LV: Maile Meloy: Both ways is the only way I want it: Stories, 2009
TV-Premiere (hat etwas gedauert). In ihrem wunderschönen Drama erzählt Kelly Reichardt gewohnt zurückhaltend und präzise drei Geschichten über den wenig außergewöhnlichen Alltag von vier Frauen in Livingstone, Montana.
Der Filmdienst meinte „Sehenswert“.
Einer der ersten Leinwandauftritt von Lily Gladstone, die jetzt als beste Hauptdarstellerin für ihr Spiel in Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ für den Oscar nominiert ist
Und wieder verarbeitet Martin Scorsese eine wahre Geschichte zu einem Spielfilm. Bei „GoodFellas“, „Casino“, „Gangs of New York“ (seinem ersten Film mit Leonardo DiCaprio) und „The Wolf of Wall Street“ führte das zu inzwischen allgemein als Klassiker anerkannten Filmen. In seinem neuesten Film, dem 206-minütigem Epos „Killers of the Flower Moon“, geht es um die Serie von Morden an den in Oklahoma lebenden Osage. Zwischen 1918 und 1931, wobei der Höhepunkt zwischen 1921 und 1926 war, wurden in der menschenleeren Gegend über sechzig, nach neueren Forschungen sogar über hundert, Osage ermordet.
Durch den Fund von Ölquellen waren die Osage unglaublich reich geworden. Am Filmanfang werden wir belehrt, dass sie damals zu den reichsten Menschen auf der Erde gehörten. Soviel Geld zieht natürlich viele Glücksritter und Verbrecher an. Legal, illegal, halblegal, scheißegal, solange das Geld in den Taschen weißer Männer landet. Einer von ihnen ist William ‚King‘ Hale (Robert De Niro). Der Viehzüchter inszeniert sich als gütiger Patriarch und Freund der Osage. Hintenrum lässt er sie, vor allem Osage-Frauen, töten. Es gibt nämlich ein Gesetz, nach dem der Ehemann der Toten ihr Vermögen erbt. Und das sind in diesem Fall beträchtliche Einnahmen aus dem Ölgeschäft.
Deshalb fordert er seinen Neffen Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) auf, eine Osage-Frau zu heiraten. In Mollie Kyle (Lily Gladstone) findet der etwas dumme Kriegsinvalide Burkhart sogar eine ansehnliche, kluge und liebenswerte Frau. Um an ihr Vermögen zu kommen, auch wenn ihn ab und an das schlechte Gewissen plagt, muss er sie vergiften.
Zur gleichen Zeit bringen die Weißen munter Osage-Männer und -Frauen um. Einmal versuchen die Indianer in Washington Gehör zu finden. Und einige Bundesagenten suchen die Täter. Für J. Edgar Hoover und das damals noch junge FBI war die Aufklärung der Mordserie ihr erster großer Fall.
Das klingt doch nach einer Geschichte, die perfekt zu Martin Scorsese passt. Die Kritiken nach der Premiere in Cannes waren überschwänglich. Ich kann sie mir nur als eine Mischung aus Festivalbesoffenheit, Freude über das Aushalten des Films ohne mehrmalige Toilettengänge (er dauert 206 Minuten, es gibt keine Pause) und die Freude, darüber, dass ihr großes Idol Martin Scorsese weiterhin Filme inszeniert. Teure Filme. So soll „Killers of the Flower Moon“ zweihundert Millionen US-Dollar gekostet haben.
Über die Qualität eines Films sagt das Budget nichts aus. Eher schon über das Geschäftsmodell von Streamingdiensten. „Killers of the Flower Moon“ ist eine Apple-Produktion. Sie gaben Scorsese viel Geld und ließen ihn dann machen. Danach können sie den Film auf ihrer Plattform ablegen und mit dem Namen des Regisseurs werben. Das poliert ihren Ruf als Förderer der Kinokunst auf. Gleichzeitig bringt ihnen das einige neue Abonnenten. Ob sie sich den Film ansehen, ist egal. Ob der Film gut ist, ist auch egal. Außerdem ist er schneller vergessen, als die älteren Filme der bekannten Regisseure, die sich auf dieses Geschäftsmodell einließen. Oder wer erinnert sich noch an die von den Coen-Brüdern, David Fincher, Sofia Coppola und Noah Baumbach für Streamingdienste gedrehte Filme? Wenn sie im Kino gezeigt und auf DVD/Blu-ray veröffentlicht wurden, wurde immerhin etwas mehr über sie gesprochen. Aber zwei Wochen später sind sie weitgehend vergessen. Auch Scorseses vorheriger Film, die Netflix-Produktion „The Irishman“ ist inzwischen vergessen.
