Neu im Kino/Filmkritik: Über Steven Spielbergs Kindheits- und Jugenderinnerung „Die Fabelmans“

März 10, 2023

Wenige Tage nach seiner Berlinale-Aufführung und wenige Stunden vor der Oscar-Preisverleihung läuft Steven Spielbergs neuer Film „Die Fabelmans“ bei uns endlich regulär im Kino an. Er ist für sieben Oscars, unter anderem als bester Film, für die beste Regie und das beste Drehbuch nominiert. Weil im Moment alle besoffen vor Begeisterung für „Everything Everywhere All at Once“ sind, dürfte nach den aktuellen Voraussagen „The Fabelmans“ keinen Oscar erhalten. Ich würde, tapfer die Minderheitenmeinung vertretend, Spielbergs Biopic einige Oscars geben.

Strenggenommen ist „Die Fabelmans“ kein Biopic. Denn die titelgebenden Fabelmans gab es nie. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Steven Spielberg in diesem Film die Geschichte seiner Kindheit und Jugend verfilmte. Das Fiktionalisierung bewahrt ihn lediglich vor Schwierigkeiten, wenn ihm jemand vorwirft, das sei damals anders gewesen. Und er kann natürlich immer sagen, dass es sich doch nur um eine erfundene Geschichte handelt. Er hat auch einige Details geändert. Aber letztendlich ist er näher an den Fakten als manche Filme, die sich als Biopic bezeichnen.

Spielberg erzählt die Geschichte von Sam ‚Sammy‘ Fabelman (Gabriel LaBelle; der jüngere Sammy wird von Mateo Zoryan Francis-DeFord gespielt). In New Jersey nehmen ihn seine Eltern am 10. Januar 1952 mit ins Kino. Sie sehen sich Cecil B. DeMilles „Die größte Schau der Welt“ (The Greatest Show on Earth) an. Der Sechsjährige ist gleichzeitig fasziniert und verängstigt von dem im Film spektakulär gezeigtem Zugunglück. Mit der Modelleisenbahn stellt er den Unfall nach, filmt ihn und lernt so, mit seinen Ängsten umzugehen.

Im folgenden erzählt Spielberg das weitere Schicksal von Sam und der überaus liebevollen, fürsorglichen und weltoffenen Familie Fabelman. Sein Vater Burt (Paul Dano) ist Computerentwickler für Datenspeichersysteme. Seine Arbeit führt sie im Lauf der Jahre von der Ostküste zur Westküste. Von New Jersey geht es über Arizona nach Kalifornien. Sam kommt dabei immer näher an den Ort seiner Träume: Hollywood. Seine Mutter Mitzi (Michelle Williams) ist eine Künstlerin. Für ihren Mann und ihre Kinder – Sam hat drei jüngere Schwestern – gab sie ihre Karriere als Konzertpianistin auf. Später verliebt sie sich in Bennie Loewy (Seth Rogen), den besten Freund der Familie. Daran zerbricht die Ehe. Mitzi verlässt ihren Mann und zieht mit Bennie weg.

Bis zu dieser Trennung wird Sam von Burt und Mitzi bei seinen Ambitionen als Filmregisseur gefördert. Auch wenn Burt Sams Filmbegeisterung eher als Hobby sieht, das ihn nicht daran hindern darf, einen richtigen Beruf zu erlernen. Schon als Jugendlicher dreht Sam Filme, wie einen Western und einen vierzigminutigen Kriegsfilm. Er kann seine Klassenkameraden überzeugen, bei den Filmen mitzumachen. Die so entstehenden Filme kommen gut an.

In Hollywood begegnet er in den frühen Sechzigern John Ford. David Lynch spielt den Western-Regisseur in einem grandiosen und schon jetzt legendärem Kurzauftritt.

Über hundertfünfzig Minuten erzählt Steven Spielberg die Geschichte von Sam Fabelman und zeigt, wieder einmal, was für ein begnadeter Geschichtenerzähler er ist. Denn Sams Leben verläuft überaus harmonisch und frei von Konflikten. Im Mittelpunkt steht seine Filmbegeisterung, wie er sie in konkrete Projekte umsetzt und wie der von seinen Eltern und seinem Umfeld bedingungslos unterstützt und gefördert wird. Die Scheidung seiner Eltern und, weil er immer wieder der neue Junge in der Klasse ist, gelegentliche Probleme mit Klassenkameraden, ändern daran nichts. Für Spielberg war diese Scheidung traumatisch und sie hinterließ in seinem Werk deutliche Spuren. Vor allem in „E. T. – Der Außerirdische“ verarbeitete er seine Kindheit so, dass er mit dem Film schon alles über sie sagte.

Insofern erzählt er auf emotionaler Ebene in „Die Fabelmans“ nichts, was er in seinen früheren Filmen nicht schon, ohne einen direkten und entsprechend offensichtlichen autobiobraphischen Bezug, erzählte. In „Die Fabelmans“ liefert er jetzt, nach dem Tod seiner Eltern, die Fakten und Hintergründe nach. Und er versucht sie, ihre Trennung und seine Jugend mit seiner jetzigen Lebenserfahrung zu verstehen. Vielleicht deshalb und sicher weil Steven Spielberg Steven Spielberg ist, fällt dieser Rückblick sehr freundlich, liebevoll und kitschfrei aus. In „Die Fabelmans“ gibt es keine Böseswichter und auch keine schlechten Menschen.

Für Spielberg-Fans und Cineasten ist diese wunderschöne, herzerwärmende Liebeserklärung an den Film ein Pflichttermin. Für alle, die gerne mehr über Steven Spielberg erfahren möchten, sich aber keine langen Filmgespräche mit unbewegter Kamera und Untertiteln ansehen wolle, ebenso.

Die Fabelmans (The Fabelmans, USA 2022)

Regie: Steven Spielberg

Drehbuch: Steven Spielberg, Tony Kushner

mit Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Judd Hirsch, Mateo Zoryan Francis-DeFord, Chloe East, Julia Butters, Sam Rechner, Keeley Karsten, Oakes Fegley, David Lynch

Länge: 151 Minuten (und damit ungefähr eine Minute kürzer als „Die größte Schau der Welt“)

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Die Fabelmans“

Metacritic über „Die Fabelmans“

Rotten Tomatoes über „Die Fabelmans“

Wikipedia über „Die Fabelmans“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood meint: Stimmt alles mit dem Leben von Steven Spielberg überein

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels” (Indiana Jones and the kingdom of the skull, USA 2008)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Gefährten” (War Horse, USA 2011)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Lincoln” (Lincoln, USA 2012)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Bridge of Spies – Der Unterhändler“ (Bridge of Spies, USA 2015)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „BFG – Big Friendly Giant (The BFG, USA 2016)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Die Verlegerin“ (The Post, USA 2017)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Ready Player One“ (Ready Player One, USA 2018)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „West Side Story“ (West Side Story, USA 2021)

Steven Spielberg in der Kriminalakte

Steven Spielberg über seine Begegnung mit John Ford

Oscar Academy Conversations: Steven Spielberg und andere über den Film

 


TV-Tipp für den 24. Februar (und Lesetipps): Shutter Island

Februar 23, 2023

Pro7, 22.55

Shutter Island (Shutter Island, USA 2009)

Regie: Martin Scorsese

Drehbuch: Laeta Kalogridis

LV: Dennis Lehane: Shutter Island, 2003 (Shutter Island)

Shutter Island, 1954: U. S. Marshall Teddy Daniels und sein neuer Partner Chuck Aule sollen auf Shutter Island herausfinden, wie die Mehrfachmörderin und Patientin Rachel Solando aus dem streng abgesicherten Hospital entkommen konnte. Schnell ist Daniels einer größeren Verschwörung auf der Spur. Aber kann er seinen Sinnen noch trauen?

Und was kann bei dem Team Scorsese/DiCaprio schon schief gehen? Vor allem wenn sie als Spielmaterial einen spannenden Thriller von Dennis Lehane haben.

Nun, entgegen der allgemeinen Euphorie fand ich „Shutter Island“ todsterbenslangweilig und ungefähr so subtil wie Scorseses John-D.-MacDonald-Verfilmung „Kap der Angst“ (Cape Fear, USA 1991). Lehanes Roman ist dagegen grandios.

