Neu im Kino/Filmkritik: Steve McQueens „Blitz“ – heute im Kino, morgen im Stream

November 8, 2024

1940 bombardierte Nazi-Deutschland täglich London. Dieser Teil der Luftschlacht um England ging als „The Blitz“ in die Geschichtsbücher über den Zweiten Weltkrieg ein. Jede Nacht flüchteten die Menschen vor den Bomben in Keller und U-Bahn-Stationen. Tagsüber wurden die Trümmer notdürftig weggeräumt. Und die Regierung organisierte die Verschickung von Kindern aufs Land, wo es sicherer war. Auch der neunjährige George (Elliott Heffernan) soll in Sicherheit gebracht werden, während seine alleinerziehende, in einer Rüstungsfabrik in der Produktion arbeitende Mutter Rita (Saoirse Ronan) und sein Großvater Gerald (Rockmusiker Paul Weller, der einen Musiker spielt) in ihrer Wohnung im Osten Londons bleiben.

Schon der Abschied am Bahnhof verläuft anders, als Rita es sich erhoffte. Denn George will nicht weg.

Kurz hinter London spring er aus dem Zug und macht sich, wie Lassie, auf den Weg zurück zu seiner Mutter.

Steve McQueen erzählt in seinem neuen Film „Blitz“ parallel Georges und Ritas Geschichte. Das so entstehende, primär aus Georges Perspektive erzählte Drama ist ein seltsamer Mix aus Kinobildern und der Dramaturgie einer TV-Serie, die auf Kinolänge gekürzt wurde. Beide Handlungsstränge sind so angelegt, dass sie mit beliebig vielen weiteren Episoden und Personen verlängert oder, bei Bedarf, gekürzt werden können. Darum entsteht auch nie das Gefühl, dass sie zu elliptisch erzählt sind. Denn ob George bei seiner Reise zurück nach London noch einige weitere Tage unterwegs ist, einige weitere Menschen trifft und Abenteuer erlebt oder auch nicht, ist egal. Gleiches gilt für die Erlebnisse von seiner Mutter und seinem Großvater in London.

Diese durchgehend episodische Erzählweise erlaubt es Steve McQueen viele verschiedene Themen, wie den damaligen Rassismus, anzusprechen. Zusammengehalten werden die Episoden durch den aus „Lassie“ bekannten Plot.

Blitz“ ist ein guter, humanistisch geprägter und zu Herzen gehender Film. Das Drama ist gleichzeitig Steve McQueens in jeder Hinsicht konventionellester Film. Zu seinen vorherigen Filmen gehören „Hunger“, „Shame“ und „12 Years a Slave“.

Steve McQueens neuer Film läuft jetzt in einigen Kinos. Aktuell wird „Blitz“ in Berlin in zwei kleinen Arthaus-Kinos einmal am Tag gezeigt. Ab dem 22. November ist er auf Apple TV+ verfügbar.

Blitz (Blitz, Großbritannien 2024)

Regie: Steve McQueen

Drehbuch: Steve McQueen

mit Saoirse Ronan, Elliott Heffernan, Harris Dickinson, Benjamin Clémentine, Kathy Burke, Paul Weller, Stephen Graham, Leigh Gill, Mica Ricketts, CJ Beckford, Alex Jennings, Joshua McGuire, Hayley Squires, Erin Kellyman, Sally Messham

Länge: 120 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Blitz“

Metacritic über „Blitz“

Rotten Tomatoes über „Blitz“

Wikipedia über „Blitz“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Steve McQueens „Shame“ (Shame, Großbritannien 2011)

Meine Besprechung von Steve McQueens „12 Years a Slave“ (12 Years a Slave, USA 2013)

Meine Besprechung von Steve McQueens „Widows – Tödliche Witwen“ (Widows, USA 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: In „Alles eine Frage der Zeit“ ist nichts eine Frage der Zeit

Oktober 17, 2013

An seinem 21. Geburtstag verrät sein Vater Tim Lake (Domhnall Gleeson) ein Geheimnis: In ihrer Familie können die Männer mit einigen Einschränkungen durch die Zeit reisen.

Während seine Ahnen diese Fähigkeit dazu benutzen, Geld anzuhäufen oder die Werke von Charles Dickens zweimal zu lesen, sucht Tim vor allem die Liebe seines Lebens – und, dank der Zeitreise, kann er sich ihr als der perfekte Liebhaber präsentieren. Vielleicht nicht beim ersten Mal. Aber beim zweiten oder dritten Mal.

