„The Beast“, der neue Film von Bertrand Bonello (Nocturna) ist kein leichter Film, aber ein faszinierender und auch zäher Film, in dem sich erst gegen Ende alles so halbwegs zusammenfügt. Es ist eine sich Zeit nehmende Arthaus-Literaturverfilmung, die ihre besten Momente hat, wenn sie zu einem Slow-Mo-Arthaus-David-Lynch-Film mit etwas David-Cronenberg-Body-Horror wird.
Wobei Bonello von Henry James‘ Kurzgeschichte „Das Tier im Dschungel“ nur einen Teil der Idee übernimmt und dann diese und das Ende bis zur Unkenntlichkeit verändert. Bonello sagt, sein Film sei „frei nach“. Aber eigentlich führt der Hinweis auf die Literaturvorlage mehr in die Irre als dass er hilft.
Das war vor einem Jahr bei Patric Chihas überzeugender Interpretation der Geschichte anders. In „Das Tier im Dschungel“ (La bête dans la jungle, Frankreich/Belgien/Österreich 2023) verlegte er die sich über Jahrzehnte erstreckende Geschichte in die jüngere Vergangenheit nach Paris in eine Discothek. Am Ende konnte man darüber nachdenken, ob man jetzt leben oder auf ein irgendwann in der Zukunft liegendes großes, das eigene Leben veränderndes Ereignis warten möchte.
In Bonellos Film geht es um Gabrielle (Léa Seydoux). 2044 begibt sie sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Dabei soll eine die Gesellschaft kontrollierende Künstliche Intelligenz ihre DNA von überflüssigen Gefühlen und Ängsten reinigen. Auf ihrer Reise, die sie vor allem in die Jahre 1910 und 2014 führt, trifft sie immer wieder Louis (George MacKay). Zu ihm hat sie eine besondere Verbindung irgendwo zwischen Liebe und absoluter Geistesverwandschaft.
1910 ist sie in Paris eine Konzertpianistin, die auf den geheimnisvollen Louis trifft. Sie scheint den charmanten Mann von früher zu kennen. Auch wenn sie sich gut verstehen, sind sie unsicher darüber, woher sie sich kennen.
Während diese ‚Vergangenheit‘ ein typisches Kostümdrama ist, ist die 2014 in Los Angeles spielende, deutlich von David Lynch inspirierte ‚Vergangenheit‘ wesentlich interessanter. Gabrielle ist ein Fotomodel, das in Hollywood Karriere machen will. Sie hütet das Haus eines vermögenden Mannes, der sie immer wieder anruft, wenn in seinem Haus ein Alarm ausgelöst wird oder etwas Ungewöhnliches passierte. Louis ist ein prototypischer Incel. Der junge Mann postet Online-Videos über sein Leben. Der Endzwanziger ist noch Jungfrau und hasst alle Frauen, weil sie keinen Sex mit ihm haben wollen. Deshalb will er Gabrielle, mit der er sich noch nicht einmal unterhalten hat, umbringen.
Eingebettet sind diese Erinnerungen an frühere Leben, die auch falsche Erinnerungen oder pure Fantasiegebilde sein können, in eine in der Filmgegenwart (2044) spielenden Rahmengeschichte, die einen ordentlichen David-Cronenberg-Body-Horror-Touch hat.
Auf jeder Zeitebene, am wenigsten in der 1910 spielenden Erinnerung, gelingen Bonello mit minimalen Mitteln beeindruckend beunruhigende Bilder. Manchmal genügt eben ein Hollywood-Anwesen mit riesigen Fenstern und einer einsamen Frau oder ein leeres Tanzlokal mit einem höflichem Barkeeper. Manchmal sind es Bildaussetzer und ruckelige Wiederholungen, manchmal Greenscreen-Aufnahmen, in die irgendwann verschiedene Monster hineinkopiert werden.
Wie das alles miteinander zusammen hängt, bleibt sehr lange absolut rätselhaft. Entsprechend zäh wirkt „The Beast“ über weite Strecken. Über epische 146 Minuten mäandert der sich im Kopf der Protagonistin abspielende Film mit durchaus starken Bildern, Szenen und Subplots, aber auch viel Leerlauf vor sich hin.
