Neu im Kino/Filmkritik: Über Luca Guadagninos „Bones and All“

November 30, 2022

Bleiben wir in den USA und den Problemen des Erwachsenwerdens. Neben James Grays 1980 in New York spielendem Drama „Zeiten des Umbruchs“ kommt diese Woche Luca Guadagninos „Bones and All“ in die Kinos. Sein Roadmovie spielt in den frühen achtziger Jahren im US-amerikanischen Hinterland.

Nachdem die Schülerin Maren (Taylor Russell) auf einer Feier eine Klassenkameradin beißt und wortwörtlich ‚zum Fressen gern hat‘, hat ihr Vater genug. Er legt ihr eine Musikkassette hin und verschwindet. Maren macht sich mit leichtem Gepäck und der Musikkassette auf den Weg zu dem Ort, an dem ihre ihr unbekannte Mutter vor Ewigkeiten lebte. Auf die Kassette, die sie sich während der Fahrt in Überlandbussen anhört, hat Marens Vater ihre Lebensgeschichte gesprochen. Das was er ihr nicht sagt, muss sie allein herausfinden.

An ihrem ersten Tag trifft sie auf Sully (Mark Rylance). Er sieht wie ein alter Indianer aus und er ist ebenfalls ein Kannibale. Als er ihr die hohe Kunst des Verzehrs von Menschen beibringen will, ist sie von ihm abgestoßen. Sie flüchtet und trifft auf Lee (Timothée Chalamet), einen charmanten, etwas älteren Drifter.

Gemeinsam machen sie sich auf den Weg durch die USA.

Diese Reise schildert Luca Guadagnino in seinem ersten US-Film als Roadmovie durch menschenleere Gegenden und Gegenden, die niemals so etwas wie eine ‚beste Zeit‘ erlebten. Die Grundlage für den Film ist dabei der gleichnamige, nicht ins Deutsche übersetzte Young-Adult-Roman von Camille DeAngelis. Guadagnino erzählt Marens Coming-of-Age-Geschichte so, dass sie sich nicht mehr an das normale Publikum von Young-Adult-Filmen richtet. Es ist eher eine düstere Sozialstudie, die an Andrea Arnolds „American Honey“, ein anderer Abgesang auf den amerikanischen Traum, erinnert. Er erinnert auch ein wenig an Kathryn Bigelows „Near Dark“. In dem Horrorthriller von 1987 fährt eine Gruppe Vampire (wobei dieses Wort im Film nie fällt) durch die US-amerikanische Wüste und sucht ihre Opfer und manchmal auch neue Mitglieder.

Die Kultur der „Esser“, wie sich die Kannibalen nennen, bleibt, trotz Sully Erklärungen, diffus. Sie können sich über große Entfernungen riechen. Trotzdem bilden sie keine Gemeinschaft und leben am Rand der Gesellschaft. Unklar bleibt, ob und in welcher Form sie zum Überleben Menschenfleisch essen müssen. Es ist auch unklar, wie jemand zum Esser wird. Das sind Dinge, die in einem Vampir- oder Zombiefilm geklärt sind und in diesen Filmen für eine beträchtliche Spannung sorgen. Dafür interessiert Guadagnino sich nicht weiter. Bei ihm ist der Kannibalismus einfach nur ein etwas seltsames Lieblingsessen.

Wie James Grays „Zeiten des Umbruchs“ enttäuscht auch „Bones and All“. Bei all dem Talent – Guadagninos vorherigen Filme, wie „A bigger Splash“ und „Call me by your Name“, haben mir sehr gut gefallen –, den guten Schauspielern und den oft sehr gelungenen Szenen, bleibt in seinem Hybrid aus Horror-, Liebes- und Roadmovie immer eine Leere zurück.

