Verlorene Illusionen (Illusions perdues, Frankreich 2021)
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Xavier Giannoli, Jacques Fieschi
LV: Honoré de Balzac: Illusions perdues, 1843 (Verlorene Illusionen)
Ein junger Dichter aus der Provinz will in den 1820er Jahren in Paris sein Glück finden. Als scharfzüngiger Kritiker feiert er erste Erfolge.
TV-Premiere zu einer blöden Uhrzeit. Xavier Giannolis erzählerisch konventionelle Verfilmung von Honoré de Balzacs Klassiker überzeugt als Mediensatire und prächtig ausgestattetes Sittengemälde.
mit Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Jeanne Balibar, Gérard Depardieu, André Marcon, Louis-Do Lencquesaing, Jean-Francois Stévenin
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Die Vorlage (in der neuen Übersetzung)
Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen – Roman aus der Provinz
Ein ganz normaler Sommertag in Clichy-Montfermeil, einem sozialen Brennpunkt östlich von Paris: Polizisten, darunter ein Neuling bei seinem ersten Arbeitstag, und Kleingangster kennen und bekriegen sich.
Rundum überzeugendes Ghettodrama. Einer meiner Kino!filme des Jahres 2020.
Für Maurice Ravel war es eine Auftragskomposition und eine technische Übung, die er zwischen Juli und Oktober 1928 für die Tänzerin und Choreographin Ida Rubinstein schrieb.
Das für ein Ballett geschriebene Orchesterwerk wurde schnell populär. Heute ist der „Bolero“ Ravels bekanntestes Stück. Immer noch, fast hundert Jahre nach der Premiere, ist es, so steht es im Presseheft, weltweit alle fünfzehn Minuten irgendwo zu hören. Oder anders gesagt: das Stück ist auf der Erde ununterbrochen zu hören.
Ravel hätte das vielleicht gefallen. Schließlich betrachtete er die Auftragskomposition als extremes und einseitiges Experiment, in dem ein Thema ohne jede Entwicklung wiederholt wird und allmählich einer Klimax zugeführt wird. Er meinte, es sei sein einziges Meisterwerk und ergänzte: „Leider hat es aber nichts mit Musik zu tun.“
Und diese Nicht-Musik wird jetzt ständig gespielt. Ohne eine Variation und ohne jemals zu enden.
Anne Fontaine („Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“) erzählt in ihrem Biopic „Bolero“ jetzt, sich Freiheiten nehmend, Maurice Ravels Leben nach. Im Zentrum steht das titelgebende Stück. Sie konzentriert sich auf drei Abschnitte in Ravels Leben. Nämlich als er sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts fünfmal, immer erfolglos, um den renommierten Prix de Rome bewarb, auf das Schreiben des Orchesterstückes „Bolero“ 1927/1928 und auf seine letzten Tage, als eine schwere neurologische Erkrankung sein Leben bestimmte. Der am 7. März 1875 in Ciboure geborene Ravel starb am 28. Dezember 1937 in Paris.
Fontaine erzählt Ravels Leben nicht als verfilmten Wikipedia-Artikel. Das ist erfreulich, aber schon während des Sehens drängt sich der Eindruck auf, dass das Ansehen einer guten Dokumentation über Ravel die mit großem Abstand und in jeder Beziehung bessere Wahl gewesen wäre.
Bolero (Bolero, Frankreich/Belgien 2024)
Regie: Anne Fontaine
Drehbuch: Anne Fontaine, Claire Barré, Pierre Trividic (Mitarbeit), Jacques Fieschi (Mitarbeit), Jean-Pierre Longeat (Mitarbeit)
LV: Marcel Marnat: Maurice Ravel, 1986
mit Raphaël Personnaz, Doria Tillier, Jeanne Balibar, Vincent Perez, Emmanuelle Devos, Sophie Guillemin, Anne Alvaro, Marie Denarnaud
Für seinen zweiten Spielfilm bleibt Ladj Ly in der Pariser Banlieue – und erzählt eine gänzlich andere Geschichte. Am besten betrachtet man „Die Unerwünchten – Les Indésirables“ als gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden – Les Misérables“, das 2020 bei uns im Kino lief.