Und damit wären wir bei „Killers of the Flower Moon“, einem Film der ähnlich misslungen wie „The Irishman“ ist. Der Film ist zu lang, zu unfokussiert und zu langsam, teils mit sich in Endlosschleifen wiederholenden Dialogen, erzählt. Zum Glück verzichtet Scorsese dieses Mal auf das in „The Irishman“ irritierende De-Aging.
Das Hauptproblem bei „Killers of the Flower Moon“ ist das von Eric Roth und Martin Scorsese geschriebene Drehbuch. Sie verzichten auf ein Voice-Over; – dabei ist Martin Scorsese ein Meister des Voice-Overs und ein gutes Voice-Over kann einer epischen Geschichte in jeder Beziehung den nötigen Fokus verleihen. Hier breiten Scorsese und Roth in epischer Bräsigkeit über dreieinhalb Stunden eine Geschichte aus, bei der nie klar ist, wer der Protagonist ist. Also mit welcher Figur wir uns identifizieren sollen. Am ehesten bietet sich der von Leonardo DiCaprio mit vorgestrecktem Kinn, nach unten gezogenen Mundwinkeln und starrem Blick als gutmütig-tumben Trottel gespielten Ernest Burkhart an. Er treibt passiv durch die Geschichte und verhält sich mal so, mal so, aber nie konsistent. Entsprechend unbeeindruckt verfolgt man sein Schicksal. William ‚King‘ Hale (De Niro) ist da eine wesentlich stimmigere Figur, die allerdings blasser als nötig bleibt. Alle anderen Figuren sind in dem an allen Ecken und Enden in jeder Beziehung ausfransendem Ensemblestück Nebenfiguren ohne besondere Eigenschaften. Das gilt auch für Burkharts Frau Mollie (Lily Gladstone), die als eine viel zu intelligente Frau eingeführt wird, um sich dann willenlos von ihrem Mann vergiften zu lassen.
Die teils arg elliptisch erzählte Story plätschert ähnlich unentschlossen zwischen verschiedenen Plots und Ereignissen vor sich hin. Natürlich gibt es immer wieder gute Szenen, aber eigentlich alles, was in den ersten Minuten etabliert wird, ist später höchstens ein Hintergrundrauschen. Öltürme (zur Erinnerung: die Osage wurden durch Öl reich und jeder will ein Stück von diesem Ölkuchen abhaben) sehen wir am Anfang. Dann nie wieder. Die Osage verschwinden schnell, abgesehen von den Osage-Frauen, aus der Filmgeschichte. Erst gegen Ende treten sie wieder auf, ohne einen entscheidenden Einfluss auf die Handlung zu haben. Während der Gerichtsverhandlung am Filmende dürfen sie dann als Publikum stumm die Verhandlung verfolgen.
Am Ende, wenn die Übeltäter angeklagt werden, ist unklar, wen oder was Scorsese für die Morde verantwortlich macht. Das ist die alte Frage, ob das Individuum für seine Taten oder die Gesellschaft, genauer die Strukturen einer Gesellschaft und die Umstände, unter denen der Täter lebt, für die Taten des Einzelnen verantwortlich sind. Also ob es sich bei den Morden an den Osage um die Taten von einem bösen Patriarchen und einiger gieriger und dummer Männer oder um gesellschaftliche Strukturen handelt. Strukturen, die zu diesen Morden führten und die von der herrschenden Klasse letztendllich auch gewollt waren. Diese These wird im Film nicht weiterverfolgt.
Denn im Gegensatz zu seinen anderen Filmen scheint Scorsese hier die Verantwortung bei den Tätern zu sehen. Vor allem bei ‚King‘ Hale, der einfach nur ein böser Mensch war und der die anderen Männer zu den Morden anstiftete. Zum Glück kam dann irgendwann das FBI und überführte ihn.
In dem Moment ist schon sehr viel Filmzeit vergangen. Entsprechend schnell werden die Ermittlungen von Tom White (Jesse Plemons) und seinen Männern als Pflichtprogramm vor der Gerichtsverhandlung abgehandelt.
„Killers of the Flower Moon“ gehört zu Martin Scorseses schlechteren Filmen. Dabei hätte aus der Geschichte mit einem Voice-Over, das die Geschichte der Morde an den Osage aus einer Perspektive erzählt, und, damit einhergehend, herzhaft um eine halbe Stunde oder, besser noch, eine Stunde gekürzt, ein guter Film werden können.