Bones and All (Bones and All, Italien/USA 2022)

Regie: Luca Guadagnino

Drehbuch: David Kajganich

LV: Camille DeAngelis: Bones and All, 2015

mit Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, André Holland, David Gordon Green, Michael Stuhlbarg, Jessica Harper, Chloë Sevigny

Länge: 131 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Bones and All“

Metacritic über „Bones and All“

Rotten Tomatoes über „Bones and All“

Wikipedia über „Bones and All“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „A bigger Splash“ (A bigger Splash, Italien/Frankreich 2015) und der DVD

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Call me by your Name“ (Call me by your Name, USA 2017)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Suspiria“ (Suspiria, Italien/USA 2018)


Neu im Kino/Filmkritik (+ Buchhinweis): ‚Meister des mystischen Mächte‘ Sam Raimi schickt „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“

Mai 4, 2022

Wie üblich ist auch bei dem neuesten Marvel-Film vorher nichts bekannt über den Plot und wer alles mitspielt. Neben dem Hauptcast – Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Chiwetel Ejiofor, Benedict Wong, Michael Stuhlbarg (als Michael Stühlbarg), Rachel McAdams und Neuzugang Xochitl Gomez -, der zu einem großen Teil aus dem ersten „Dr. Strange“-Film bekannt ist, soll es auch einige Überraschungen geben. Laut der Gerüchteküche soll Bruce Campbell dabei sein. Aber der ist in jedem guten Film von Sam Raimi dabei. Raimi hat, nach einer neunjährigen Spielfilmpause, die er mit einigen TV-Serienepisoden und vielen Tätigkeiten als Produzent füllte, endlich wieder die Regie bei einem Spielfilm übernommen. Ältere kennen Sam Raimi vom „Tanz der Teufel“, Jüngere als den Regisseur von drei „Spider-Man“-Filmen mit Tobey Maguire als Peter Parker.

In „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ kann Raimi seine beiden Leidenschaften, nämlich „Horror“ und „Comic-Verfilmungen“ miteinander verbinden. Deshalb wird das Werk von Marvel auch schon als deren Horrorfilm angekündigt. Geworden ist es dann ein Marvel-Film mit einigen Horrorelementen.

Es geht um Doctor Strange, der – ähem, also die offizielle Synopse ist ziemlich irreführend, der Verleih bittet um spoilerfreie Besprechungen und die Story ist, nun, ähem, bestenfalls durchwachsen. In jedem Fall gibt es einen Bösewicht, der im Gedächtnis bleibt, ein sehr nachvollziehbares Motiv hat, das gleich am Anfang erklärt wird und ihre Handlungen antreibt. Außerdem hat sie ordentlich Screentime. Nachdem in den vorherigen Marvel-Filmen der Bösewicht oft die uninteressanteste Figur im ganzen Film war, ist das hier besser.

Davon abgesehen will Doctor Stephen Strange die junge America Chavez retten. Sie ist aus einem anderen Universum in sein Universum gestolpert, sagt ihm, dass es das Multiverse gibt (Hatten wir das nicht schon in „Spider-Man: No Way Home“ erfahren?) und um alles wieder in Ordnung zu bringen, müssen die beiden durch das Multiverse reisen. Das sind verschiedene Universen, die sich in Details unterscheiden. So ist Doctor Strange in einem Universum nett, in dem anderen weniger und im nächsten Universum kann er sogar ein Bösewicht sein. Für Benedict Cumberbatch, der hier wieder Doctor Strange spielt, ist das eine gute Gelegenheit, die Figur verschieden zu spielen.

Die Idee des Multiverse führt dann dazu, dass, wie in einem schlechten Fantasy-Film, plötzlich alles möglich ist. Es wird einfach in die nächste Welt gewechselt und schon geht’s. Und wenn in einem Film ein Fehler gemacht wurde, wird er im nächsten Film einfach in ein anderes Universum verbannt.

In „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ wird durch verschiedene Universen gesprungen und in jedem gibt es etwas zu entdecken. Sam Raimi kann so gleichzeitig ungefähr ein halbes Dutzend Filme inszenieren. Einmal natürlich eine Fortführung des ersten „Doctor Strange“-Films, der jetzt auch schon sechs Jahre alt ist. Dazwischen trat Cumberbatch in mehreren Marvel-Filmen als Dr. Strange auf. Einmal ein quitschbuntes CGI-Psychelic-Abenteuer, in dem Dinge durch eine schwerelose (Alb)Traumwelt schweben. Einmal einen mittelalterlichen Abenteuerfilm, in dem tibetanische Mönche ihr Kloster, das Kamar-Taj, mit Zauberkräften gegen eine Hexe verteidigen. Und, im Finale, einen Horrorfilm, der auch die Tradition des Horrorfilms huldigt. Es gibt natürlich eine gute Portion Fanservice für die Raimi-Fans und, vor allem, für die MCU-Fans.