In ihm erzählt er die Geschichte von drei Zivilpolizisten und, nachdem ein Löwenjunge aus einem Zirkus gestohlen wird, einer etwas aus dem Ruder laufenden Schicht, Dabei entsteht das gelungene Porträt von einem Stadtviertel in Paris, in dem sich die sozialen Probleme ballen und die Stimmung ständig kurz vor dem Siedepunkt ist.
In „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ konzentriert er sich auf die städtische Angestellte Haby Keita (Anta Diaw) und den Arzt Pierre Forges (Alexis Manenti). Er wird, nachdem der Amtsinhaber überraschend stirbt, von seiner Partei zum Bürgermeister befördert.
Beide leben in verschiedenen Welten. Sie lebt in Les Grands Bosquets, kennt die Bewohner seit ihrer Kindheit und hilft ihnen. Sie ist eine von ihnen.
Er lebt in seiner noblen Vorstadtvilla und kennt den sozialen Brennpunkit Les Grands Bosquets letztendlich nur aus den Schlagzeilen der Tageszeitung. Politik ist, auch wenn sie hier noch auf lokaler Ebene praktiziert wird und Pierre keine Ahnung von der Politik hat, ein Teil des Lebensstils des etablierten Bürgertums. Es ist keine Notwendigkeit, sondern ein Hobby, bei dem man sein soziales Engagement beweisen kann. Wie dieses Engagement dann mit eigenen Interessen verknüpft ist, zeigt Ladj Ly in „Die Unerwünschten“.
Zwischen den Geschichten von Haby und Pierre herrscht ein Ungleichgewicht, das sich durch den ganzen Film zieht. Sie ergänzen sich nicht, sondern stehen sich im Weg. Ihre Geschichte ist formal ein klassisches Sozialdrama und eine dichte Milieustudie im Ken-Loach-Stil. Seine Geschichte ist dagegen ein Politdrama, die Geschichte eines Mannes, der von der Macht verführt wird. Das ist formal aufklärerisches und die Herrschenden anklagendes Polit-Kino, wie man es aus den siebziger Jahren und von Regisseuren wie Constantin Costa-Gavras kennt.
Dabei ist Pierres Geschichte die eindrucksvollere. Ladj Ly zeigt, wie aus einem politisch unbedarften Arzt ein Menschen verachtendes Monster wird. Von seinen Parteifreunden wird er in den Job gestoßen, um die Zeit bis zur Wahl zu überbrücken. Er ist ein Übergangs- und Verlegenheitskandidat, von dem nur erwartet wird, dass er keine großen Fehler macht. Aber dann will er das Werk seines Vorgängers fortsetzen und das Leben der Menschen in dem Viertel verbessern. Darunter versteht er reaktionäre und ausländerfeindliche Aktionen, die immer noch gerade so legal sind. So lässt er das schon seit Ewigkeiten baufällige Banlieue-Mietshaus in dem arme Einwanderer leben, an Weihnachten räumen, weil der Bau angeblich akut einsturzgefährdet sei. Das ist Quatsch, aber so kann er seine unnötig gemeine Aktion mit Wohltätigkeit und Besorgnis um die Menschen tarnen. Was nach der rücksichtslos durchgeführten Räumung mit den auf der Straße sitzenden Mietern passiert, ist ihm egal. Außerdem ist so der Weg frei für ein schon lange geplantes Bauprojekt. Bislang konnte es nicht verwirklicht werden, weil die Mieter nicht ausziehen wollten.
In Pierres Geschichte zeigt Ladj Ly, wie Politik funktioniert, wie aus einem halbwegs anständigem Mann ein eiskalter Rechtspopulist wird. Seine Untaten ummäntelt er mit Wohltätigkeit. Dabei entwickelt er ein auch seine Parteikollegen überraschendes politisches Talent und Bosheit beim Durchsetzen seiner Ziele.