Mit Leonardo DiCaprio, Ben Kingsley, Mark Ruffalo, Max von Sydow, Michelle Williams, Emily Mortimer, Patricia Clarkson, Jackie Earle Haley, Ted Levine, John Carroll Lynch, Elias Koteas

Lesetipps

natürlich die Vorlage

Dennis Lehane: Shutter Island

(übersetzt von Steffen Jacobs)

Diogenes, 2015

432 Seiten

14 Euro

Originalausgabe

Shutter Island

William Morrow, 2003

Außerdem will ich die Gelegenheit wahrnehmen, um auf die Neuübersetzung von Dennis Lehanes Kenzie-&-Gennaro-Krimi „Kalt wie dein Herz“ hinzuweisen. Dieses Mal fragt Privatdetektiv Patrick Kenzie sich, ob er den Suizid von Karen Nichols hätte verhindern können. Einige Monate vor ihrem Tod war sie bei ihm, weil ein Stalker sie belästigte. Er übernahm lustlos den Auftrag.

Kalt wie dein Herz“ ist Lehanes fünfter Krimi mit den Privatdetektiven Patrick Kenzie und Angela Gennaro.

Ihr sechster und bislang letzter Fall „Moonlight Mile“ erschien erst elf Jahre später.

In den USA ist, nach einer sechsjährigen Pause, für Ende April sein neuer, im Sommer 1974 in Boston spielender Kriminalroman „Small Mercies“ angekündigt. Wir freuen uns schon jetzt auf die Übersetzung.

Dennis Lehane: Kalt wie dein Herz

(übersetzt von Peter Torberg)

Diogenes, 2022

512 Seiten

18 Euro

Originalausgabe

Prayers for Rain

William Morris, New York, 1999

Deutsche Erstausgabe

Regenzauber

(übersetzt von Andrea Fischer)

Ullstein, 2001

Hinweise

Metacritic über „Shutter Island“

Rotten Tomatoes über „Shutter Island“

Wikipedia über „Shutter Island“ (deutsch, englisch)

The Boston Globe: Interview mit Dennis Lehane über “Shutter Island” (14. Februar 2010)

Kriminalakte über den Film „Shutter Island“

Homepage von Dennis Lehane

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Coronado“ (Coronado, 2006)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Moonlight Mile“ (Moonlight Mile, 2010)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Shutter Island“ (Shutter Island, 2003)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes “In der Nacht” (Live by Night, 2012)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „The Drop“ (The Drop, 2014) (Buch und Film)

Meine Besprechung von Ben Afflecks Dennis-Lehane-Verfilmung „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Gone Baby Gone, USA 2007)

Meine Besprechung von Ben Afflecks Dennis-Lehane-Verfilmung „Live by Night“ (Live by Night, USA 2016)

Meine Besprechung von Christian De Metters Comicversion von Dennis Lehanes „Shutter Island“ (Shutter Island, 2008 [Comic])

Dennis Lehane in der Kriminalakte

Wikipedia über Martin Scorsese (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Martin Scorseses “Hugo Cabret” (Hugo, USA 2011)

Meine Besprechung von Martin Scorseses “The Wolf of Wall Street” (The Wolf of Wall Street, USA 2013)

Meine Besprechung von Martin Scorseses „Silence“ (Silence, USA 2016)

Martin Scorsese in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: „Venom: Let there be Carnage“, Mord, Totschlag und demolierte Wohnungen

Oktober 21, 2021

Nach dem ersten „Venom“-Film, in dem Eddie Brock (Tom Hardy) und Venom, der außerirdische Symbiont, sich aneinander gewöhnten, leben sie inzwischen zusammen. Oder genauer gesagt: Venom lebt in seinem Wirtskörper Eddie Brock und bereitet ihm Kopfschmerzen und schlaflose Nächte. Manchmal streckt er seinen Kopf und seine Arme aus Brock raus. Aber die meiste Zeit ist er nicht zu sehen. Denn der Anblick könnte einige Menschen verunsichern.

Die aus ihrer Wohnung kommenden Geräusche ebenso. Das beginnt mit der geräuschvollen Zubereitung des Frühstücks, das zu einem guten Teil auf dem Boden landet. Und wenn die beiden sich streiten, endet das schon eimmal in einer „Fight Club 2.0“-Schlägerei, bei der sich Brock eine blutige Nase holt, die Einrichtung, Decken und Wände zerstört werden und der neue Fernseher (Brocks ganzer Stolz) aus dem Fenster fliegt. Danach dürfte jeder von den Annehmlichkeiten des Single-Lebens überzeugt sein.

Die Essensgewohnheiten von Venom sind dagegen, jedenfalls für uns Zuschauer, schon etwas vergnügllicher. Denn Venom möchte am liebsten ständig Gehirne, bevorzugt Menschengehirne, essen. Brock versucht ihn davon abzuhalten.

Damit dürfte die Rollenverteilung zwischen Brock und Venom klar sein. Venom ist der böse Geist, der zerstörungswütige Anarchist, das triebgesteuerte Kleinkind, während Brock die Ratio verkörpert – und ständig aussieht, als hätte er eine Woche lang nicht geschlafen. Wobei er wahrscheinlich viel länger nicht mehr richtig geschlafen hat.

Venom ist eine Marvel-Figur, die 2018 erstmals von Tom Hardy gespielt wurde. Der von „Zombieland“-Regisseur Ruben Fleischer inszenierte Film war kein guter Film, aber er war an der Kinokasse überaus sehr erfolgreich. Für die Fortsetzung konzentrierten die Macher sich dann auf die Stärke der Figur Venom, die ein sarkastisches, moralbefreites Monster ist. Damit sind seine Kommentare über die Menschen und seine Lösungsvorschläge immer gut für einen Lacher.

Für den zweiten Film, der mit neunzig Minuten (ohne Abspann) erfrischend kurz ist, erfanden die Macher eine Geschichte, die einfach nur eine weitere, für sich selbst stehende und damit eigenständige „Venom“-Geschichte ist und außerhalb der anderen Marvel-Filme steht; jedenfalls noch. Denn die Abspannsequenz deutet ein Crossover an.

Es geht um Cletus Kasady (Woody Harrelson). Der zum Tod verurteilte Serienkiller sitzt im San Quentin State Prison und ist bereit, mit dem Journalisten Eddie Brock über seine Taten zu reden. Brock ist als Reporter immer hungrig nach einer Schlagzeile und selbstverständlich einverstanden.

Bei einem seiner Besuche wird er von Kasady in den Finger gebissen. Diese Blutübertragung führt dazu, dass sich in Kasadys Körper ein Wesen entwickelt, das Venom sehr ähnelt und Carnage heißt. Zusammen mit Carnage kann Kasady ausbrechen und eine von ihm genussvoll zelebrierte blutige Spur der Verwüstung hinterlassen. Er will zu seiner großen Liebe aus Kindertagen. Frances Barrison (Naomie Harris), die mit ihrer Stimme töten kann, sitzt noch im Hochsicherheitstrakt des Ravencroft Institute.

Brock und Venom, die sich auch gerade massiv zerstritten haben, wollen das Schlimmste verhindern. Dafür müssen sie Kasady und Carnage töten.

Mehr Plot braucht Andy Serkis im zweiten „Venom“-Film nicht. Es ist eine einfache Geschichte, die auf Nebengeschichten verzichtet und unabhängig von dem ersten „Venom“-Film genossen werden kann. Die Figuren sind reichlich eindimensional, aber die Schauspieler haben ihren Spaß mit ihnen und erfüllen sie so mit Comic-Leben. Ihre Ziele sind klar herausgearbeitet. Der daraus entstehende Konflikt zwischen Brock/Venom und Kasady/Carnage ebenso.

Und so ist „Venom: Let there be Carnage“ einfach ein schönes kleines Schlachtfest.

Venom: Let there be Carnage (Venom: Let there be Carnage, USA 2021)

Regie: Andy Serkis

Drehbuch: Kelly Marcel (nach einer Geschichte von Tom Hardy und Kelly Marcel) (basierend auf der von Todd McFarlane und David Michelinie erfundenen Marvel-Figur Venom)

mit Tom Hardy, Woody Harrelson, Michelle Williams, Naomie Harris, Reid Scott, Stephen Graham, Peggy Lu, Sian Webber

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre (eine erstaunliche Entscheidung. Ich hätte zu FSK-16 tendiert.)

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Venom: Let there be Carnage“

Metacritic über „Venom: Let there be Carnage“

Rotten Tomatoes über „Venom: Let there be Carnage“

Wikipedia über „Venom: Let there be Carnage“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ruben Fleischers „Venom“ (Venom, USA 2018)


TV-Tipp für den 11. August: Brokeback Mountain

August 10, 2021

Kabel 1, 20.15

Brokeback Mountain (Brokeback Mountain, USA 2005)

Regie: Ang Lee

Drehbuch: Larry McMurtry, Diana Ossana

LV: Annie Proulx: Brokeback Mountain, 1997 (Kurzgeschichte)

In der Einsamkeit der Rocky Mountains verlieben sich 1963, während sie Schafe hüten, die Cowboys Jack Twist und Ennis Del Mar ineinander. Danach schlagen sie getrennte Lebenswege ein, begegnen sich aber immer wieder.