Das ist durchaus vergnüglich, aber nie so vergnüglich wie seine „Evil Dead“-Filme, und wird mit der Zeit, trotz seiner kurzen Laufzeit von zwei Stunden, sogar etwas langweilig. Es gibt einfach zu viel CGI. Es gibt zu viele banale Erklärdialoge. Viel zu oft ist Dr. Strange mit einem anderen Dr. Strange beschäftigt, während der Bösewicht und auch die Freunde von Dr. Strange sich vollkommen aus dem Film verabschieden. Dann spielt Cumberbatch mit sich in einem Raum. Das bringt die Story nicht voran. Denn die Welt(en) wie wir sie (nicht) kennen, will jemand anderes vernichten. Außerdem verlässt die Story sich zu sehr auf Zauberei und das Betreten von anderen Universen. So können unsere Helden immer wieder einer tödlichen Gefahr entkommen, indem sie die Tür zu einer anderen Welt öffnen und in Sicherheit sind.

Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ ist nie so bahnbrechend wie Sam Raimis erster „Spider-Man“-Film oder so hemmungslos abgedreht wie seine „Evil Dead“-Filme. Als Marvel-Film, der auch gut ohne die Kenntnis der anderen Filme und Fernsehserien angesehen werden kann, ist er okay. Trotzdem will sich bei mir die Begeisterung, die ich bei den älteren MCU-Filmen empfunden hatte, auch dieses Mal nicht einstellen.

Im Abspann gibt es zwei Szenen. Die erste ist ein Ausblick auf möglicherweise kommende Ereignisse. Die zweite, ganz am Ende des Abspanns, ist mit Bruce Campbell, der im Film lediglich ein für den Film und das Marvel-Universum folgenloses, aber vergnügliches Cameo hat. So wie Stan Lee bis zu seinem Tod in den Marvel-Filmen kurze Auftritte hatte.

Doctor Strange in the Multiverse of Madness (Doctor Strange in the Multiverse of Madness, USA 2022)

Regie: Sam Raimi

Drehbuch: Michael Waldron (basierend auf Marvel-Figuren von Stan Lee und Steve Ditko)

mit Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Chiwetel Ejiofor, Benedict Wong, Xochitl Gomez, Michael Stuhlbarg (als Michael Stühlbarg), Rachel McAdams, Patrick Stewart , Bruce Campbell, Julian Hilliard, Jett Klyne

Länge: 126 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“

Metacritic über „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“

Rotten Tomatoes über „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“

Wikipedia über „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Sam Raimis „Armee der Finsternis (Tanz der Teufel III)“ (Army of Darkness – Evil Dead 3, USA 1992)

Meine Besprechung von Sam Raimis „Die fantastische Welt von Oz“ (Oz, the Great and Powerful, USA 2013)

Meine Besprechung von Scott Derricksons „Doctor Strange“ (Doctor Strange, USA 2016)

Das war’s mit den bewegten Bildern. Werfen wir einen Blick auf die unbewegten Bilder und damit auf die Ursprünge von Doctor Strange. Der Panini Verlag hat pünktlich zum Filmstart eine dicke Anthologie über „Doctor Strange: Meister der mystischen Mächte“ veröffentlicht.

Die „Doctor Strange“-Anthologie ist wie die anderen Anthologien, die zu bekannten Marvel- und DC-Figuren, wie Black Widow, Deadpool und Batman, erschienen sind, aufgebaut. Es gibt, geschrieben von Christian Endres, Thomas Witzler und Arnulf Woock, kurze Texte zu wichtigen Aspekten der Figur und seiner Welt und einführende Texte zu seinen wichtigsten Comic-Abenteuern. Diese werden, von seinem ersten Auftritt bis zur Gegenwart, chronologisch abgehandelt und nachgedruckt.

Wie die anderen Anthologien ist auch die Anthologie über den Obersten Zauberer des Marvel-Universum ein schwer in der Hand liegender informativer Lesegenuss, der auch zeigt, wie sehr sich die Comics in den vergangenen sechzig Jahren veränderten. Seinen ersten Auftritt hatte der Zauberer im Juli 1963 in Strange Tales als „Dr. Strange, Meister der Schwarzen Magie“. Die fünfseitige Geschichte war als Füller gedacht. Den Lesern gefiel der Comic und der Rest ist Geschichte.