Bei einer ihrer Begegnungen entschließt Haby sich spontan, gegen ihn zu kandidieren. Ihre Familie wanderte aus Mali ein. Sie ist in dem Viertel verwurzelt, weil sie dort lebt und arbeitet und alle kennt. Sie ist, auch ohne es zu ahnen, die gute Seele des Viertels. In dem Moment ist es nur eine in ohnmächtiger Wut getanene Ankündigung auf die zunächst keine Taten folgen. Auch später wird ihr Wahlkampf mehr mitgeschleppt als konsequent erzählt. Offensichtlich interessiert Ladj Ly sich nicht für diese eigentlich interessante Geschichte. So bleibt Habys Geschichte vor allem eine nah an den Menschen erzählte Milieustudie.
Beide Geschichten bieten Stoff für einen guten Film. Beide Geschichten könnten auch in einem Film gut erzählt werden, wenn die richtigen Momente ausgewählt würden und die richtige Balance zwischen Haupt- und Nebengeschichte gefunden würde. In „Die Unerwünschten“ stehen sie sich im Weg. Zu vieles wird angerissen und dann nicht richtig weiter erzählt. Das macht „Die Unerwünschten“ nicht zu einem schlechten Film, sondern zu einem Film, der besser hätte sein können. Sehenswert ist er trotzdem und eine gelungene Ergänzung zu seinem Debüt „Die Wütenden“.
Das war jetzt die Empfehlung für ein Double Feature.
Die Unerwünschten – Les Indésirables (Les Indésirables/Bâtiment 5, Frankreich 2023)
Ein ganz normaler Sommertag in Clichy-Montfermeil, einem sozialen Brennpunkt östlich von Paris: Polizisten, darunter ein Neuling bei seinem ersten Arbeitstag, und Kleingangster kennen und bekriegen sich.
Rundum überzeugendes Ghettodrama. Einer meiner Kino!filme des Jahres 2020.
„Verlorene Illusionen“ ist ein guter, nämlich ein Erwartungen weckender Titel. Honoré de Balzac nannte so seine in den frühen zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts spielende Chronik des Lebens in der Provinz und in der Hauptstadt Paris.
Der Roman ist ein Klassiker, der trotz seiner filmtauglichen Handlung, bisher nur zweimal verfilmt wurde. Einmal 1966 als TV-Miniserie. Und jetzt als Spielfilm. Regisseur und Drehbuchautor Xavier Giannoli veränderte für seine Verfilmung selbstverständlich einiges an der Vorlage, die in der aktuellen Ausgabe deutlich über achthundert engbedruckte Seiten umfasst. Die größten Unterschiede sind, dass Giannoli von den drei Büchern des Romans das letzte Buch, „Die Leiden des Erfinders“, nicht verfilmte und das erste, „Die zwei Dichter“, in der ersten viertel Stunde seines Films, stark gekürzt, erzählt. Das führt dazu, dass aus der Geschichte von Lucien Chardon bzw. Lucien de Rubempré und seinem Schwager David Séchard die Geschichte von Lucien de Rubempré wird und sich der Film auf sein Leben in Paris konzentriert. Dort ist er, wie das zweite Buch ironisch betitelt ist, „Ein großer Mann vom Land in Paris“.
Es gibt durch diese Kürzung einige teils notwendige, teils die Filmgeschichte runder machende Änderungen. Und Nathan d’Anastazio erzählt Luciens Geschichte. Nathan ist ein Schriftsteller, der Luciens Auf- und Abstieg in Paris beobachtet.
In der Provinzstadt Angoulême arbeitet Lucien in der kleinen Druckerei von David. In seiner Freizeit dichtet er. Seine Gedichte trägt er bei Empfängen von Louise de Bargeton vor. Dabei verliebt der junge Schöngeist sich in die Hausherrin. Beide leiden sie an der provinziellen Enge. Sie flüchten nach Paris, der Stadt in der alles viel besser sein soll. Kurz nach ihrer Ankunft trennen sie sich. Die Standes- und Altersunterschiede zwischen dem jungen, bürgerlichem Dichter und der älteren Adligen Louise de Bargeton sind zu groß.