Berührendes, hochgelobtes, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Drama von Ang Lee.

mit Heath Ledger, Jake Gyllenhaal, Randy Quaid, Anne Hathaway, Michelle Williams, Valerie Plance, David Harbour

Wiederholung: Donnerstag, 12. August, 02.15 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Brokeback Mountain“

Wikipedia über „Brokeback Mountain“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Ang Lees „Die irre Heldentour des Billy Lynn“ (Billy Lynn’s long Halftime Walk, USA/Volksrepublik China/Großbritannien 2016)

Meine Besprechung von Ang Lees „Gemini Man“ (Gemini Man, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „After the Wedding“ soll über ein Angebot verhandelt werden

Oktober 17, 2019

Isabel (Michelle Williams) arbeitet in einem Waisenhaus in Kalkutta und möchte das Land niemals verlassen. Als sie ein Angebot für eine großzügige Spende von einer Multimillionärin erhalten, ist es mit der Bedingung verbunden, dass Isabel nach New York fliegt und dort das Projekt persönlich vorstellt. Widerwillig lässt sie sich darauf ein.

In New York angekommen lädt die edle Spenderin Theresa Young (Julianne Moore) sie zur Hochzeit ihrer Tochter in ihr Anwesen ein. Dort entdeckt sie in der Hochzeitsgemeinde ihre alte Liebe. Oscar (Bill Crudup) ist jetzt mit Theresa verheiratet.

After the Wedding“ ist das US-Remake von Susanne Biers „Nach der Hochzeit“ mit vertauschten Geschlechterrollen. Die Schauspieler sind gut. Bart Freundlichs Inszenierung ist angenehm zurückhaltend.

Trotzdem kann „After the Wedding“ nicht überzeugen. Denn so sehr sich die Schauspieler auch bemühen, sie scheitern am viel zu konstruierten Plot, der, je weiter sich Theresas Plan entfaltet, immer unglaubwürdiger wirkt. Ihr Plan kann nämlich nur funktionieren, wenn alle Menschen genau das tun, was sie nach ihrem Plan tun sollen.

After the Wedding (After the Wedding, USA 2019)

Regie: Bart Freundlich

Drehbuch: Bart Freundlich (basierend auf „Efter Brylluppet“ von Anders Thomas Jensen und Susanne Bier)

mit Michelle Williams, Julianne Moore, Billy Crudup, Abby Quinn, Alex Esola, Susan Blackwell, Vir Pachisia

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „After the Wedding“

Metacritic über „After the Wedding“

Rotten Tomatoes über „After the Wedding“

Wikipedia über „After the Wedding“


Neu im Kino/Filmkritik: „Venom“ von Marvel, außerirdisch und noch (?) kein Superheld

Oktober 3, 2018

Venom ist für eine neue Superheldenserie eine ungewöhnliche Wahl. Und das liegt nicht an Venoms Fähigkeiten, sondern an seinem Wesen. Er ist ein Außerirdischer, der wie es sich für ein Alien gehört, Menschen verspeist. Damit ist er ein Bösewicht, der nach seinem ersten Auftritt 1988 in „The Amazing Spider-Man“ als Bösewicht bei den Marvel-Comiclesern gut ankam. Seitdem erlebt er weitere Abenteuer. In den Comics benutzt Venom verschiedene Menschen als Gastkörper. Zum Beispiel Eddie Brock. Der ist auch in der Verfilmung Venoms Gastkörper.

Der Film „Venom“ gehört allerdings nicht zum Marvel Cinematic Universe (MCU) und weil er von Sony in Kooperation mit Marvel produziert wurde (liegt an den Rechten) wird es in naher Zukunft auch nicht zu einem Treffen zwischen Venom, dem MCU und den bei 20th Century Fox beheimateten X-Men kommen.

Das gibt den Machern die Freiheit, ohne den Ballast der anderen Serien einen vollkommen eigenständigen Film in, immerhin soll „Venom“ der Auftakt für eine Serie sein, einer vollkommen eigenständigen Welt zu erfinden. Regisseur Ruben Fleischer („Zombieland“, „Gangster Squad“) und seine vier Drehbuchautoren nutzen diese Freiheit für eine B-Movie-Geschichte, die sogar für ein B-Movie zu schlecht ist.

Im wesentlichen geht es um den Journalisten Eddie Brock, der nach einem illegalen Besuch des „Life Foundation“-Labors zum Wirt des Aliens Venom wird. Weil der Laborbesitzer, der stinkreiche Entrepreneur Carlton Drake, weitere Aliens auf die Welt bringen will, müssen Brock und Venom, der sich in die Erde und die Menschen verliebt, das verhindern.

Aber bis Brock und Venom sich treffen, vergeht ungefähr eine halbe Stunde in einem für einen Blockbuster erstaunlich kurz geratenen Film. Wenn man den sehr langen Abspann (inclusive zweier Abspannszenen, zu denen ich später noch etwas sagen werde) herausrechnet, dürfte der Film gerade so auf knapp hundert Minuten, eher so fünfundneunzig Minuten, kommen. In dieser ersten halben Stunde passiert fast nichts. Außer dass in Malaysia ein „Life Foundation“-Forschungsraumschiff bruchlandet. Die Life Foundation, die Eigentümerin des Schiffs, kann die im Weltraum gefundenen Wesen unbeschadet in die Firmenzentrale in San Francisco bringen. Weil allerdings ein Behälter bei der Landung zerstört wurde, macht sich dieser Alien in verschiedenen menschlichen Körpern langsam auf den Weg nach San Francisco. Währenddessen versaut Brock sein Leben durch einen Fehler, der noch nicht einmal als Anfängerfehler entschuldigt werden kann. Denn Brock ist ein Top-TV-Enthüllungsjournalist, der von allen Brennpunkten berichtet. Er lebt in einer glücklichen Beziehung mit Anne Weying, einer Anwältin. Als er auf ihrem Computer eine Datei über eine Klage gegen die Life Foundation entdeckt, benutzt er diese Informationen um Drake bei einem Interview darauf anzusprechen. Das Interview wird abgebrochen. Brock verliert seinen Job. Seine Freundin ihren Job. Sie verlässt ihn. Und der nun arbeitslose Brock zieht in eine billigere Wohnung. Dort trinkt er vor sich hin, bis die“Life Foundation“-Angestellte Dr. Dora Skirth ihn anspricht. Im „Life Foundation“-Labor würden ethisch fragwürdige Experimente mit Menschen und der Substanz aus dem Weltraum gemacht, bei denen die Menschen krank werden und sterben.

Brocks begleitet sie in das Labor. Als sie ihm sagt, er solle in dem Labor nichts anfassen, wissen wir, was er tun wird. Und – wir reden von einem Profi-Journalisten! – er tut es auf die dümmste Weise, die einem einfallen kann.

Solche idiotischen Entscheidungen gibt es immer wieder während des gesamten Films.

Das ist eines seiner Probleme.

Ein anderes ist, dass Ruben Fleischer nie den richtigen Rhythmus findet. „Venom“ ist das ruckelige filmische Äquivalent zu einem missglückten Versuch, Heavy Metal mit Hip Hop zu verbinden. Mal wird zu viel, mal zu wenig, mal an den falschen Stellen geschnitten. Und immer ist es zu laut.

Lautstärke ist bei den Actionszenen kein Problem. Und die sind, auch wenn sie fast alle nachts spielen, gelungen. Es gibt, zwischen Faustkämpfen und Schießereien, eine ausführliche „Bullitt“-Reminiszenz. Diese Szenen zeigen auch, wie Brock und Venom zunehmend eine Einheit werden.

In diesem Zusammenhang sind die Momente, in denen Brock sich an Venom anpasst, gelungen. Denn diese Symbiose wird in Brocks Apartment und einem Nobelrestaurant von einem irrem Verhalten begleitet.

Die Gespräche zwischen Brocks und Venom bringen etwas Deadpool-Humor in den Film.

Aber für einen Film, vor allem für einen Film, der ein Auftakt zu weiteren Filmen sein soll, ist das zu wenig. Während die anderen Superhelden alle eine Mission haben, die über viele Geschichten trägt, fehlt Venom genau diese Mission. Er will eigentlich nur Menschen essen.

Venom“ bewegt sich damit im erzählerisch im Fahrwasser von älteren Comicverfilmungen, wie „Catwoman“, und „Die Mumie“, dem missglückten Auftakt des „Dark Universe“. Nur ohne all den erzählerischen Ballast von Ideen und Figuren, die vielleicht in einem der späteren Filme wichtig werden. 

