Wenige Tage nach seiner Berlinale-Aufführung und wenige Stunden vor der Oscar-Preisverleihung läuft Steven Spielbergs neuer Film „Die Fabelmans“ bei uns endlich regulär im Kino an. Er ist für sieben Oscars, unter anderem als bester Film, für die beste Regie und das beste Drehbuch nominiert. Weil im Moment alle besoffen vor Begeisterung für „Everything Everywhere All at Once“ sind, dürfte nach den aktuellen Voraussagen „The Fabelmans“ keinen Oscar erhalten. Ich würde, tapfer die Minderheitenmeinung vertretend, Spielbergs Biopic einige Oscars geben.
Strenggenommen ist „Die Fabelmans“ kein Biopic. Denn die titelgebenden Fabelmans gab es nie. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Steven Spielberg in diesem Film die Geschichte seiner Kindheit und Jugend verfilmte. Das Fiktionalisierung bewahrt ihn lediglich vor Schwierigkeiten, wenn ihm jemand vorwirft, das sei damals anders gewesen. Und er kann natürlich immer sagen, dass es sich doch nur um eine erfundene Geschichte handelt. Er hat auch einige Details geändert. Aber letztendlich ist er näher an den Fakten als manche Filme, die sich als Biopic bezeichnen.
Spielberg erzählt die Geschichte von Sam ‚Sammy‘ Fabelman (Gabriel LaBelle; der jüngere Sammy wird von Mateo Zoryan Francis-DeFord gespielt). In New Jersey nehmen ihn seine Eltern am 10. Januar 1952 mit ins Kino. Sie sehen sich Cecil B. DeMilles „Die größte Schau der Welt“ (The Greatest Show on Earth) an. Der Sechsjährige ist gleichzeitig fasziniert und verängstigt von dem im Film spektakulär gezeigtem Zugunglück. Mit der Modelleisenbahn stellt er den Unfall nach, filmt ihn und lernt so, mit seinen Ängsten umzugehen.
Im folgenden erzählt Spielberg das weitere Schicksal von Sam und der überaus liebevollen, fürsorglichen und weltoffenen Familie Fabelman. Sein Vater Burt (Paul Dano) ist Computerentwickler für Datenspeichersysteme. Seine Arbeit führt sie im Lauf der Jahre von der Ostküste zur Westküste. Von New Jersey geht es über Arizona nach Kalifornien. Sam kommt dabei immer näher an den Ort seiner Träume: Hollywood. Seine Mutter Mitzi (Michelle Williams) ist eine Künstlerin. Für ihren Mann und ihre Kinder – Sam hat drei jüngere Schwestern – gab sie ihre Karriere als Konzertpianistin auf. Später verliebt sie sich in Bennie Loewy (Seth Rogen), den besten Freund der Familie. Daran zerbricht die Ehe. Mitzi verlässt ihren Mann und zieht mit Bennie weg.
Bis zu dieser Trennung wird Sam von Burt und Mitzi bei seinen Ambitionen als Filmregisseur gefördert. Auch wenn Burt Sams Filmbegeisterung eher als Hobby sieht, das ihn nicht daran hindern darf, einen richtigen Beruf zu erlernen. Schon als Jugendlicher dreht Sam Filme, wie einen Western und einen vierzigminutigen Kriegsfilm. Er kann seine Klassenkameraden überzeugen, bei den Filmen mitzumachen. Die so entstehenden Filme kommen gut an.
In Hollywood begegnet er in den frühen Sechzigern John Ford. David Lynch spielt den Western-Regisseur in einem grandiosen und schon jetzt legendärem Kurzauftritt.
Über hundertfünfzig Minuten erzählt Steven Spielberg die Geschichte von Sam Fabelman und zeigt, wieder einmal, was für ein begnadeter Geschichtenerzähler er ist. Denn Sams Leben verläuft überaus harmonisch und frei von Konflikten. Im Mittelpunkt steht seine Filmbegeisterung, wie er sie in konkrete Projekte umsetzt und wie der von seinen Eltern und seinem Umfeld bedingungslos unterstützt und gefördert wird. Die Scheidung seiner Eltern und, weil er immer wieder der neue Junge in der Klasse ist, gelegentliche Probleme mit Klassenkameraden, ändern daran nichts. Für Spielberg war diese Scheidung traumatisch und sie hinterließ in seinem Werk deutliche Spuren. Vor allem in „E. T. – Der Außerirdische“ verarbeitete er seine Kindheit so, dass er mit dem Film schon alles über sie sagte.
Insofern erzählt er auf emotionaler Ebene in „Die Fabelmans“ nichts, was er in seinen früheren Filmen nicht schon, ohne einen direkten und entsprechend offensichtlichen autobiobraphischen Bezug, erzählte. In „Die Fabelmans“ liefert er jetzt, nach dem Tod seiner Eltern, die Fakten und Hintergründe nach. Und er versucht sie, ihre Trennung und seine Jugend mit seiner jetzigen Lebenserfahrung zu verstehen. Vielleicht deshalb und sicher weil Steven Spielberg Steven Spielberg ist, fällt dieser Rückblick sehr freundlich, liebevoll und kitschfrei aus. In „Die Fabelmans“ gibt es keine Böseswichter und auch keine schlechten Menschen.
Für Spielberg-Fans und Cineasten ist diese wunderschöne, herzerwärmende Liebeserklärung an den Film ein Pflichttermin. Für alle, die gerne mehr über Steven Spielberg erfahren möchten, sich aber keine langen Filmgespräche mit unbewegter Kamera und Untertiteln ansehen wolle, ebenso.
Die Fabelmans (The Fabelmans, USA 2022)
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Steven Spielberg, Tony Kushner
mit Gabriel LaBelle, Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, Judd Hirsch, Mateo Zoryan Francis-DeFord, Chloe East, Julia Butters, Sam Rechner, Keeley Karsten, Oakes Fegley, David Lynch
Länge: 151 Minuten (und damit ungefähr eine Minute kürzer als „Die größte Schau der Welt“)
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „Die Fabelmans“
Metacritic über „Die Fabelmans“
Rotten Tomatoes über „Die Fabelmans“
Wikipedia über „Die Fabelmans“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood meint: Stimmt alles mit dem Leben von Steven Spielberg überein
Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Gefährten” (War Horse, USA 2011)
Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Lincoln” (Lincoln, USA 2012)
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Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Die Verlegerin“ (The Post, USA 2017)
Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Ready Player One“ (Ready Player One, USA 2018)
Meine Besprechung von Steven Spielbergs „West Side Story“ (West Side Story, USA 2021)
Steven Spielberg in der Kriminalakte
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Oscar Academy Conversations: Steven Spielberg und andere über den Film