Killers of the Flower Moon (Killers of the Flower Moon, USA 2023
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: Eric Roth, Martin Scorsese
LV: David Grann: Killers of the Flower Moon: The Osage Murders and the Birth of the FBI, 2017 (Das Verbrechen)
mit Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Jesse Plemons, Lily Gladstone, Tantoo Cardinal, John Lithgow, Brendan Fraser, Cara Jade Myers, JaNae Collins, Jillian Dion, William Belleau, Louis Cancelmi, Tatanka Means, Michael Abbot Jr., Pat Healy, Scott Shepard, Jason Isbell, Sturgill Simpson
Länge: 206 Minuten
FSK: ab 12 Jahre (und wenn die Eltern dabei sind, ist der Film ab 6 Jahre erlaubt)
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Auf Mubi gibt es Kelly Reichardts neuen Film schon seit Juli und so wirklich ist „First Cow“ für die riesengroße Leinwand nicht gemacht. Aber im kleinen Saal des Kinos kann ich mir diesen sehr intimen im 4:3-Format gedrehten Anti-Western sehr gut vorstellen.
Es beginnt in der Gegenwart, als eine junge Frau im Wald zwei nebeneinander liegende Skelette entdeckt. Dann springt Reichardt ungefähr zweihundert Jahre zurück und sie erzählt uns, wer dort liegt und wie es zum Tod dieser beiden Männer gekommen ist.
Otis ‚cookie‘Figowitz, ein zurückhaltender Einzelgänger und Koch, reist um 1820 mit einer Gruppe primitiver Pelztierjäger durch das Oregon-Territorium. Im Wald trifft er King-Lu. Er ist auf der Flucht vor einer Gruppe Russen, die ihn umbringen wollen, weil er einen von ihnen getötet hat.
Cookie hilft ihm. Sie befreunden sich, trennen sich und treffen sich in einem Dorf wieder, das nur eine Ansammlung von Bretterbuden im Matsch ist.
Cookie zieht bei King-Lu ein. Und nachdem er für King-Lu köstlich schmeckende Kekse backt, schlägt King-Lu ihm vor, dass er mehr davon backen solle. Sie könnten sie verkaufen. Damit die Kekse richtig gut werden, benötigt Cookie Milch.
Diese Milch gibt es nur von einer Kuh und es gibt sogar in der Nähe eine Kuh. Sie ist, wie ihr Besitzer Chief Factor, ein großspuriger und machtbewusster Großgrundbesitzer, stolz verkündete, die erste Kuh in diesem Gebiet. Einige behaupten, er habe die Kuh nur deshalb hierher bringen gelassen, um Milch für seinen Tee zu haben.
Mitten in der Nacht schleichen Cookie und King-Lu auf sein Grundstück zur Kuh. Cookie melkt sie liebevoll. Mit dieser Milch backt er anschließend Kekse, die ihnen förmlich aus der Hand gerissen werden. Sie erinnern die Männer im Dorf an ihre alte Heimat und Kindheit. Die Bilder von den verzückt in die Kamera blickenden unrasierten und ungewaschenen Siedlern und Jägern gehören zu den schönsten Aufnahmen des Films.
Das Geschäft von Cookie und King-Lu floriert. Jedenfalls solange Chief Factor nicht erfährt, dass die beiden seine Kuh ungefragt melken.
Selbstverständlich erfährt er irgendwann von diesem Diebstahl und, ebenso selbstverständlich, ist der reichste Mann der Gegend darüber sehr verärgert. Damit skizziert „First Cow“, was in einem Western nicht ungewöhnlich ist, den Kapitalismus und übt auch Kapitalismuskritik. Immerhin sind die beiden kleinen Unternehmer grundsympathische Männer, die einfach über die Runden kommen wollen. Ihnen fehlt der Eroberungsinstinkt von Chief Factor oder das unziviliserte Benehmen der Männer, mit denen Cookie und King-Lu in das Oregon-Territorium reisten.
Diese sehr feinfühlig geschilderte Freundschaft zwischen Cookie und King-Lu steht im Mittelpunkt von Kelly Reichardts neuem Film. Sie sind zwei gegensätzliche Männer, die sehr schnell ein fast stummes gegenseitiges Verständnis füreinander entwickeln, sich vertrauen und gegenseitig helfen.
Erzählerisch und optisch ist „First Cow“ die Antithese zum klassischen Hollywoodwestern. Es gibt keine Breitbild-Landschaftsaufnahmen und keinen breitbeinig vorgetragenen Pioniermythos. Der Boden im Dorf ist matschig. Die Häuser sind Bretterbuden. Pferde gibt es nicht. Stattdessen bewegt man sich zu Fuß oder im Kanu fort. .
Und die Native Americans beobachten das Treiben der Weißen eher distanziert. Genau wie Kelly Reichardt. Genau dieser ruhige, voller Sympathie beobachtende Blick, der den Schauspielern Zeit gibt, ihre Figuren zu präsentieren, macht die Faszination von „First Cow“ aus.