Als Cyberspace-Science-Fiction-Film, sozusagen als „Matrix“ ohne Action, hat er beim Entwerfen seiner zukünftigen Welt, bei der unklar ist, ob es eine Dystopie, eine Utopie oder nur ein Blick in Gabrielles Kopf ist, seine Momente und eine interessante, wenn auch rätselhafte Auflösung.
Wenn nur der Weg zum Ende nicht so lang wäre.
The Beast (La bête, Frankreich 2023)
Regie: Bertrand Bonello
Drehbuch: Bertrand Bonello (basierend auf einem Treatment von Bertrand Bonello, Benjamin Charbit und Guillaume Bréaud)
LV: Henry James: The Beast in the Jungle, 1903 (Kurzgeschichte, Erstveröffentlichung in dem Sammelband „The Better Sort“)
mit Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda, Dasha Nekrasova, Martin Scali, Elina Löwensohn, Marta Hoskins, Julia Faure, Kester Lovelace, Félicien Pinot, Laurent Lacotte
Patric Chiha verlegt in seinem neuen Film „Das Tier im Dschungel“ Henry James‘ 1903 erstmals publizierte Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ so halbwegs in die Gegenwart und vollständig in die Discothek.
1979 treffen sich John Marcer (Tom Mericer) und May Bartram (Anaïs Demoustier) in einer Discothek. Sie ist fasziniert von ihm. Denn er steht abwartend am Rand. Er will nicht tanzen. Er wartet auf ein großes Ereignis. Alles, was davor passiert bedeutet nichts und ist nicht erinnerungswürdig. Deshalb erinnert er sich auch nicht an eine frühere, länger zurückliegende Begegnung mit ihr.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten – die Geschichte umfasst über zwei Jahrzehnte – treffen sie sich jeden Samstag in der Discothek. Die Musik, die Mode und das wechselnde, aber immer junge Publikum zeigen, wie die Zeit vergeht, während John ungerührt das Treiben beobachtet. Während er wartet, verändert sich auch die Welt vor dem Nachtclub. Der Fall der Mauer und 9/11 finden im Fernsehen statt. Diese großen, die Welt erschütternde Ereignisse sind allerdings nicht das Ereignis sind, auf das John wartet.
Er wartet weiter, beobachtet dabei das Leben der anderen Menschen und lässt sein Leben ungelebt verstreichen.
May bleibt bei ihm. Gemeinsam beobachten sie zunehmend passiv das Treiben in dem Nachtclub.
Patric Chihas Idee die Kurzgeschichte in die Discothek und damit in das Nacht- und Clubleben zu verlegen ist so einfach wie genial. Einerseits ist ein Nachtclub ein Symbol für das Leben im Jetzt. Jeden Abend wird gefeiert als gäbe es keine weiteren Abend. Es ist ein Ort, in dem junge Menschen das Leben genießen; – bis sie heiraten und Kinder kriegen. Und es ist ein Ort, an dem sich nichts verändert, weil es ein Ort der ständigen Wiederholung ist. Daran ändern die wechselnde Musik, die wechselnde Inneneinrichtung, die wechselnden Moden, die wechselnden Tänze und die wechselnden Tänzer nichts. Es ist ein Ort, der mit der Realität nichts zu tun hat. Und damit ist es auch der Ort, der sich am wenigsten für das Warten auf ein das eigene Leben veränderndes Ereignis eignet. Vor allem wenn man, wie John, einfach nur wartet und dabei sein Leben ungenutzt verstreichen lässt.
Chiha gelingt es mit einem Minimum an Handlung dieses Warten, das von der von ‚Betty Blue‘ Béatrice Dalle gespielten Türsteherin kommentiert wird, interessant zu gestalten. Am Ende des Films stellt sich die Frage nach dem eigenen Leben.
Das Tier im Dschungel (La bête dans la jungle, Frankreich/Belgien/Österreich 2023)
Nach der fantastischen Welt von Oz, vor „Hitchcock“ und zwischen „Vega$“ (muss sein, für mich als PI-Junkie) und Peter Weir (muss sein, für alle Filmfans) stapeln sich Bücher und Filme, die ich teilweise schon vor Weihnachten gelesen habe und ausführlich besprechen wollte. Aber bis jetzt kam ich nicht dazu und in den nächsten Tagen sieht es auch nicht viel besser aus. Bevor meine Notizen auch für mich vollkommen unlesbar werden, gibt es jetzt einen Schwund kurzer Kritiken. Ich würde ja sagen Drei-Satz-Kritiken, aber dann werden es doch vier, fünf oder noch mehr Sätze.