Bei Richard Curtis, der das Buch schrieb und Regie führte, entstehen aus dieser Fähigkeit allerdings keine Konflikte oder moralische Dilemmas oder nicht bedachte Folgen. In Curtis‘ Film ist sie nur eine Möglichkeit, das eigene Leben zu verbessern, ohne dass sich in der Welt irgendetwas weltbewegendes ändert. Wenn Tim etwas nicht gelingt, dann versucht er es – wie in einem Labor – einfach noch einmal.

Ziemlich schnell wird deshalb die Zeitreisefähigkeit zu einem Gimmick für einen billigen Lacher, wenn er bei einem Gespräch mit seiner Sommerliebe immer in ein anderes Fettnäpfchen tappt oder er die erste Nacht mit seiner großen Liebe Mary (Rachel McAdams) so lange optimiert, bis er der größte Liebhaber aller Zeiten ist, sie mit ihrem Traummann zusammenbleiben will und sie gemeinsam eine Familie mit vielen Kindern gründen. Denn in „Alles eine Frage der Zeit“ geht es nur um die Verklärung des kleinen häuslichen Glücks mit Frau und Kind. Halt dem konservativen Idealbild einer Familie. Dazu passt auch, dass Tim Anwalt ist und er so schüchtern ist, dass er niemals bei Rot eine Ampel überqueren würde. Die beiden, ihre Eltern und ihre Freunde sind sympathische Menschen, die das tun, was sie in einer RomCom immer tun: sich verlieben und glücklich sein.

Und auf der Ebene ist „Alles eine Frage der Zeit“ als gut besetzte, etwas lang geratene romantische Komödie auch okay. Man muss halt nur die Zeitreise-Idee links liegen lassen (vielleicht hat Tim ja einfach nur eine blühende Fantasie) und sich nicht über die vielen verschenkten Möglichkeiten aufregen. Denn warum gibt es keine Konflikte, wenn Tim durch die Zeit reist? Warum ändert sich die Wirklichkeit nicht in einem größeren Maßstab? Kurz: Warum haben seine Handlungen keine Auswirkungen auf das Weltgeschehen? In „Alles eine Frage der Zeit“ ist Zeitreise das Äquivalent zu einem Laborversuch: wir probieren es einmal und dann ändern wir halt einfach der Reihe nach verschiedene Bedingungen und probieren verschiedene Sachen aus. Nur ist ein Film kein Laborversuch.

Andere Autoren, die sich mit Zeitreisen und den daraus entstehenden Problemen beschäftigten, haben die verschiedenen Paradoxien und unbedachten Auswirkungen ja thematisiert und natürlich fragten sie, ob man, wenn man weiß, dass etwas schreckliches Geschehen wird, das nicht verhindern sollte. Das bekannteste Beispiel ist natürlich die Frage, ob man Adolf Hitler nicht umbringen würde, wenn man es könnte. Stephen Fry schrieb dazu den köstlichen Roman „Geschichte machen“ (Making History, 1996). In Stephen Kings „Der Anschlag“ (11/22/63, 2011) versucht ein Zeitreisender die Ermordung von John F. Kennedy zu verhindern. Um nur zwei literarische Beispiele zu nennen. Genrejunkies können die Liste ja beliebig erweitern.

Das fragt Tim sich nie. Auch Autor und Regisseur Curtis interessiert sich nicht dafür. Außerdem bricht Curtis immer wieder, vollkommen willkürlich die von ihm etablierten Zeitreise-Regeln. So reist Tim irgendwann mit seiner Schwester in der Zeit zurück.

Insofern – und da tue ich wahrscheinlich Richard Curtis, der, nach „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, „Notting Hill“ und „Tatsächlich…Liebe“, einfach nur eine nette romantische Komödie inszenieren wollte, wahrscheinlich Unrecht – ist „Alles eine Frage der Zeit“ ein unappetitlich, bieder-reaktionärer Film, der schamlos einen Rückzug ins Private propagiert.

Alles eine Frage der Zeit - Plakat

Alles eine Frage der Zeit (About Time, Großbritannien 2013)

Regie: Richard Curtis

Drehbuch: Richard Curtis

mit Domhnall Gleeson, Rachel McAdams, Bill Nighy, Lydia Wilson, Lindsay Duncan, Richard Cordery, Joshua McGuire, Tom Hollander, Margot Robbie, Will Merrick, Vanessa Kirby

Länge: 124 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Alles eine Frage der Zeit“

Moviepilot über „Alles eine Frage der Zeit“

Metacritic über „Alles eine Frage der Zeit“

Rotten Tomatoes über „Alles eine Frage der Zeit“

Wikipedia über „Alles eine Frage der Zeit“ (deutsch, englisch)