Kommen wir zum Abschluss zu den beiden Abspannszenen, die zu einem Marvel-Film dazugehören, die teilweise schon in diversen Vorberichten angedeutet wurden und die in diesem Fall eine besondere Stellung haben. In der ersten Post-Credit-Szene trifft Tom Hardy bei einem Besuch in einem Hochsicherheitsgefängnis auf den in einer Hannibal-Lecter-Zelle sitzenden von Woody Harrelson gespielten Cletus Kasady. Das erwähne ich, weil es Gerüchte um seine Rolle gab und er selbst schon darüber sprach. In „Venom“ hat er nur ein Cameo. Im nächsten „Venom“-Film soll die Rolle größer sein. Die zweite Szene ist ein Animationsfilm, der für „Spider-Man: A new Universe“ wirbt. Der ebenfalls von Sony produzierte Trickfilm startet in Deutschland am 13. Dezember 2018 und er hat, was im Film auch explizit gesagt wird, nichts mit „Venom“ zu tun.

Venom (Venom, USA 2018)

Regie: Ruben Fleischer

Drehbuch: Scott Rosenberg, Jeff Pinkner, Kelly Marcel, Will Beall (nach einer Geschichte von Jeff Pinkner und Scott Rosenberg, basierend auf dem von Todd McFarlane und David Michelinie erfundenem Marvel-Charakter)

mit Tom Hardy, Michelle Williams, Riz Ahmed, Scott Haze, Reid Scott, Jenny Slate, Woody Harrelson, Stan Lee (sein übliches Cameo)

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Venom“

Metacritic über „Venom“

Rotten Tomatoes über „Venom“

Wikipedia über „Venom“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik und ausführlicher Lesehinweis: „Alles Geld der Welt“ hilft der Getty-Familie nicht

Februar 15, 2018

Irgendwann während des Films fragte ich mich, was eigentlich aus der Getty-Familie und ihrem Vermögen wurde. Dabei war J. Paul Getty (15. Dezember 1892 – 6. Juni 1976) einmal der reichste lebende Amerikaner und wahrscheinlich auch der reichste Mensch auf der Erde. Er war ein Öl-Tycoon und Geizkragen vor dem Herrn. Die Entführung seines sechzehnjährigen Enkels Paul Getty (bzw. genaugenommen John Paul Getty III) am 10. Juli 1973 in Rom ging um die Welt. Es war in einer Zeit als Entführungen zum Geschäft von Terrorgruppen und Verbrecherbanden gehörten, eine der wenigen Geiselnahmen, über die noch Jahre danach gesprochen wurde.

Die Gründe dafür sind offensichtlich: das Opfer, seine Familie und der Verlauf der Geiselnahme. Denn J. Paul Getty weigerte sich, das geforderte Lösegeld von 17 Millionen Dollar zu zahlen. Zuerst weil er vermutete, dass sein Enkel gar nicht entführt wurde, später weil dann alle seine Enkel entführt würden und er dafür bezahlen müsste. Nach zähen Verhandlungen, begleited von einer großen Medienöffentlichkeit, und der Zahlung eines wesentlich geringeren Lösegelds von etwa drei Millionen Dollar kam Paul Getty am 15. Dezember 1973 frei. Davor – und das ist die schlimmste Szene des Films – wurde ihm sein rechtes Ohr abgeschnitten.

In seinem neuen Film „Alles Geld der Welt“ konzentriert Ridley Scott sich, nach einem Drehbuch von David Scarpa („Die letzte Festung“, „Der Tag, an dem die Erde stillstand“), auf diese Geiselnahme ohne sie erzählerisch in den Griff zu bekommen. Weil er sich nie entscheiden kann, aus welcher Perspektive er seine Geschichte erzählen möchte, verheddert er sich schnell zwischen seinen verschiedenen Erzählsträngen. Er mäandert zwischen den Geschichten von J. Paul Getty, Paul Getty, Gail Harris, Fletcher Chace, Cinquata und der normalen Polizeiarbeit hin und her, ohne dass sich ein Hauptplot herausschält, an dem sich alle anderen Plots als Nebengeschichten orientieren könnten. Es ist auch nie klar, was Scott erzählen will. Soll „Alles Geld der Welt“ eine Meditation über Geld und Reichtum, ein Entführungsthriller, eine Familiengeschichte oder die Geschichte einer Person sein? Denn jede Person und jeder Erzählstrang könnte fast mühelos fast vollständig aus dem Film herausgeschnitten werden, ohne dass man beim restlichen Film viel verändern müsste.

Als Ensemblestück funktioniert „Alles Geld der Welt“ auch nicht. Ein gelungenes Ensemblestück hat ebenfalls einen zentralen Charakter und ein Thema, um das alle Plots und Szenen kreisen.

Scott beginnt seinen Film mit Paul Getty (Charlie Plummer). Er wird in Rom entführt und nach Kalabrien gebracht. Er ist sogar über eine große Strecke des Films der Voice-Over-Erzähler. Aber irgendwann in der Mitte des Films verstummt er.

Bis dahin hat er uns viel über den finanziellen Aufstieg seines Großvaters, die Beziehung seiner Eltern Gail Harris (Michelle Williams) und John Paul Getty II (Andrew Buchan) zu ihm und ihre desaströse Beziehung erzählt. Einiges davon ist später für die Filmgeschichte wichtig. Viele Informationen sind allerdings nur belanglose Hintergrundinformationen, die Christopher Plummer die Gelegenheit geben, an verschiedenen Orten jüngere Version von J. Paul Getty zu spielen.

1973 lebt J. Paul Getty schon seit Jahren auf seinem Landsitz Sutton Place. Dort besucht ihn Gail Harris. Sie, inzwischen geschieden, hat nicht das geforderte Lösegeld. Aber J. Paul Getty könnte das Lösegeld für seinen Lieblingsenkel mühelos bezahlen. Er lehnt ab und beauftragt seinen Sicherheitsberater, den ehemaligen CIA-Agenten Fletcher Chace (Mark Wahlberg), sich um die Entführung zu kümmern. Chace soll seinen Enkel möglichst billig, am besten ohne dass er einen Cent bezahlen muss, befreien.

Chace böte sich, wie man es von einer klassischen Privatdetektivgeschichte kennt, als Erzähler und Führer durch die seltsame Welt der Gettys zwischen unermesslichem Reichtum und emotionaler Kälte an. Aber über weite Strecken des Films lungert Chace einfach nur in dem Film herum, ohne etwas zur Handlung beizutragen. Er muss uns auch nicht die Geschichte von Gettys Vermögen erzählen. Das hat der entführte Paul Getty bereits erledigt.

Während Chace in und um Rom herum falsche Spuren verfolgt, freundet Paul Getty sich mit einem seiner Entführer an. Cinquanta (Romain Duris) versucht ihm dann auch zu helfen, während die anderen Entführer Paul Getty an höherrangige ‚Ndrangheta-Mitglieder verkaufen (Yep, Entführung war damals ein Geschäft). Die sehen Paul Getty nur als Investition, die bei Bedarf abgeschrieben werden kann.

Das alles plätschert, durchaus gut gespielt und immer wieder mit interessanten Szenen, über zwei Stunden vor sich hin, ohne dass jemals das Potential der Geschichte in irgendeine Richtung auch nur halbwegs ausgelotet wird. Denn dafür hätten Autor Scarpa und Regisseur Scott Entscheidungen treffen müssen.

Alles Geld der Welt“ ist – und das muss spätestens am Ende der Besprechung erwähnt werden – der Film, der Monate nach den Dreharbeiten, sechs Wochen vor dem Kinostart im Dezember, während die Werbemaschne schon auf Hochtouren lief, einen Darsteller ersetzte. Eine Verschiebung des Starttermins kam in dem Moment nicht in Frage. Schließlich sollte „Alles Geld der Welt“ bei der gerade anlaufenden Preisverleihungssaison einige Preise erhalten und von dem Rummel um die Nominierungen und Verleihungen profitieren. Bis jetzt gab es neun Nominierungen. Fünf, davon eine Oscar-Nominierung, für Christopher Plummer. Zwei für Ridley Scott. Außerdem ist, und das ist der zweite wichtige Grund, der gegen eine Verschiebung des Starttermins sprach, für Ende März der Start der zehnteiligen FX-Serie „Trust“ von Danny Boyle angekündigt. Sie erzählt ebenfalls die Geschichte der Getty-Entführung.

Der ersetzte Schauspieler ist Kevin Spacy. Er spielte J. Paul Getty. Als Vorwürfe gegen ihn wegen fortgesetzter sexueller Belästigung öffentlich wurden, wurden die Dreharbeiten für die letzte Staffel der erfolgreichen Netflix-Serie „House of Cards“ gestoppt. Die Macher entschlossen sich, die Staffel ohne ihn zu beenden und schrieben neue Drehbücher.