Beginnen wir mit einigen Gangsterfilmen:
„Black’s Game“ führt uns in die Unterwelt von Island. Student Stebbi hat Angst vor einer drohenden Gefängnisstrafe. Doch dann trifft er seinen Jugendfreund Toti, der inzwischen als Gangster sein Geld verdient und ihm bei diesem Problemchen helfen will. Er gibt Stebbi eine kleine Aufgabe, die er mit Bravour erledigt und fortan verfolgen wir gespannt seinen Aufstieg in der isländischen Gangsterhierarchie, in der die Protagonisten jünger und brutaler als bei Martin Scorsese sind.
Das ist mitreisend hartes Kino mit überzeugenden Schauspielern, die teilweise hier ihr Leinwanddebüt gaben. Óskar Thór Axelssons Film basiert auf einem Roman von Stefán Máni, der in einem Featurette von den Recherchen für den Roman erzählt. Wobei allerdings unklar bleibt, wie sehr der, bis auf den Epilog, 1999/2000 spielende Film „Black’s Game“ auf Tatsachen beruht oder verschiedene Vorfälle und Personen aus der isländischen Unter- und Halbwelt zu einer spannenden Geschichte verdichtet.
Black’s Game – Kaltes Land (Svartur á leik, Island 2012)
Regie: Óskar Thór Axelsson
Drehbuch: Óskar Thór Axelsson
LV: Stefán Máni: Svartur á leik, 2004
mit Þorvaldur Davið Kristjánsson, Jóhannes Haukur Jóhannesson, Damon Younger, Maria Birta Bjarnadóttir, Vignir Rafn Valþórsson, Egill Einarsson, Björn Jörundur Friðbjörnsson
Bei „Mr. Nice“ stellt sich die Frage nicht. Denn Bernard Roses Film erzählt, basierend auf der Biographie von Howard Marks, dessen Lebensgeschichte und wie er vom begabten, aus ärmlichen Verhältnissen kommendem Kleinstadtjungen während der Swinging Sixties an der Universität Oxford mit Drogen und freier Liebe in Berührung kam und ratzfatz zum größten Dope-Dealer Englands aufstieg, mit dem Gesetz Probleme hatte und heute, das ist die dramaturgische Klammer, auf der Bühne locker-flockig von seinem Leben erzählt.
„Mr. Nice“ ist eine mäßig unterhaltsame Selbstinszenierung von Howard Marks. Aber die Einzel-DVD ist mit einem Audiokommentar von Bernard Rose und einem von Howard Marks gut ausgestattet. Wer mehr Infos will, muss die Doppel-DVD kaufen.
Mr. Nice (Mr. Nice, GB 210)
Regie: Bernard Rose
Drehbuch: Bernard Rose
LV: Howard Marks: Mr. Nice, 1996 (Mr. Nice)
mit Rhys Ifans, Chloe Sevigny, David Thewlis, Omid Djalili, Crispin Glover
Wesentlich gelungener ist Bernard Roses 1944 in London spielendes, heute fast vergessenes Frühwerk „Chicago Joe und das Showgirl“, nach einem Drehbuch von David Yallop, mit Kiefer Sutherland und Emily Lloyd in den Hauptrollen.
Emily Lloyd spielt das titelgebende Showgirl Georgina Grayson, die sich ein Leben auf der großen Bühne und als Gangsterbraut erträumt und als sie Rick ‚Chicago Joe‘ Allen (Kiefer Sutherland) kennenlernt, ist sie sofort in ihn verliebt. Denn er ist ein waschechter Gangster aus Chicago! Das Liebespaar beginnt schnell ihre Version von Bonnie und Clyde zu spielen. Dummerweise ist Chicago Joe kein Gangster, sondern ein kleiner, fahnenflüchtiger Soldat und notorischer Aufschneider.