Doctor Strange: Meister der mystischen Mächte – Die Doctor Strange-Anthologie

Panini, 2022

320 Seiten

29 Euro

Zum Gratis-Comic-Tag, der dieses Jahr endlich wieder an seinem regulärem Termin, dem zweiten Samstag im Mai, stattfindet, gibt es ein „Doctor Strange“-Heft. In ihm sind drei Geschichten enthalten. In „Der Zauberlehrling“ (Mystic Apprentice, 2016) ist Stephen Strange noch ein Novize der mystischen Künste, dem die Astralformprojektion seines Körpers noch nicht gelingen will. „Der Tod von Doctor Strange, Kapitel 1“ (Death of Doctor Strange, 2021) enthält die ersten Seiten der Geschichte und endet mit einem Gast an seiner Haustür. In „Venom“ (Marvel Action: Origins, 2021) ist Doctor Strange nicht dabei. In dieser Geschichte erfahren wir, wie ein außerirdischer Symbiont zuerst Spider-Man Peter Parker und dann Eddie Brock als Wirt aussuchte.

Lohnenswert!

(Vor dem 14. Mai, dem Gratis-Comic-Tag gibt es einen längeren Text dazu.)


TV-Tipp für den 16. Januar: Arrival

Januar 15, 2021

Vox, 20.15

Arrival (Arrival, USA 2016)

Regie: Denis Villeneuve

Drehbuch: Eric Heisserer

LV: Ted Chiang: Story of your Life, 1998 (Geschichte deines Lebens, enthalten in „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ und „Geteilt durch Null“)

Aliens sind auf der Erde an verschiedenen Orten gelandet. Aber was wollen sie? Um das Herauszufinden, schickt die US-Regierung einige Wissenschaftler nach Montana zu einem der Raumschiffe. Dort angekommen versucht die Sprachwissenschaftlerin Dr. Louise Banks, sich mit den Aliens zu verständigen. Dafür muss sie ihr Denken und ihre Sprache entschlüsseln.

Toller philosophischer Science-Fiction-Film, der auf den üblichen Alien-Invasions-Krawall verzichtet. Schon jetzt ein Klassiker.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Amy Adams, Jeremy Renner, Forest Whitaker, Michael Stuhlbarg, Mark O’Brien

Wiederholung: Sonntag, 17. Januar, 14.45 Uhr

Die Vorlage

Ted Chiang: Geteilt durch Null

(übersetzt von molosovsky und Karin Will)

Golkonda, 2020

360 Seiten

24 Euro

Originalausgabe

Story of your life and others

Vintage Books, 2016

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Arrival“

Metacritic über „Arrival“

Rotten Tomatoes über „Arrival“

Wikipedia über „Arrival“ (deutsch, englisch) und Ted Chiang (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Enemy“ (Enemy, Kanada/Spanien 2013)

Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Sicario“ (Sicario, USA 2015) und der DVD und des Soundtracks

Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Arrival“ (Arrival, USA 2016)

Meine Besprechung von Ted Chiangs „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ (2011)

Meine Besprechung von Ted Chiangs „Die große Stille“ (Exhalation, 2019) und „Geteilt durch Null“ (Story of your life and others, 2016)


TV-Tipp für den 3. Mai (+ Buchkritik): Shape of Water – Das Flüstern des Wassers

Mai 2, 2020

Pro7, 20.15

Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (The Shape of Water, USA 2017)

Regie: Guillermo del Toro

Drehbuch: Guillermo del Toro, Vanessa Taylor (nach einer Geschichte von Guillermo del Toro)

TV-Premiere – und wegen der Uhrzeit wird um 20.15 Uhr eine gekürzte Fassung gezeigt. Die Nachtwiederholung dürfte ungekürzt sein.