Danach stürzt Lucien sich in das Pariser Leben. Als sein ursprünglicher Plan, seine Gedichte zu veröffentlichten und der neue Star der Literatur zu werden, scheitert, wird er zum Kulturkritiker. Der Journalist Étienne Lousteau weist ihn in das Handwerk ein. Lucien lernt Bücher und Aufführunge hoch- und niederzuschreiben; je nachdem, wie es gerade gefordert ist. Er verdient viel Geld. Er wird gefeiert. Er verliebt sich in die gleichaltrige Schauspielerin Coralie.
Dass dieses Glück nicht lange halten wird und Lucien wieder absteigen wird, verrät schon der Titel „Verlorene Illusionen“.
Honoré de Balzac schrieb „Verlorene Illusionen“ zwischen 1837 und 1843 und veröffentlichte den Roman ursprünglich in drei voneinander getrennten Büchern, die auch getrennt gelesen werden können. Zusammen mit de Balzacs anderen Romanen ergeben sie in seinem Großwerk „Die menschliche Komödie“ ein breites Sittengemälde des damaligen Frankreichs. In „Verlorene Illusionen“ beschäftigt er sich, wenn David und die von ihm betriebene Druckerei im Mittelpunkt stehen, das ist vor allem in „Die Leiden des Erfinders“ der Fall, intensiv mit dem Druckereigewerbe und dem Handel mit Schuldscheinen, an denen Anwälte und Banken prächtig verdienen. Im zweiten Band „Ein großer Mann vom Land in Paris“ steht dann das damalige Zeitungsgewerbe im Vordergrund. Beides kannte de Balzac aus eigener Erfahrung und beide Male rechnet er gnadenlos mit den damaligen Gepflogenheiten ab. Der Roman selbst ist im damaligen, heute nur noch schwer lesbarem Stil geschrieben. Die Handlung selbst wird immer wieder von teils seitenlangen Beschreibungen unterbrochen, in denen de Balzac sich über den damaligen Journalismus, das Druckerhandwerk und den Handel mit Schuldscheinen auslässt. Das ist dann ziemlich länglich. Deutlich interessanter sind die Beschreibungen der Sitten und liebevoll gepflegten Standesunterschieden in der Provinz und der Hauptstadt. Sie erklären auch, warum Lucien unbedingt den adligen Namen seiner Mutter annehmen möchte.
Xavier Giannoli kann vieles von de Balzacs ausführlichen Beschreibungen schnell in Bilder übersetzen. Anstatt langer Beschreibungen verschiedener Zimmer und was welche Kleidung über einen aussagt, zeigt er es einfach. Da verrät ein skeptischer Blick alles notwenige. Anderes lässt er, wie gesagt, weg. Die Darstellung des damaligen Journalismus und wie Zeitungen und Bücher gemacht wurden, die im zweiten Buch der „Verlorenen Illusionen“ einen großen Teil der Lesezeit einnimmt, nimmt auch einen großen Teil der Filmzeit ein. Das damalige Gebaren der Zeitungsmacher, die skrupellos Meinungen und Stimmungen manipulierten, und alles als Geschäft betrachteten, ist erschreckend aktuell.
Der Film selbst überzeugt als Mediensatire und prächtig ausgestattetes Sittengemälde.
Erzählerisch wird das arg konventionell und brav präsentiert.
In Venedig hatte das satirische Drama 2021 seine Premiere. Danach hatte es in Frankreich eine knappe Million Kinozuschauer und erhielt sieben Césars. Unter anderem als Bester Film, für das beste Drehbuch, die beste Kamera, die besten Köstüme und Lucien-Darsteller Benjamin Voisin wurde als vielsprechendster Schauspieler ausgezeichnet. Nominiert war das Werk in acht weiteren Kategorien, unter anderem für die Regie.