Rose spielt in diesem Film sehr interessant und für einen über zwanzig Jahre alten Mainstream-Film sehr avantgardistisch mit den verschiedenen Wahrnehmungsebenen. Denn er wechselt ständig zwischen der Realität und Georginas Träumen von der großen Hollywood-Karriere (so beginnt und endet der Film mit einer Fantasie von ihr bei der Premiere ihres großen Films [Remember „Sunset Boulevard“?]) und ihrem, aus den Hollywood-Gangsterfilmen entlehntem Bild der Wirklichkeit. Die Kulissen sind überdeutlich als Kulissen erkennbar, das Filmformat erinnern an einem Dreißiger-Jahre-Gangsterfilm, die Farben an das damals gebräuchliche Technicolor. Und auch Chicago Joe hat seine Probleme mit der schnöden Realität. Denn er steht zwischen zwei Frauen, die er beide belügt.
Ach ja: „Chicago Joe und das Showgirl“ basiert auf einem wahren Fall: dem „Cleft Chin Murder“. Am 3. Oktober 1944 lernten sich die am 5. Juli 1926 in South-Wales geborene Elizabeth ‚Betty‘ Maud Jones (die als Georgina Grayson als Striptease-Tänzerin arbeitete) und der 1922 in Schweden geborene, in Massachusetts aufgewachsene Karl Hulten, der sich Ricky nannte und damals seit einem halben Jahr fahnenflüchtig war, kennen. Der Film folgt den damaligen Ereignissen anscheinend ziemlich genau.
Beide wurden zum Tode verurteilt. Hulten wurde als einziger G. I. der je in Großbritannien hingerichtet wurde, am 8. März 1945 erhängt. Jones wurde 1954 begnadigt.
Chicago Joe und das Showgirl (Chicago Joe and the Showgirl, GB 1989)
Regie: Bernard Rose
Drehbuch: David Yallop
mit Emily Lloyd, Kiefer Sutherland, Patsy Kensit, Keith Allen, Liz Fraser, Alexandra Pigg
Dass „The Take – Zwei Jahrzehnte in der Mafia“ nicht das Budget von „Der Pate“ oder „Goodfellas“ hatte, sieht man und dass „The Take“ ursprünglich eine vierteilige TV-Serie war, sieht man ebenfalls. Denn der Film teilt sich in vier Blöcke, die 1984, 1988 und 1994 (der dritte und vierte Teil) spielen und die Länge einer TV-Episode haben. Und dass die Geschichte weitgehend den bekannten Genrepfaden folgt, merkt man schnell.
„The Take“ erzählt die Geschichte von Freddy Jackson (Tom Hardy) und seinem Freund und Cousin Jimmy Jackson (Shaun Evans), zwei Londoner Verbrecher, die sich seit Ewigkeiten kennen. Freddie verbrachte einige Jahre im Gefängnis und kaum ist er draußen, beginnt er mit einer fiebrigen Energie, die Scarface vor Neid erblassen lassen würde, sein Imperium aufzubauen. Gleichzeitig wird er zunehmend psychopathisch und man fragt sich spätestens ab der Filmmitte, wie ein so durchgeknallter Verbrecher die letzten zehn Jahre (und die Jahre vor dem Filmbeginn) überleben konnte. Währenddessen festigt Jimmy seinen Ruf als Geschäftsmann, der zwar illegale Geschäfte betreibt, aber zunehmend verbürgerlicht.
Das folgt alles bis zum Ende, durchaus kraftvoll und für eine TV-Serie sehr brutal, den bekannten Genrekonventionen. Aber schon von Anfang spielen die Frauen an der Seite von Freddy und Jimmy, teils als Schwester, teils als Ehefrau, eine wichtige Rolle, die zwar zunächst irritiert, weil sie mit dem verbrecherischen Leben der Gangster nichts zu tun haben, aber sie sorgt auch für ein überraschendes und ungewöhnliches Ende, das auch eine Verschiebung innerhalb des Genres anzeigt. Denn im Spiel zwischen Gangstern und Gangstern und Gangstern und Polizisten ist ein weiterer Mitspieler hinzugekommen.
Und dann ist da noch Tom Hardy in Bad-Ass-Bad-Ass-Mode. Für sein Spiel war er für den 2009er Crime Thriller Award als bester Darsteller nominiert. Danach spielte er, um nur seine bekannteste Rolle zu nennen, in „The Dark Knight Rises“ den Bösewicht.