Ridley Scott veranlasste für seinen Film einen teuren Nachdreh mit Christopher Plummer als J. Paul Getty. Plummer war auch seine ursprüngliche Wunschbesetzung. Mit ihm und Gail-Harris-Darstellerin Michelle Williams und Fletcher-Chace-Darsteller Mark Wahlberg wurden die Spacey-Szenen mit Plummer innerhalb weniger Tage neu gedreht und in den Film hineingeschnitten. Der Grund für diesen radikalen und nicht unumstrittenen Schritt war, dass Scott eine objektive Betrachtung des Films wollte. Es sollte nicht über Kevin Spacey, sondern über den Film geschrieben werden. Es sollte nicht zu einem Backlash kommen, der, befeuert durch Boykott-Aufrufe, den finanziellen Erfolg des Films gefährdet.

Boykott-Aufrufe gab es nicht, aber ein finanzieller Erfolg wurde „Alles Geld der Welt“ bis jetzt auch nicht.

Alles Geld der Welt (All the Money in the World, USA 2017)

Regie: Ridley Scott

Drehbuch: David Scarpa

LV: John Pearson: All the Money in the World; Painfully Rich, 1995 (Alles Geld der Welt)

mit Michelle Williams, Christopher Plummer, Mark Wahlberg, Charlie Plummer, Romain Duris, Andrew Buchan, Timothy Hutton, Stacy Martin, Giuseppe Bonifati, Charlie Shotwell

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Buchhinweis

Pünktlich zum Kinostart erschien bei HarperCollins die deutsche Ausgabe von John Pearsons Biographie über Jean Paul Getty, der seinen erste Vornamen normalerweise auf „J.“ abkürzte, auf Deutsch. Die Entführung, die im Mittelpunkt des Films steht, macht mit vierzig Seiten nur einen kleinen Teil der umfangreichen Biographie über Jean Paul Getty und seine Familie, die vom Pech verfolgte ‚Getty-Dynastie‘, aus, die nach seinem Tod wenig bis nichts von seinem Vermögen erhielt. Sein gesamtes persönliches Vermögen ging, ohne irgendeine Bedingung, an das J. Paul Getty Museum in Malibu. Das von seinem persönlichem Vermögen sauber in einem Trust getrennte Vermögen ging dann, Jahre nach seinem Tod, an einige seiner Nachkommen.

Wenn man sich die Seiten über die Entführung durchliest, hätte man Gettys Entführung auch als Schwarze Komödie oder Satire über Unfähigkeit auf verschiedenen Ebenen verfilmen können. So war Chace „wahrscheinlich jedoch der schlechteste Botschafter, den der alte Mann sich hätte aussuchen können“. Er war „ein ziemlicher Verschwörungstheoretiker“, der kein Italienisch sprach und mit den Entführen spanisch reden wollte. Die postalische Zustellung des abgeschnittenen Ohrs dauerte drei Wochen. Und die Carabinieri hätten „den Fall nicht einmal dann (…) lösen können, wenn Paul von Donald Duck gefangen gehalten worden wäre“.

John Pearson: Alles Geld der Welt

(übersetzt von Claudia Heuer)

HarperCollins, 2018

432 Seiten

14,99 Euro

Ursprünglich erschien Pearsons Buch 1995 bei Macmillan als „All the Money in the World“. 2017 erschien bei William Collins unter dem Titel „Painfully Rich“ eine erweiterte Neuausgabe.

Für die deutsche Ausgabe wurde die aktuellste Ausgabe mit einer vierseitigen Nachschrift von John Pearson zur Neuausgabe zum Filmstart genommen.

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Alles Geld der Welt“

Metacritic über „Alles Geld der Welt“

Rotten Tomatoes über „Alles Geld der Welt“

Wikipedia über „Alles Geld der Welt“ (deutsch, englisch)

 

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Prometheus” (Prometheus, USA 2012)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Exodus – Götter und Könige (Exodus – Gods and Kings, USA 2014)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Der Marsianer – Rettet Mark Watney” (The Martian, USA 2015)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alien: Covenant“ (Alien: Covenant, USA 2017)

Ridley Scott in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Kelly Reichardt erzählt über „Certain Women“

März 3, 2017

Es passiert, abgesehen von einer Geiselnahme, nichts wirklich dramatisches in „Certain Women“, dem neuesten Film von Kelly Reichardt. Zuletzt inszenierte sie den Anti-Western „Meek’s Cutoff“ und den Anti-Thriller „Night Moves“. Und wer diese und ihre vorherigen Filme kennt, weiß, dass die Geiselnahme in „Certain Women“ keine der hyperenergetischen, schnell geschnittenen Geiselnahmen ist, die wir aus zahllosen Thrillern kennen.

Die Independent-Regisseurin erzählt in ihrem neuesten Film drei in sich abgeschlossenen Geschichten von vier Frauen, die in und um Livingston in Montana leben. Die Anwältin Laura (Laura Dern) versucht seit Monaten ihren Mandanten Fuller (Jared Harris) zu überzeugen, dass seine Arbeitsrechtklage erfolglos sein wird. Als er in seiner Verzweiflung in einem Bürogebäude eine Geisel nimmt, soll sie ihn zur Aufgabe bewegen. Kelly Reichardt inszeniert diese Geiselnahme, wie den gesamten Film, konsequent entschleunigt und betont undramatisch. So als sei auch eine Geiselnahme Alltag und das Gespräch mit dem bewaffnetem Geiselnehmer nur ein weiteres Mandantengespräch.

Noch alltäglicher sind die beiden anderen Geschichten des Films. In der zweiten Geschichte wollen Gina (Michelle Williams) und ihr Mann Ryan (James Le Gros) für den Bau eines Hauses Natursteine von ihrem allein lebenden, zunehmend dement werdenden Nachbarn Albert (Rene Auberjonois) haben. Für ihn sind sie mit Erinnerungen verbunden. Für Gina sind sie ein schönes Deko-Element des geplanten Hauses, das sich in die malerische Landschaft einfügen soll.

In der dritten Geschichte setzt sich die Pferdepflegerin Jamie (Lily Gladstone) in einen Fortbildungskurs für Lehrer. Beth (Kristen Stewart) leitet den Kurs. Sie hat gerade ihr Jurastudium beendet. Für den Kurs muss sie an zwei Abenden in der Woche vom vier Stunden entfernten Livingston herkommen. Nach dem Kurs reden Beth (mehr) und Jamie (weniger) in einem Diner über ihr Leben und ihre Zukunft.

Als Beth eines Tages nicht mehr zum Kurs erscheint, weil ihr die Fahrt zu lang ist, macht sich die in sie verliebte Jamie sich auf den Weg nach Livingston.

Als Vorlage für diese Geschichten dienten Kelly Reichardt die in dem Sammelband „Both ways ist he only way I want it“ enthaltenen Kurzgeschichten „Travis B.“, „Native Sandstone“ und „Tome“ der hochgelobten Autorin Maile Meloy. Kelly Reichardt behält in ihrem Film das skizzenhafte der Kurzgeschichten bei. Es sind kleine Episoden aus dem Leben der Frauen, in denen wir viel über sie erfahren, aber auch vieles noch nicht einmal angesprochen wird. Dafür beobachtet Kelly Reichardt ausdauernd Laura, Gina, Jamie und Beth in alltäglichen Situationen und das ist überhaupt nicht langweilig. Denn es sind vier sehr verschiedene Frauen.

Ihr Episodendrama verlangt allerdings, wie immer bei Kelly Reichardt, einen geduldigen Zuschauer, der sich auf den langsamen Erzählrhythmus einlässt und der nicht nach der üblichen Hollywood-Dramaturgie und Konfliktlösung giert. Auch ihre Charaktere passen nicht in die gängigen Hollywood-Klischees. Dafür ähneln sie zu sehr ganz normalen Menschen mit ganz normalen Problemen.

Certain Women“ ist wie das Leben: weitgehend undramatisch in den bekannten Bahnen, in denen Veränderungen langsam geschehen, aber nicht unspannend. Das liegt auch daran, dass in jeder Episode große Themen und Fragen auf eine leise, intime Art angesprochen werden.

