goth tief in Pearls Psyche einsteigen und ihr Handeln nachvollziehbar machen.

So entsteht ein bedrückendes, sehr schwarzhumoriges Porträt von religiösem Wahn, Einsamkeit, gesellschaftlicher Rückständigkeit, unterdrückten sexuellen Gelüsten und Gewalt in all ihrn Schattierungen. Stilistisch orientiert Ti West sich mit wundervollen Technicolor-Farben am „Der Zauberer von Oz“ und einem Fünfziger-Jahre-Hollywood-Melodrama. Diese Bilder täuschen im ersten Moment über den Inhalt hinweg. Douglas Sirk war in ein Meister darin.

Ti Wests grandioser American-Gothic-Horrorfilm endet mit einer minutenlangen Einstellung auf Pearl, die verstörender, grauenerregender und gruseliger als all ihre vorherigen Untaten ist.

Die Gemengelage zwischen American Gothic in seiner düstersten, sexuell aufgeladenen Variante, unterdrückten, dennoch deutlich sichtbaren sexuellen Bedürfnissen und auch etwas blutiger Gewalt erklärt dann die FSK-18-Freigabe. Denn so blutig wie andere FSK-18-Horrorfilme ist „Pearl“ nicht. Eigentlich ist er für einen FSK-18-Film, der mit blutigen Morden wirbt, sogar äußerst unblutig.

Pearl (Pearl, USA 2023)

Regie: Ti West

Drehbuch: Ti West, Mia Goth

mit Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, Matthew Sunderland, Emma Jenkins-Purro, Alistair Sewell

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 18 Jahre

P. S.: Schönes Retro-Plakat.

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Pearl“

Metacritic über „Pearl“

Rotten Tomatoes über „Pearl“

Wikipedia über „Pearl“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ti Wests „The Innkeepers“ (USA 2011)

Meine Besprechung von Ti Wests „X“ (X, USA 2022)