The Take – Zwei Jahrzehnte in der Mafia (The Take, GB 2009)
Regie: David Drury
Drehbuch: Neil Biswas
LV: Martina Cole: The Take, 2005 (Die Schwester)
mit Tom Hardy, Shaun Evans, Charlotte Riley, Kierston Wareing, Margot Leicester, Brian Cox, Jane Wood
Dank „Drive“ ist Nicolas Winding Refn inzwischen wohl bekannt genug, dass mit seinem Namen geworben werden kann. Bei „Black’s Game – Kaltes Land“ war er Executive Producer, aber auf dem DVD-Cover wird er groß erwähnt. Der englische Gangsterfilm „Pusher“ basiert auf Nicholas Winding Refns gleichnamigem, rauhen Debütfilm von 1996 über einen kleinen Drogendealer, der gerade eine Pechsträhne hat und innerhalb weniger Tage viel Geld besorgen muss, das er nicht hat. Er lässt sich auf zunehmend riskante Geschäfte ein und bei einem Noir können wir uns denken, wie die Geschichte ausgeht.
Diese nicht sonderlich spektakuläre Geschichte (sie wurde durch Nicholas Winding Refns Regie, die Kamera und die Schauspieler zu etwas Besonderem) hat jetzt Drehbuchautor Matthew Read (Produzent bei „Miss Marple“, „Aurelio Zen“ und „Kommissar Wallander“) mit kleinen Änderungen ins heutige London übertragen, der Spanier Luis Prieto gab sein UK-Debüt und Richard Coyle übernahm die Hauptrolle in dieser Version von „Pusher“, die die altbekannte Geschichte in einer anderen Stadt erzählt. Das ist als eigenständiger Film gelungen, interessant im Vergleich zwischen Original und Remake und ähnelt dem US-Remake von Stieg Larssons „Verblendung“, das auch gut, aber für die Kenner des Originals auch ziemlich überflüssig ist.
Die „Briefe aus dem Jenseits“ haben mächtig Patina angesetzt. Die Geschichte ist auch mehr ein Gruselfilm als ein Noir. Allerdings einer, der zwar einige gelungene, also unheimliche Szenen hat, aber insgesamt eher den Eindruck von verwirrend zusammengesetztem, sich als Liebesdrama viel zu ernst nehmendem Stückwerk hinterlässt.
Denn als Literaturagent Lewis Venable (Robert Cummings) in Venedig in der Villa der über hundertjährigen Juliana Bordereau (Agnes Moorehead) unter einem Vorwand die anscheinend unglaublich beeindruckenden Liebesbriefe des verschollenen Poeten Jeffrey Ashton an sie sucht, wird er in ein Spiel um Identitäten, Schein und Sein hineingezogen und er verliebt sich in die Nichte der Hausherrin (Susan Hayward), die nach Sonnenuntergang zu einer anderen Frau wird.
Briefe aus dem Jenseits (The Lost Moment, USA 1947)
Regie: Martin Gabel
Drehbuch: Leonardo Bercovici
LV: Henry James: The Aspern Papers, 1888 (Asperns Nachlass)
mit Robert Cummings, Susan Hayward, Agnes Moorehead, Joan Lorring, John Archer
„Der Mann mit der Stahlkralle“. Das klingt doch nach zünftiger, gehirnbefreiter Action mit vielen schlagenden und tretenden Asiaten. Vor allem weil der Film erst 1980, drei Jahre nach dem US-Kinostart, in die deutschen Kinos kam und in den Bahnhofkinos gerade gefühlt jeder zweite Film einen „Bruce Lee“ im Titel hatte. Da konnte „Der Mann mit der Stahlkralle“ nur ein weiterer billiger Action-Film sein, der auch bei der Kritik schlecht ankam: „übles Kinostück“ (Fischer Film Almanach 1981), „blutrünstiger Film“ (Lexikon des internationalen Films).
Nun, blutrünstig ist der Film in einigen Momenten und natürlich im Showdown. Und ein Mann mit einer Stahlkralle kommt auch vor. Aber der Originaltitel „Rolling Thunder“ trifft es schon eher. Denn wie ein Donnergrollen bewegt sich die Noir-Geschichte langsam und sehr fatalistisch voran. Paul Schrader, der Autor von „Taxi Driver“, hatte die Idee für die Geschichte von einem Kriegsheimkehrer, der sich in seiner alten Heimat nicht mehr zurechtfindet. Eine Geschichte, die in vielen Momenten in einem interessanten Verhältnis zu „Taxi Driver“ steht und damals, – wir sind in der Prä-“Rambo“-Zeit und auch auch vor den kritischen Vietnam-Filmen „Sie kehren heim“ (Coming Home) und „Die durch die Hölle gehen“ (The Deer Hunter) -, im Kino noch Terra Incognita war. Heywood Gould (The Bronx, Cocktail) wurde dann als zweiter Drehbuchautor genommen und John Flynn, der davor die unterschätzte Richard-Stark-Verfilmung „Revolte in der Unterwelt“ (The Outfit) drehte, übernahm die Regie. Flynn drehte später unter anderem „Bestseller“ und „Lock Up – Überleben ist alles“.