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Certain Women (Certain Women, USA 2016)

Regie: Kelly Reichardt

Drehbuch: Kelly Reichardt

LV: Maile Meloy: Both ways is the only way I want it: Stories, 2009

mit Laura Dern, Kristen Stewart, Michelle Williams, Lily Gladstone, James Le Gros, Jared Harris, Rene Auberjonois, John Getz

Länge: 107 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Certain Women“

Metacritic über „Certain Women“

Rotten Tomatoes über „Certain Women“

Wikipedia über „Certain Women“

Meine Besprechung von Kelly Reichardts “Night Moves” (Night Moves, USA 2013 – mit zahlreichen O-Tönen von Kelly Reichardt und den Schauspielern)

Meine Besprechung von Kelly Reichardts „Night Moves“ (Night Moves, USA 2013 – zur DVD-Veröffentlichung)

Beim NYFF reden Kelly Reichardt, Kristen Stewart, Laura Dern und Lily Gladstone über den Film

Kelly Reichardt redet über ihren Film


Neu im Kino/Filmkritik: „Manchester by the Sea“, ein Mann, eine Schuld, eine Verantwortung

Januar 20, 2017

Seitdem ich den Film gesehen habe, empfehle ich weiter. Dabei erzählt Kenneth Lonergan in seinem dritten Spielfilm – bekannter ist der Theaterautor als Drehbuchautor von „Reine Nervensache“ und „Gangs of New York“ – eine ganz einfache und sehr alltägliche Geschichte.

Lee Chandler (Golden-Globe-Gewinner Casey Affleck) arbeitet als Hausmeisterangestellter in einem Wohnblock in Boston. Er ist ein introvertierter Einzelgänger, der, wenn er in eine Kneipe geht, Ärger sucht. Er lebt in einem 1-Zimmer-Kellerapartment in selbstgewählter Isolation und büßt damit eine Schuld ab, die er vor längerer Zeit in seinem Heimatort Manchester by the Sea auf sich geladen hat.

Da erhält er einen Anruf: sein Bruder Joe (Kyle Chandler) liegt im Krankenhaus.

Als Lee kurz darauf in Manchester by the Sea eintrifft, ist Joe tot und Lee soll sich um Joes sechzehnjährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) kümmern. Joe hat das alles durchgerechnet und in seinem Testament festgelegt.

Lee will nicht. Er will, aufgrund der damaligen Ereignisse, auch nicht länger als unbedingt nötig in Manchester by the Sea bleiben. Er will auch nicht Patricks Vormund werden. Eigentlich will er nur möglichst schnell wieder zurück nach Boston.

In über zwei Stunden erzählt Lonergan langsam, immer wieder von witzigen Szenen unterbrochen, wie Lee mit der ihm aufgebürdeten Verantwortung umgeht. In Rückblenden, die bruchlos in die aktuelle Geschichte eingefügt werden, erfahren wir mehr über Lees Vergangenheit: seiner Beziehung zu seiner Frau Randy (Michelle Williams), zu seinem Bruder, seinem Neffen, den gemeinsamen Ausflügen mit dem Boot, und warum aus dem lebenslustigen jungen Mann ein Einzelgänger wurde.

Das ist eine kleine Geschichte über ganz normale Menschen und Ereignisse, die jedem von uns zustoßen können.

Erst durch Lonergans souveräne Regie, seinem genauen Blick für Details, die in jeder Sekunde vorhandene Wahrhaftigkeit und das feinfühlige Spiel der Schauspieler wird aus „Manchester by the Sea“ ein Meisterwerk, das, wieder einmal, zeigt, was für ein vorzüglicher Schauspieler Casey Affleck ist. Es ist sein Film.

Manchester by the Sea“ ist einer der ersten Höhepunkt des Kinojahres. Ein Film, den man vielleicht nicht unbedingt zweimal sehen möchte, aber unbedingt einmal sehen muss.

Dass ich mit meiner Meinung nicht allein bin, zeigt nicht nur ein Blick zu Rotten Tomatoes (Frischegrad 96 %), sondern auch auf die Preisliste. Aktuell erhielt „Manchester by the Sea“, laut IMBD, 93 Preise (unter anderem den schon erwähnten Golden Globe) und 195 Nominierungen. Und die Oscar-Nominierungen sind da noch nicht eingerechnet.

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Manchester by the Sea (Manchester by the Sea, USA 2016)

Regie: Kenneth Lonergan

Drehbuch: Kenneth Lonergan

mit Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges, Gretchen Mol, C. J. Williams

Länge: 138 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Fillm

Moviepilot über „Manchester by the Sea“

Metacritic über „Manchester by the Sea“

Rotten Tomatoes über „Manchester by the Sea“

Wikipedia über „Manchester by the Sea“ (deutsch, englisch)

Kenneth Lonergan, Casey Affleck und Lucas Hedges sprechen über den Film

Kenneth Lonergan, Casey Affleck, Lucas Hedges und Michelle Williams sprechen über den Film (Amateuraufnahme, Ton gut)

Kenneth Lonergan beim NYFF im HBO Directors Dialogue

DP/30 unterhält sich mit Kenneth Lonergan (mit spoilern)

DP/30 unterhält sich mit Casey Affleck

 


TV-Tipp für den 1. November: Shutter Island

November 1, 2016

Pro7, 23.00

Shutter Island (USA 2009, Regie: Martin Scorsese)

Drehbuch: Laeta Kalogridis

LV: Dennis Lehane: Shutter Island, 2003 (Shutter Island)

Shutter Island, 1954: U. S. Marshall Teddy Daniels und sein neuer Partner Chuck Aule sollen auf Shutter Island herausfinden, wie die Mehrfachmörderin und Patientin Rachel Solando aus dem streng abgesicherten Hospital entkommen konnte. Schnell ist Daniels einer größeren Verschwörung auf der Spur. Aber kann er seinen Sinnen noch trauen?

Und was kann bei dem Team Scorsese/DiCaprio schon schief gehen? Vor allem wenn sie als Spielmaterial einen spannenden Thriller von Dennis Lehane haben.

Nun, entgegen der allgemeinen Euphorie fand ich „Shutter Island“ todsterbenslangweilig und ungefähr so subtil wie Scorseses John-D.-MacDonald-Verfilmung „Kap der Angst“ (Cape Fear, USA 1991). Lehanes Roman ist dagegen grandios.

Mit Leonardo DiCaprio, Ben Kingsley, Mark Ruffalo, Max von Sydow, Michelle Williams, Emily Mortimer, Patricia Clarkson, Jackie Earle Haley, Ted Levine, John Carroll Lynch, Elias Koteas

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Shutter Island“

Metacritic über „Shutter Island“

Rotten Tomatoes über „Shutter Island“

Wikipedia über „Shutter Island“ (deutsch, englisch)

Drehbuch „Shutter Island“ von Laeta Kalogridis

The Boston Globe: Interview mit Dennis Lehane über “Shutter Island” (14. Februar 2010)

Kriminalakte über den Film „Shutter Island“

Homepage von Dennis Lehane

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Coronado“ (Coronado, 2006)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Moonlight Mile“ (Moonlight Mile, 2010)

Meine Besprechung der Dennis-Lehane-Verfilmung „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Gone Baby Gone, USA 2007)

Meine Besprechung von Christian De Metter/Dennis Lehanes Comic „Shutter Island“ (Shutter Island, 2008)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „Shutter Island“ (Shutter Island, 2003)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes “In der Nacht” (Live by Night, 2012)

Meine Besprechung von Dennis Lehanes „The Drop“ (The Drop, 2014) (Buch und Film)

Dennis Lehane in der Kriminalakte

Wikipedia über Martin Scorsese (deutsch, englisch)

Martin-Scorsese-Fanseite

Meine Besprechung von Martin Scorseses “Hugo Cabret” (Hugo, USA 2011)

Meine Besprechung von Martin Scorseses “The Wolf of Wall Street” (The Wolf of Wall Street, USA 2013)

Martin Scorsese in der Kriminalakte

Bonushinweis

Die nächste Dennis-Lehane-Verfilmung „Live by Night“ startet am 19. Januar 2017 in unseren Kinos. Regie führte Ben Affleck, der auch das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm.

Und der Trailer sieht verdammt gut aus:

Wie die Geschichte von Joe Coughlin weitergeht, erfahrt ihr in „Am Ende einer Welt“: 1943 ist Coughlin ein respektierter Unternehmer. Da erfährt er, dass ein Killer auf ihn angesetzt ist – und für uns ist nach den ersten Zeilen eine schlaflose Nacht vorprogrammiert.

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Dennis Lehane: Am Ende einer Welt

(übersetzt von Steffen Jacobs)

Diogenes, 2015

400 Seiten

24 Euro

Originalausgabe

World Gone By

William Morrow, New York 2015


TV-Tipp für den 21. Juni: Land of Plenty

Juni 21, 2016

ZDFkultur, 21.55

Land of Plenty (USA 2004, Regie: Wim Wenders)

Drehbuch: Michael Meredith, Wim Wenders (nach einer Geschichte von Wim Wenders und Scott Derrickson)

Los Angeles: Ein paranoider Vietnam-Veteran und seine zwanzigjährige, idealistische Nichte machen sich, um ein Verbrechen aufzuklären, auf den Weg nach Osten.