Guillermo del Toros sehr gelungene, mit zahlreichen Preisen (u. a. Oscar als bester Film des Jahres) ausgezeichnete Version vom „Schrecken vom Amazonas“. Der Fischmensch wird 1962 in Baltimore in einem Regierungslabor als Forschungsobjekt gefangen gehalten. Als eine stumme Putzfrau zu dem Wesen eine Beziehung aufbaut, beginnt eine der schönsten Liebesgeschichten des zeitgenössischen Kinos, die auch eine detailverliebte Liebeserklärung an die alten Hollywood-Monsterheuler und ein subversives Märchen über gesellschaftliche Außenseiter, die sich respektvoll, human und ohne Vorurteile begegnen, ist.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung (mit Clips und Interviews).

mit Sally Hawkins, Michael Shannon, Richard Jenkins, Octavia Spencer, Michael Stuhlbarg, Doug Jones, David Hewlett, Nick Searcy, Stewart Arnott

Der Filmroman

folgt selbstverständlich der Filmgeschichte. Allerdings erfahren wir mehr über die einzelnen menschlichen Figuren und auch was Richard Strickland im Dschungel bei der Suche nach dem legendären Fischmenschen erlebte. Diese Nebengeschichten variieren das Thema des Films und erhellen das damalige Denken und die damals herrschenden Ansichten. Dummerweise drängen diese Nebengeschichten die Hauptgeschichte in den Hintergrund.

Guillermo del Toro/Daniel Kraus: The Shape of Water

(übersetzt von Kerstin Fricke)

Knaur, 2018

432 Seiten

16,99 Euro

Originalausgabe

The Shape of Water

Feiwel and Friends/Macmillan, 2018

Hinweise

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Moviepilot über „The Shape of Water“

Metacritic über „The Shape of Water“

Rotten Tomatoes über „The Shape of Water“

Wikipedia über „The Shape of Water“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Guillermo del Toros „Pacific Rim“ (Pacific Rim, USA 2013)

Meine Besprechung von Guillermo del Toros „Crimson Peak“ (Crimson Peak, USA 2015)

Meine Besprechung von Guillermo del Toros „The Shape of Water – Das Flüstern des Waters“ (The Shape of Water, USA 2017)


TV-Tipp für den 16. November: Die Erfindung der Wahrheit

November 15, 2019

Vox, 20.15

Die Erfindung der Wahrheit (Miss Sloane, Frankreich/USA 2016)

Regie: John Madden

Drehbuch: Jonathan Perera

Miss Sloane (Jessica Chastain gewohnt überzeugend) ist in Washington eine Top-Lobbyistin. Als sie strengere Waffengesetze blockieren soll, wechselt sie die Seiten. Ihre früheren Auftraggeber sind davon nicht begeistert und die Schlacht der Lobbyisten beginnt.

Als Porträt von „Miss Sloane“ funktioniert „Die Erfindung der Wahrheit“ gut. Als Polit-Thriller lässt einen der kühle, in den entscheidenden Momenten zu naive und zu plakative Film dann doch etwas unbefriedigt zurück. Trotz überraschender Enthüllungen und langfristig angelegter Fallen und Finten.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Jessica Chastain, Mark Strong, John Lithgow, Alison Pill, Gugu Mbatha-Raw, Michael Stuhlbarg, Sam Waterston, Jake Lacey

Hinweise

Moviepilot über „Die Erfindung der Wahrheit“

Metacritic über „Die Erfindung der Wahrheit“

Rotten Tomatoes über „Die Erfindung der Wahrheit“

Wikipedia über „Die Erfindung der Wahrheit“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von John Maddens Elmore-Leonard-Verfilmung „Killshot – Gnadenlose Jagd“ (Killshot, USA 2008)

Meine Besprechung von John Maddens „Eine offene Rechnung“ (The Debt, USA 2010) (ebenfalls mit Jessica Chastain)

Meine Besprechung von John Maddens „Die Erfindung der Wahrheit“ (Miss Sloane, Frankreich/USA 2016)


TV-Tipp für den 15. Oktober: Steve Jobs

Oktober 14, 2019

ZDF, 00.20

Steve Jobs (Steve Jobs, USA 2015)

Regie: Danny Boyle

Drehbuch: Aaron Sorkin

LV: Walter Isaacson: Steve Jobs, 2011 (Steve Jobs)