Erzählt wird die Geschichte von Major Charles Raine (William Devane) der 1973 nach einer siebenjährigen Gefangenschaft in einem Vietcong-Gefangenenlager wieder in seine alte Heimat San Antonio, Texas zurückkehrt. Aber der introvertierte Mann, der überall als Kriegsheld gefeiert wird, hat Probleme, in sein altes Leben, das es auch nicht mehr gibt, zurückzukehren. Für seinen Sohn ist er ein fremder Mann. Seine Frau hat sich in einen anderen Mann verliebt. Er hat keinen Job.
Erst als einige Verbrecher ihm einige Münzen, die er als Anerkennung für seine Gefangenschaft erhielt, klauen, seine Familie umbringen und ihm in einem Küchenabfallzerkleinerer (in Texas ein übliches Haushaltsgerät) seine Hand zerhäckseln, hat er wieder eine Mission und die titelgebende Stahlkralle als Ersatz für die fehlende Hand.
Raine will die Mörder seiner Frau und seines Sohnes finden.
Dabei hilft ihm Johnny Vohden (Tommy Lee Jones), der mit ihm in Gefangenschaft war und daran ebenfalls zerbrochen ist.
Tommy Lee Jones hat zwar nur wenige Szenen in dem Film, aber wie er in ihnen die Verlorenheit seines Charakters zeigt, ist großes Schauspiel.
Denn Raine und Vohden sind zutiefst gebrochene Charaktere, die in der Gesellschaft ihren Platz nicht mehr finden. Genau wie Travis Bickle (Robert De Niro) in „Taxi Driver“ oder William James (Jeremy Renner) in „The Hurt Locker“.
Das gesagt, muss allerdings auch gesagt werden, dass „Der Mann mit der Stahlkralle“ sogar nach damaligem Standard sehr langsam erzählt ist, die wenigen Schnitte, die dunklen Bilder und die introvertierten Charaktere dieses Gefühl der Langsamkeit noch verstärken und so „Der Mann mit der Stahlkralle“ sich zäher als nötig ansieht. Jedenfalls wenn man auf die Action gespannt ist. Die gibt es erst in der zweiten Hälfte und sie ist immer noch ziemlich graphisch. Wobei die schlimmste Szene, gerade weil wir sie uns so gut vorstellen können, wohl das Zerkleinern von Raines‘ Hand ist.
Das Bonusmaterial ist sehr gelungen. Es gibt eine Bildergalerie, ein elfminütiges Interview mit Linda Haynes über die Dreharbeiten und ihr Leben nach dem Film abseits der Filmindustrie und einen sehr interessanten und sehr informativen Audiokommentar, bei dem Drehbuchautor Heywood Gould im lockeren Gespräch mit Roy Frumkes aus seinem Leben und über den Film erzählt. Wer also einen Blick hinter die Kulissen werfen will, ist hier ziemlich gut bedient. Und wer wissen will, warum „Der Mann mit der Stahlkralle“ einer der Lieblingsfilme von Quentin Tarantino und Eli Roth ist, sollte sich Eli Roths „Trailer from Hell“-Audiokommentar zum Trailer anhören.
Ach ja: „Der Mann mit der Stahlkralle“ war bis 2001 auf dem Index und diese DVD/Blu-ray ist die erste ungekürzte Veröffentlichung des Films in Deutschland.
Der Mann mit der Stahlkralle (Rolling Thunder, USA 1977)
Regie: John Flynn
Drehbuch: Paul Schrader, Heywood Gould
mit William Devane, Tommy Lee Jones, Linda Haynes, James Best, Lisa Richards
Bonusmaterial: Audiokommentar mit Drehbuchautor Heywood Gould, Interview mit Darstellerin Linda Haynes (11 Minuten), Trailer mit Kommentar von Eli Roth, Trailer, TV-Spot, Bildergalerie