Nach dem doch arg verkünstelten „Am Ende der Gewalt“ und „The Million Dollar Hotel“ und etlichen sehenswerten Dokumentarfilmen kehrte Wenders mit „Land of Plenty“ zum quasi frei improvisiertem Film mit geringem Budget und großer Neugierde auf Land und Leute zurück zum Spielfilm. „Land of Plenty“ ist eine Bestandsaufnahme der Post-9/11-USA.

Sein subtiles, in angemessen spröden Bilder fotografiertes Road Movie ist voller leiser Trauer über den Verlust von Werten, den Wandel von Gerechtigkeit in Selbstgerechtigkeit, die Verlorenheit von Menschen in einem komplexen System.“ (Lexikon des Internationalen Films)

Davor, um 20.15 Uhr, und danach, um 23.55 Uhr, läuft sein wunderschön musikalischer Dokumentarfilm „Buena Vista Social Club“.

Mit John Diehl, Michelle Williams, Richard Edson, Wendell Pierce, Shaun Toub, Burt Young

Wiederholung: Mittwoch, 22. Juni, 01.35 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Land of Plenty“

Wikipedia über „Land of Plenty“ (deutsch, englisch)

Homepage von Wim Wenders

Meine Besprechung von Wim Wenders’ “Hammett” (Hammett, USA 1982)

Meine Besprechung von Wim Wenders/Juliano Ribeiro Salgados “Das Salz der Erde” (The Salt of the Earth, Frankreich/Deutschland 2013)

Meine Besprechung von Wim Wenders‘ „Every thing will be fine“ (Deutschland/Kanada/Norwegen/Schweden 2015)

Wim Wenders in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Liebe und Krieg in der „Suite Française“

Januar 19, 2016

Vielleicht ist der Roman, ein unvollendetes Werk der 1942 in Auschwitz verstorbenen Irène Némirovsky, das erst Jahrzehnte Jahre nach ihrem Tod entdeckt und 2005 veröffentlicht wurde, wirklich besser und packender. Aber die gediegene Verfilmung „Suite Française – Melodie der Liebe“ hat das, was für einen Film wichtig ist, nicht: ein dramaturgisches Zentrum und eine packende Geschichte. Also eine Protagonistin und klar definierte Nebenfiguren. Dabei ist die Idee einer unerfüllten Liebe natürlich nicht schlecht und die Ausgangslage in „Suite Française“ auch voller dramatischem Potential. 1940, während der deutschen Besatzung in Frankreich, versucht Madame Angellier (Kristin Scott Thomas) den Anschein der Normalität aufrecht zu erhalten. Hartnäckig treibt die Gutsherrin das Geld bei ihren Pächtern ein, während sie zu möglichst allen Menschen, vor allem wenn sie von niederem Stand sind, eine ordentliche Distanz zu hält.
Lucile Angellier (Michelle Williams), die mit ihrem Sohn verheiratet ist, wohnt seit einigen Tagen bei ihr. Ihr Mann wird als Soldat von den Deutschen gefangen genommen. Ob er überlebt ist ungewiss. Und Lucile fragt sich auch, ob sie überhaupt will, dass ihr eher ungeliebter Mann den Krieg überlebt. Zur Ablenkung und auch als Vorbereitung auf ihr späteres Leben als Herrin über den Hof nimmt ihre Schwiegermutter sie mit zu den Pächtern. Zum Trost spielt sie Klavier.
Weil alle ihren Teil zum Krieg beitragen müssen, muss auch Madame Angellier einen Teil des Hauses für die deutschen Besatzer räumen. Bei ihr zieht der sehr höfliche und gebildete Offizier Bruno von Falk (Matthias Schoenaerts) ein. Vor dem Krieg war der zwar ungebetene, aber äußerst höfliche Hausgast Musiker und Komponist; was natürlich Lucile gefällt.
In einem Nicholas-Sparks-Film würde die Liebe von Lucile und Bruno zu einer dieser großen und kitschigen Liebesgeschichten werden. In „Suite Française“ ist es eher eine äußerst scheue Liebesgeschichte zwischen den beiden Musikern im Stand-By-Modus, während ein Subplot nach dem nächsten unsere Aufmerksamkeit fesseln soll, aber nur von der Hauptgeschichte ablenkt. Und das ist auch das Problem von „Suite Française“. Letztendlich zeigt es die Besatzungszeit mit vielen bekannten Schauspielern, aber ohne eine wirkliche Geschichte. Es gibt eher zufällige Episoden aus dem Leben der Dorfbevölkerung, die oft interessanter als die Liebesgeschichte sind. Denn nicht alle Deutschen sind so höflich wie Offizier von Falk und nicht alle Franzosen so friedfertig wie die Damen Angellier. Aber alles geschieht eher zufällig und ohne wirkliche dramatische Zuspitzungen.

Suite Francaise - Plakat

Suite Française – Melodie der Liebe (Suite Française, Großbritannien/Frankreich 2014)
Regie: Saul Dibb
Drehbuch: Saul Dibb, Matt Charman
LV: Irène Némirovsky: Suite Française, 2004 (Suite Française)
mit Michelle Williams, Matthias Schoenaerts, Kristin Scott Thomas, Margot Robbie, Ruth Wilson, Clare Holman, Sam Riley, Tom Schilling, Heino Ferch, Lambert Wilson, Alexandra Maria Lara
Länge: 108 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Moviepilot über „Suite Française“
Metacritic über „Suite Française“
Rotten Tomatoes über „Suite Française“
Wikipedia über „Suite Française“ (deutsch, englisch)


TV-Tipp für den 8. Dezember: Auf dem Weg nach Oregon – Meek’s Cutoff

Dezember 8, 2014

Arte, 21.55
Auf dem Weg nach Oregon (USA 2010, Regie: Kelly Reichardt)
Drehbuch: Jonathan Raymond
In ihrem Anti-Western erzählt Kelly Reichardt von drei Siedlerfamilien, die sich 1845 auf dem Weg nach Oregon verirren. Ihr Führer Stephen Meek (Bruce Greenwood) kennt den Weg nicht mehr. Das Wasser wird knapp und ein gefangener Indianer könnte einfach nur verrückt sein.
Obwohl in „Meek’s Cutoff“ alle Ingredienzien eines Western enthalten sind (die weite, menschenleere Landschaft, Indianer, ein Treck), kommt niemals ein altmodisches Western-Gefühl auf. Das beginnt schon mit dem heute unüblichen 1.33:1-Bildformat, das fast nur aus Stummfilmwestern (und TV-Western) bekannt ist und hier immer ein Gefühl von Enge heraufbeschwört. Die statischen Bilder sind oft fahl, selten scheint die Sonne, nachts ist es dunkel und die Charaktere stolpern kopflos und schweigsam durch eine menschenleere und unwirtliche, fast schon postapokalyptische Landschaft. Nie ist in dem wundervoll fotografiertem Film etwas von dem Pioniergeist und dem Optimismus eines typischen Western zu spüren, stattdessen fühlt man sich schnell ebenso verloren wie die drei Familien und ihr Führer, die tagelang durch eine deprimierende Landschaft stolpern, ohne dass irgendetwas passiert, das bei ihnen größere Gefühle auslöst, außer dem Gefühl, dass es eine gute Entscheidung war, nicht in den Westen aufzubrechen.
Gleichzeitig wird auch die Rolle der Frauen und das Verhältnis von den zivilisierten Weißen zu den unzivilisierten Indianern, die sich nicht verstehen, angesprochen.
Das ist ziemlich grandios und erhielt, neben viel Kritikerlob, auch den Spur-Award der Western Writers of America – und die können beurteilen, ob ein Western gelungen ist.
Am 26. Januar (Verleih) und am 17. Februar 2015 (Verkauf) erscheint Kelly Reichardts neuer Film „Night Moves“, ihre Version eines Thrillers, auf DVD und Blu-ray.
mit Michelle Williams, Bruce Greenwood, Will Patton, Zoe Kazan, Paul Dano, Shirley Henderson, Neal Huff, Tommy Nelson, Rod Rondeaux
auch bekannt als „Meek’s Cutoff“ (Originaltitel und deutscher Kinotitel)
Hinweise
Metacritic über „Meek’s Cutoff“
Rotten Tomatoes über „Meek’s Cutoff“
Wikipedia über „Meek’s Cutoff“
Meine Besprechung von Kelly Reichards „Night Moves“ (Night Moves, USA 2013)


TV-Tipp für den 28. Januar: Blue Valentine – Vom Ende einer Liebe

Januar 28, 2014

WDR, 23.15

Blue Valentine (USA 2010, R.: Derek Cianfrance)

Drehbuch: Derek Cianfrance, Cami Delavigne, Joey Curtis

Die Liebesgeschichte von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams, Oscar-nominiert).