Verlorene Illusionen(Illusions perdues, Frankreich 2021)
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Xavier Giannoli, Jacques Fieschi
LV: Honoré de Balzac: Illusions perdues, 1843 (Verlorene Illusionen)
mit Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Jeanne Balibar, Gérard Depardieu, André Marcon, Louis-Do Lencquesaing, Jean-Francois Stévenin
Länge: 150 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die Vorlage (in der Neuübersetzung)
Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen – Roman aus der Provinz
Ein ganz normaler Sommertag in Clichy-Montfermeil, einem sozialen Brennpunkt östlich von Paris: Polizisten, darunter ein Neuling bei seinem ersten Arbeitstag, und Kleingangster kennen und bekriegen sich.
Rundum überzeugendes Ghettodrama. Einer meiner Kino!filme des Jahres 2020.
Ein seltsamer Knall weckt Jessica. Die Dichterin will mehr über diesen Knall, den sie als bedrohlich, beängstigend und auch unheimlich empfindet, erfahren.
Diese simple Idee bildet die Grundlage für Apichatpong Weerasethakuls neuen Film „Memoria“. Bekannt wurde er durch „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ (2010) und „Cemetery of Splendour“ (2015). Beide Filme wurden von der Kritik abgefeiert und liefen sogar in den deutschen Kinos. „Memoria“ ist sein erster außerhalb Thailands entstandener Film. Tilda Swinton übernahm die Rolle der suchenden Jessica.
In Bogota besucht sie ihre im Krankenhaus liegende Schwester Karen. Dort besucht sie auch ein Tonstudio. Zusammen mit dem Toningenieur will sie den Knall, den anscheinend nur sie gehört hat, genauer bestimmen. Er hilft ihr bei der Reproduktion des Knalls. Sie unterhalten sich und streifen durch die kolumbianische Hauptstadt. Im Krankenhaus, in dem ihre Schwester liegt, trifft sie die Archäologin Agnès. Gemeinsam betrachten sie ein Jahrhunderte altes Skelett eines Mädchens. Die Knochen wurden bei dem Bau eines Tunnels entdeckt. Agnès fährt zu der weit ab von Bogota liegenden Ausgrabungsstätte. Jessica folgt ihr in die Provinz. Dort trifft sie auf Hernán, einen Fischer. Sie unterhalten sich. Es scheint eine Verbindung zwischen ihnen zu geben. Und sie sitzen schweigend an einem Bach in der unberührten Natur.
Wie in seinen vorherigen Filmen interessiert Apichatpong Weerasethakul sich wenig für eine nacherzählbare Handlung. Sie wird beim Aufschreiben noch banaler, als sie es schon beim Ansehen ist. Ihm geht es um Ruhe. Er beobachtet in scheinbar endloser Geduld Jessica und, falls vorhanden, ihre Gesprächspartner. Meistens ohne einen Schnitt über mehrere Minuten. Die Schauspieler bewegen sich während der gesamten Szene, wenn sie sitzen, fast nicht. Am liebsten zeigt Weerasethakul das in statischen Einstellungen, die den gesamten Raum erfassen. Die Schauspieler sind bei Außenaufnahmen irgendwo, eher klein, im Bild positioniert. Deshalb und um in aller Ruhe alle Details des Bildes zu erfassen, sollte man „Memoria“ auf einer großen Leinwand sehen.
Der kontemplative, in seiner Offenheit keine eindeutige Interpretation vorgebende oder forcierende Film „Memoria“ ist definitv kein Film für jeden. Aber die präzise komponierten Bilder üben eine eigenwillige Faszination aus. Und es ist einer der Filme, der kein Problem damit hat, wenn die Gedanken des Zuschauers abschweifen. Im Gegenteil. Er begrüßt und forciert diese Unaufmerksamkeit sogar, weil er als ‚medidative Spurensuche‘ (Presseheft) es genau darauf anlegt. Die Bilder und eher assoiativen Dialoge sollen dabei nur ein Startpunkt für den Zuschauer sein.
In Cannes erhielt die Slow-Cinema-Perle „Memoria“ 2021 den Preis der Jury.
Ein ganz normaler Sommertag in Clichy-Montfermeil, einem sozialen Brennpunkt östlich von Paris: Polizisten, darunter ein Neuling bei seinem ersten Arbeitstag, und Kleingangster kennen und bekriegen sich.