Zu einer vollkommen indiskutablen Uhrzeit versendet das ZDF die TV-Premiere von Danny Boyles grandiosem Biopic über Steve Jobs. Das furiose Drama konzentriert sich, wie ein Theaterstück, auf drei wichtige Produktpräsentationen, an denen Jobs‘ Privat- und Berufsleben miteinander kollidieren. Entstanden ist eine zweistündige atemberaubende Tour de force für die Schauspieler und Zuschauer, die den Sorkinschen Wortkaskaden folgen müssen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Michael Fassbender, Kate Winslet, Seth Rogen, Jeff Daniels, Michael Stuhlbarg, Katherine Waterston, Perla Haney-Jardine, John Ortiz

Hinweise

Moviepilot über „Steve Jobs“

Metacritic über „Steve Jobs“

Rotten Tomatoes über „Steve Jobs“

Wikipedia über „Steve Jobs“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood über „Steve Jobs“

Meine Besprechung von Danny Boyles „Trance – Gefährliche Erinnerung“ (Trance, GB 2013)

Meine Besprechung von Danny Boyles „Steve Jobs“ (Steve Jobs, USA 2015)

Meine Besprechung von Danny Boyles „T2 Trainspotting“ (T2 Trainspotting, Großbritannien 2017)


TV-Tipp für den 11. August: Hitchcock

August 10, 2019

ARD, 00.05

Hitchcock (Hitchcock, USA 2012)

Regie: Sacha Gervasi

Drehbuch: John J. McLaughlin

LV: Stephen Rebello: Alfred Hitchcock and The Making of Psycho, 1990 (Hitchcock und die Geschichte von „Psycho“)

Biopic über die Dreharbeiten zu „Psycho“ und die Beziehung zwischen Alfred Hitchcock und seiner Frau Alma Reville.

Die Dialoge sind pointiert, der Humor hitchcockian, die Schauspieler grandios, das Zeitkolorit treffend, die Faktentreue – naja, warum soll man bibeltreu bei den Fakten bleiben, wenn sie einer gelungenen Pointe im Weg stehen. Entstanden ist eine Geschichte, die in dieser Version, so meine Vermutung, Alfred Hitchcock gefallen hätte.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

Der Sendetermin dieser schon lange überfälligen TV-Premiere ist eine Frechheit, für die es keine Entschuldigung gibt.

mit Anthony Hopkins, Helen Mirren, Scarlett Johansson, Danny Huston, Toni Collette, Michael Stuhlbarg, Michael Wincott, Jessica Biel, James D’Arcy, Kurtwood Smith, Ralph Macchio, Tara Summers

Wiederholung: Montag 12. August, 03.15 Uhr (Taggenau!)

Die Vorlage

Rebello - Hitchcock und die Geschichte von Psycho2

Stephen Rebello: Hitchcock und die Geschichte von „Psycho“

(mit einem neuen Vorwort von Stephen Rebello)

(übersetzt von Lisa Kögeböhn, Bernhatt Matt und Uli Meyer)

Heyne, 2013

416 Seiten

9,99 Euro (nur noch als Kindle)

Erstausgabe

Alfred Hitchcock and The Making of Psycho

Dembner Books, 1990

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Metacritic über „Hitchcock“

Rotten Tomatoes über „Hitchcock“

Wikipedia über „Hitchcock“ (deutsch, englisch)

Wikipedia über „Psycho“ (deutsch, englisch)

Wikipedia über Alfred Hitchcock (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock präsentiert – Teil 1“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock präsentiert – Teil 2“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock zeigt – Teil 1“

Meine Besprechung von „Alfred Hitchcock zeigt – Teil 2″

Meine Besprechung von Alfred Hitchcocks „Mr. und Mrs. Smith“

Meine Besprechung von Thily Wydras “Alfred Hitchcock”

Meine Besprechung von Robert V. Galluzzos “Psycho Legacy” (The Psycho Legacy, USA 2010 – eine sehenswerte Doku über die “Psycho”-Filme mit Anthony Perkins, mit vielen Stunden informativem Bonusmaterial)

Meine Besprechung von Stephen Rebellos “Hitchcock und die Geschichte von ‘Psycho’” (Alfred Hitchcock and the Making of ‘Psycho’, 1990)

Meine Besprechung von Sacha Gervasis auf Stephen Rebellos Buch basierendem Biopic “Hitchcock” (Hitchcock, USA 2012)

Meine Besprechung von Henry Keazors (Hrsg.) “Hitchcock und die Künste” (2013)

Meine Besprechung von Robert Blochs “Psycho” (Psycho, 1959)

 


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Call me by your Name“ wenn du mich liebst

März 3, 2018

Ein Sommer in Italien. Ein Teenager. Ein etwas älterer Sommergast. Die erste Liebe.