First Cow (First Cow, USA 2019)
Regie: Kelly Reichardt
Drehbuch: Kelly Reichardt, Jon Raymond (aka Jonathan Raymond)
LV: Jonathan Raymond: The Half-Life: A Novel, 2004 (inspiriert von)
mit John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, Ewen Bremner, Rene Auberjonois, Scott Shepherd, Gary Farmer, Lily Gladstone, Dylan Smith
Es passiert, abgesehen von einer Geiselnahme, nichts wirklich dramatisches in „Certain Women“, dem neuesten Film von Kelly Reichardt. Zuletzt inszenierte sie den Anti-Western „Meek’s Cutoff“ und den Anti-Thriller „Night Moves“. Und wer diese und ihre vorherigen Filme kennt, weiß, dass die Geiselnahme in „Certain Women“ keine der hyperenergetischen, schnell geschnittenen Geiselnahmen ist, die wir aus zahllosen Thrillern kennen.
Die Independent-Regisseurin erzählt in ihrem neuesten Film drei in sich abgeschlossenen Geschichten von vier Frauen, die in und um Livingston in Montana leben. Die Anwältin Laura (Laura Dern) versucht seit Monaten ihren Mandanten Fuller (Jared Harris) zu überzeugen, dass seine Arbeitsrechtklage erfolglos sein wird. Als er in seiner Verzweiflung in einem Bürogebäude eine Geisel nimmt, soll sie ihn zur Aufgabe bewegen. Kelly Reichardt inszeniert diese Geiselnahme, wie den gesamten Film, konsequent entschleunigt und betont undramatisch. So als sei auch eine Geiselnahme Alltag und das Gespräch mit dem bewaffnetem Geiselnehmer nur ein weiteres Mandantengespräch.
Noch alltäglicher sind die beiden anderen Geschichten des Films. In der zweiten Geschichte wollen Gina (Michelle Williams) und ihr Mann Ryan (James Le Gros) für den Bau eines Hauses Natursteine von ihrem allein lebenden, zunehmend dement werdenden Nachbarn Albert (Rene Auberjonois) haben. Für ihn sind sie mit Erinnerungen verbunden. Für Gina sind sie ein schönes Deko-Element des geplanten Hauses, das sich in die malerische Landschaft einfügen soll.
In der dritten Geschichte setzt sich die Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) in einen Fortbildungskurs für Lehrer. Beth (Kristen Stewart) leitet den Kurs. Sie hat gerade ihr Jurastudium beendet. Für den Kurs muss sie an zwei Abenden in der Woche vom vier Stunden entfernten Livingston herkommen. Nach dem Kurs reden Beth (mehr) und Jamie (weniger) in einem Diner über ihr Leben und ihre Zukunft.
Als Beth eines Tages nicht mehr zum Kurs erscheint, weil ihr die Fahrt zu lang ist, macht sich die in sie verliebte Jamie sich auf den Weg nach Livingston.
Als Vorlage für diese Geschichten dienten Kelly Reichardt die in dem Sammelband „Both ways ist he only way I want it“ enthaltenen Kurzgeschichten „Travis B.“, „Native Sandstone“ und „Tome“ der hochgelobten Autorin Maile Meloy. Kelly Reichardt behält in ihrem Film das skizzenhafte der Kurzgeschichten bei. Es sind kleine Episoden aus dem Leben der Frauen, in denen wir viel über sie erfahren, aber auch vieles noch nicht einmal angesprochen wird. Dafür beobachtet Kelly Reichardt ausdauernd Laura, Gina, Jamie und Beth in alltäglichen Situationen und das ist überhaupt nicht langweilig. Denn es sind vier sehr verschiedene Frauen.
Ihr Episodendrama verlangt allerdings, wie immer bei Kelly Reichardt, einen geduldigen Zuschauer, der sich auf den langsamen Erzählrhythmus einlässt und der nicht nach der üblichen Hollywood-Dramaturgie und Konfliktlösung giert. Auch ihre Charaktere passen nicht in die gängigen Hollywood-Klischees. Dafür ähneln sie zu sehr ganz normalen Menschen mit ganz normalen Problemen.
„Certain Women“ ist wie das Leben: weitgehend undramatisch in den bekannten Bahnen, in denen Veränderungen langsam geschehen, aber nicht unspannend. Das liegt auch daran, dass in jeder Episode große Themen und Fragen auf eine leise, intime Art angesprochen werden.
Certain Women (Certain Women, USA 2016)
Regie: Kelly Reichardt
Drehbuch: Kelly Reichardt
LV: Maile Meloy: Both ways is the only way I want it: Stories, 2009
mit Laura Dern, Kristen Stewart, Michelle Williams, Lily Gladstone, James Le Gros, Jared Harris, Rene Auberjonois, John Getz