TV-Premiere. Rundum überzeugendes Ghettodrama. Einer meiner Kino!filme des Jahres 2020.
Für Stéphane (Damien Bonnard) ist es sein ‚Training Day‘ mit Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djebril Zonga), die schon seit Ewigkeiten in Les Bosquets in Clichy-Montfermeil, einem Vorort östlich von Paris, arbeiten. Chris ist der schnell aufbrausende und seine Polizeimarke skrupellos benutzende Anführer des Teams. Gwada ist sein ruhigerer und besonnener Partner. Beide sind sich sicher, dass Stéphanes in der Provinz vielleicht taugliche sozialarbeiterisch-verständnisvolle und auch rücksichtsvolle Herangehensweise in der Großstadt, und dann noch in einem sozialen Brennpunkt mit periodischen Gewaltausbrüchen, schnell der Vergangenheit angehören wird.
Während eines brütend heißen Sommertags zeigen sie Stéphane ihr Revier. Sie stellen sich selbst dar. Vor allem Chris erklärt ihm (und uns) die Welt, wie sie ist. Und die ist ziemlich reaktionär. Wenn er sich langweilt, übt er seine Macht als Polizist gegenüber den Bewohnern des Viertels mit schikanösen Zufallskontrollen aus. Außerdem prüfen und verarschen Chris und Gwada ihren neuen Kollegen. Der beobachtet das in einer oft schweigenden Mischung aus Erstaunen und Entsetzen. Insgesamt ist es ein ganz normaler Tag in Montfermeil. Auch dass aus dem im Viertel gastierendem Wanderzirkus das Maskottchen des hitzköpfigen Zirkuschefs, ein Löwenbaby, gestohlen wird und fortan alle nach dem Tier suchen, ändert daran zunächst wenig.
Die Story ermöglicht Ladj Ly in seinem Regiedebüt „Die Wütenden – Les Misérables“ ein ungeschöntes und letztendlich sehr bitteres Porträt eines Stadtteils und seiner Bewohner zu zeichnen. Es ist ein Stadtteil, in dem das Recht des Stärkeren für eine gewisse Stabilität sorgt. Auch wenn es nichts zu einer positiven Entwicklung beträgt. Im Gegenteil.
Es ist auch das Stadtteil, in dem Ly aufwuchst, seine Besetzung fand und in den vergangenen Jahren seine ersten Filme drehte. Es waren Dokumentarfilme unterschiedlicher Länge, die er auch auf YouTube veröffentlichte. In ihnen gibt er einen Einblick in das Leben in Montfermeil. So dokumentiert er in „365 Days in Clichy Montfermeil“ (2007) den Teil der gewalttätigen Unruhen in Frankreich 2005, die vor seiner Haustür stattfanden und das Leben in seiner Stadt.
Im Film benutzt er dann sehr gelungen die Konventionen des Polizeifilms für eine Gesellschaftsanalyse, die immer wieder verschiedene Abhängigkeiten und Loyalitäten und die daraus entstehende negative Dynamik thematisiert, ohne jemals zu predigen. Das steht dann auch in der Tradition französischer Kriminalfilme, wie Bertrand Taverniers Polizeifilm „Auf offener Straße“ (L.627, Frankreich 1992) oder Mathieu Kassovitz‘ Banlieue-Jugenddrama „Hass“ (La Haine, Frankreich 1995).
Seitdem hat sich in den Banlieues wenig verändert. Außer dass die Bewohner inzwischen Polizeischikanen und -gewalt mit Handykameras und Drohnen dokumentieren können.
Seine Premiere hatte „Die Wütenden – Les Misérables“ letztes Jahr in Cannes. Dort erhielt das Drama den „Preis der Jury“. Weitere Preise wie ein Europäischer Filmpreis für das beste Spielfilmdebüt folgten. Zuletzt wurde der Polizeifilm für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert. Er wäre ein würdiger Preisträger. Dummerweise dürfte er gegen „Parasite“ keine Chance haben.
Die Wütenden – Les Misérables (Les Misérables, Frankreich 2019)