So geschrieben klingt das wie ein Lore-Roman. Etwas für das ZDF-“Herzkino“.

Aber „Call me by your Name“ ist, wie schon die Namen der Beteiligten verraten, anders. Die Regie führte Luca Guadagnino, der Regisseur von „I am Love“ und „A bigger Splash“. Er sieht „Call me by your Name“ als Abschluss einer Trilogie des Begehrens. Das Drehbuch ist von James Ivory, dem hochgelobten, inzwischen etwas vergessenen Regisseur von Literaturverfilmungen wie „Zimmer mit Aussicht“, „Maurice“, „Wiedersehen in Howards End“ und „Was vom Tage übrig blieb“.

Und die ausgezeichnete Vorlage ist das Romandebüt von André Aciman. Der Literaturwissenschaftler und Romancier gehört zu den führenden Marcel-Proust-Experten. Prousts bekanntestes Werk ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und das wäre auch ein guter Titel für „Call me by your Name“, in dem der Erzähler sich zwanzig Jahre später an diesen Sommer, in dem er der Liebe seines Lebens begegnet, erinnert.

Dabei verändert das Geschlecht des Erzählers die Geschichte. Denn Elio Perlman , der Ich-Erzähler des Romans, ist ein Mann. In dem entscheidenden Sommer war er siebzehn Jahre alt. Wie in den vorherigen Jahren verbringt er den Sommer mit seiner Familie in ihrem Landhaus und wie in den vorherigen Sommern muss er sein Zimmer für den Sommergast räumen. Denn jedes Jahr lädt sein Vater, ein Universitätslehrer, einen US-amerikanischen Studenten für sechs Wochen ein. Der Gast muss ihm als Bezahung für die Einladung nach Italien ein wenig bei seiner Arbeit helfen. Die restliche Zeit kann der Sommergast die Gegend genießen und, wozu er vor allem von den Perlmans eingeladen wurde, in aller Ruhe seine studentische Arbeit für eine Veröffentlichung vorbereiten. Dieses Jahr ist ihr Sommergast der 24-jährige Oliver, ein bis zur Arroganz selbstsicherer Jude aus New York.

Elio, der schon mit mehreren Mädchen geschlafen hat, verliebt sich in Oliver, der seine Liebe erwiedert.

Bis dahin dauert es einige Zeit. Weil der Film 1983 (der Roman nennt kein Jahr, spielt aber ebenfalls in den Achtzigern) spielt. Weil man sich damals nicht so leicht zu seiner Homosexualität bekannte. Weil die Geschichte in Italien spielt, das zwischen Macho-Kultur und Katholizismus kein gutes Klima für offensiv ausgelebte Homosexualität ist. Vor allem nicht in der Provinz. Der Film spielt in der Lombardei, der Roman an der italienischen Riviera. Dass Elio ein Jude ist, dass er aus einer Intellektuellenfamilie stammt und dass ihr Gast ein Ausländer ist, ändern daran nichts.

Diese Phase der Annäherung, des gegenseitigen Umwerbens, des Deutens und Missdeutens von Signalen nimmt einen großen Teil der luftig leicht erzählten Geschichte ein, die sich nicht für das schnelle Abhandeln der Plot Points interessiert. Dabei zeigt Guadagnino all die Italien-Klischees, die wir aus Filmen kennen, und verleiht ihn eine große Wahrhaftigkeit. Dass in seinem Film und dem mit dem Lambda-Award ausgezeichneten Roman eine homosexuelle Liebesgeschichte im Mittelpunkt der Sommeraffäre steht, ist dabei letztendlich egal. Es geht um zwei junge Menschen, ihre Gefühle und die Ereignisse in einem ereignislosen Sommer, garniert und abgeschlossen durch einen verständnisvollen Kommentar von Elios Vater, gespielt von Michael Stuhlbarg als lebensweisen Professor. Für Elio-Darsteller Timothée Chalamet, der auch in „Lady Bird“ (deutscher Kinostart 19. April) mitspielt, könnte diese Rolle der große Durchbruch sein. Er ist, unter anderem, für den Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert.