Feines Independent-Kino.

mit Ryan Gosling, Michelle Williams, Faith Wladyka, Mike Vogel

Hinweise

Film-Zeit über „Blue Valentine“

Moviepilot über „Blue Valentine“

Metacritic über „Blue Valentine“

Rotten Tomatoes über „Blue Valentine“

Wikipedia über „Blue Valentine“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Derek Cianfrances „The Place beyond the Pines“ (The Place beyond the Pines, USA 2012)


TV-Tipp für den 5. Januar (und 6. Januar): Blue Valentine

Januar 5, 2014

 

ARD, 23.30

Blue Valentine (USA 2010, R.: Derek Cianfrance)

Drehbuch: Derek Cianfrance, Cami Delavigne, Joey Curtis

Die Liebesgeschichte von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams, Oscar-nominiert).

Feines Independent-Kino, das heute zu nachtschlafender Zeit seine TV-Premiere erlebt und einige Stunden später zu einer ordentlichen Uhrzeit gezeigt wird.

mit Ryan Gosling, Michelle Williams, Faith Wladyka, Mike Vogel

Wiederholung: Eins Festival, Montag, 6. Januar, 20.15 Uhr

Hinweise

Film-Zeit über „Blue Valentine“

Moviepilot über „Blue Valentine“

Metacritic über „Blue Valentine“

Rotten Tomatoes über „Blue Valentine“

Wikipedia über „Blue Valentine“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Derek Cianfrances „The Place beyond the Pines“ (The Place beyond the Pines, USA 2012)

 

 


Neu im Kino/Filmstart: Sam Raimis Kinderfilm „Die fantastische Welt von Oz“

März 7, 2013

Sodele. Jetzt hat auch Sam Raimi seinen Kinderfilm gedreht. Genau, der Sam Raimi, der mit dem bei uns bis heute indizierten Horrorfilm „Tanz der Teufel“ die Filmwelt betrat und mit „Spider-Man“ zu Everybody’s Darling wurde. Denn das war eine Comicverfilmung, die auch als Film überzeugte. Im Gegensatz zu älteren Superheldencomicverfilmungen, die oft sehr kindisch und schlecht waren, überzeugte „Spider-Man“ als Big-Budget-Film mit tollen Effekten, Action, Witz und einer guten Geschichte, die wichtige Themen und Fragen ernsthaft verhandelte. Das konnte man sich als Über-Zwanzigjähriger Nicht-Comicfan ohne schlechtes Gewissen ansehen.

In seinem neuesten Film „Die fantastische Welt von “ erzählt Raimi in 3D die Vorgeschichte zu L. Frank Baums in Oz spielenden Geschichten und damit auch von „Der Zauberer von Oz/Das zauberhafte Land“ (The Wizard of Oz, USA 1939, Regie: Victor Fleming), dem Filmklassiker mit Judy Garland, in dem sie am Ende dem sagenhaften Zauberer von Oz gegenübertritt und sein Geheimnis enthüllt.

Bevor er zum Zauberer von Oz wurde, tourte Oscar Diggs (James Franco) als selbstsüchtiger, ständig in Finanznöten steckender, auf eine billige Art charmanter Magier mit arg begrenztem Talent um die Jahrhundertwende durch Kansas und versucht das Publikum zu verzaubern. Als er mal wieder Ärger hat, kann er in einem Ballon entkommen. Er gerät in einen Wirbelsturm und landet in dem Fantasieland Oz. Von dort will er, nachdem er den sagenhaften Goldschatz (auf den sogar der im Gold badende Dagobert Duck neidisch wäre) geklaut hat, möglichst schnell verschwinden. Aber dann wird er in den Kampf zwischen den drei wunderschönen Hexen Theodora (Mila Kunis), Evanora (Rachel Weisz) und Glinda (Michelle Williams) hineingezogen. Die böse Hexe hält ihn für einen Schwindler. Die gute Hexe sieht in ihm den lange angekündigten Zauberer von Oz, der sie von der bösen Hexe befreit. Und Diggs muss sich entscheiden, ob er den Menschen von Oz hilft oder seine Gier nach Gold befriedigt.

Die überdeutliche Inspiration für „Die fantastische Welt von Oz“ ist natürlich das Musical „Der Zauberer von Oz“, das inzwischen ein Klassiker ist, immer noch regelmäßig im Fernsehen läuft (obwohl die letzte Wiederholung einige Zeit zurück liegt) und kaum gealtert ist. Denn in dem Film war schon immer alles eine Spur übertrieben, die Schauspieler agierten, als hätten sie einen akuten Zuckerschock, die Tricks und Matte Paintings haben heute einen liebevoll altmodischen Charme und die Songs sind Evergreens.

Raimi folgt dem Musical, ohne die Songs, in großen Teilen. So sind die ersten, in Kansas spielenden Minuten in SW und der in Oz spielende Rest in Farbe (und in einem anderen Bildformat) erzählt. Raimis Oz sieht, abgesehen von der besseren Tricktechnik (Dem Computer sei Dank!), wie Flemings Oz aus. Die Charaktere sind recht eindimensional geraten. Aber in Flemings Film wurde das durch die Songs und das Spiel der Schauspieler aufgefangen. In einem Musical mit einer sprechenden Vogelscheuche, einem ständig einrostendem Zinnmann und einem ängstlichen Löwen erwartet auch niemand tiefgründige Charakterstudien.

In Raimis Film wird mit zunehmender Laufzeit allerdings auch deutlich, dass „Die fantastische Welt von Oz“ nicht für ein erwachsenes Publikum gedacht ist. Es ist ein mit über zwei Stunden zu lang geratener Kinderfilm, dem genau das fehlt, was Tim Burtons „Frankenweenie“ oder Martin Socrseses „Hugo Cabret“ hatten: eine zweite Ebene, in die Erwachsene und Filmfans sich vertiefen konnten.

Bei „Die fantastische Welt von Oz“ ist einfach alles platt offensichtlich und der gesamte Film bleibt im musealen stecken. Denn anstatt ein neues Land zu erkunden, wird der Gang durch „Die fantastische Welt von Oz“, obwohl in echten Sets gedreht wurde, wie ein Gang durch ein Museum. Alles ist sauber. Alles ist gut ausgeleuchtet und man bestaunt die Ausstellungsstücke. Aber lebendig ist das nicht, sondern unangenehm historisierend. Anstatt in neue Welten vorzustoßen, wird ein Prequel gedreht. Ein Film, in dem wir erzählt bekommen, wie einige Charaktere zu den Charakteren wurden, die wir schon seit langer Zeit kennen. Nur: wollen wir das wirklich wissen? Und wie zukunftsweisend können Charaktere und Welten sein, die in diesem Fall bereits vor über hundert Jahre erfunden wurden und natürlich Kinder ihrer Zeit sind?

In Raimis Film ist höchstens die Tricktechnik zukunftsweisend.

Davon abgesehen: Als Sechsjähriger wäre ich wahrscheinlich begeistert gewesen von der fantastischen Welt von Oz.

P1.43 (OZTGP_004C_G - Triptych (Center) Cast)

Die fantastische Welt von Oz (Oz, the Great and Powerful, USA 2013)

Regie: Sam Raimi

Drehbuch: Mitchell Kapner , David Lindsay-Abaire

LV/Inspiration: L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz, 1900 (Der Zauberer von Oz)

mit James Franco, Mila Kunis, Rachel Weisz, Michelle Williams, Zach Braff, Bill Cobbs, Joey King, Tony Cox, Stephen R. Hart, Abigail Spencer, Bruce Campbell

Länge: 130 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

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Film-Zeit über „Die fantastische Welt von Oz“

Metacritic über „Die fantastische Welt von Oz“

Rotten Tomatoes über „Die fantastische Welt von Oz“

Wikipedia über „Die fantastische Welt von Oz“ (deutsch, englisch)

Und noch einige Teaser-, Film- und Charakterplakate, die mir wegen ihrer, hm, altmodischen Gestaltung gut gefallen

Oz - Teaserplakat

Oz - Plakat L

Oz - Plakat R

P1.43 (OZTGP_019R_G - Banner (Wizard - Darkened))

P1.43 (OZTGP_018Q_G - Banner (Glinda - Darkened))

P1.43 (OZTGP_016O_G - Banner (Theodora - Darkened))

P1.43 (OZTGP_017P_G - Banner (Evanora - Darkened))


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