Call me by your Name“, der auch für den Oscar als bester Film nominiert ist, ist eine wundervolle Liebeserklärung, die für mich nur einen, dafür aber gravierenden Minuspunkt hat: ich konnte Armie Hammer, der Oliver spielt, niemals als das Objekt der Begierde sehen. Für mich war er im Film immer der arrogante Schnösel, mit dem ich nichts zu tun haben will und der wie ein egozentrischer Pfau durch die Szenerie stolziert und von allen bewundert werden will. Für mich drehte der Film sich deshalb um ein leeres Zentrum und meine Begeisterung für den Film ist mehr rational als emotional.

Call me by your Name (Call me by your Name, USA 2017)

Regie: Luca Guadagnino

Drehbuch: James Ivory

LV: André Aciman: Call me by your Name, 2007 (Call me by your Name – Ruf mich bei deinem Namen)

mit Armie Hammer, Timothée Chalamet, Michael Stuhlbarg, Amira Casar, Esther Garrel

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

André Aciman: Call me by your Name – Ruf mich bei deinem Namen

(übersetzt von Renate Orth-Guttmann)

dtv, 2018

288 Seiten

10,90 Euro

Originalausgabe

Call me by your Name

Farrar, Straus and Giroux, New York, 2007

Hinweise

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Moviepilot über „Call me by your Name“

Metacritic über „Call me by your Name“

Rotten Tomatoes über „Call me by your Name“

Wikipedia über „Call me by your Name“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „A bigger Splash“ (A bigger Splash, Italien/Frankreich 2015) und der DVD

Beim TIFF wurde der Regisseur und die beiden Hauptdarsteller auf die Bühne gebeten

Bei NYFF wurden sie, unterstützt von Michael Stuhlbarg, ebenfalls auf die Bühne gebeten

DP/30 unterhält sich mit Luca Guadagnino

und mit Timothée Chalamet über den Film und den Rest

 

 

 


Neu im Kino/Filmkritik: „Die Verlegerin“ der Post und die Pentagon-Papiere

Februar 23, 2018

Als Katharine Graham nach dem Tod ihres Mannes 1963 die Leitung der „Washington Post“ übernahm, war sie die Tochter des Inhabers der „Washington Post“ (ihr Vater hielt sie für ungeeignet, die Zeitung zu führen, sie dachte das auch und hatte daher nichts gegen die Entscheidung ihres Vaters, ihren Ehemann zum Chef zu machen), eine ehemalige Journalistin und Mutter von vier Kindern, die sich, wie es dem damaligen Gesellschaftsbild entsprach, um Haushalt, Kindererziehung und das Gesellschaftsleben kümmerte. Sie war, so ihr Sohn Don Graham, „die Welthauptstadt der Selbstzweifel“.

Plötzlich stand sie, ohne echte Erfahrung im Zeitungsgeschäft und nur aus dem Gefühl einer Verpflichtung gegenüber dem Familienvermächtnis und ihren Kindern, als erste Frau an der Spitze eines großen Wirtschaftsunternehmen. Die Männer akzeptierten sie in ihren Männerzirkeln, den Clubs, Hinterzimmern und Vorstandszimmern nur, weil sie die Frau, die durch eine Erbschaft ihre aktuelle Position erhalten hatte, akzeptieren mussten. Aber eigentlich gehörte sie in das Damenzimmer, wo nicht über Politik, sondern über Frisuren geredet wurde.

Das Unternehmen, die „Washington Post“, war damals eine Tageszeitung mit finanziellen Problemen, deren größtes Problem – so sagt Steven Spielbergs neuer Film „Die Verlegerin“ – der Zugang zu verschiedenen Privatfeiern von US-Präsident Richard Nixon war. Zur Sanierung war ein Börsengang geplant, der möglichst störungsfrei verlaufen sollte. Skandalträchtige Geschichten und damit verknüpfte juristische Kalamitäten sollten in dem Moment unbedingt vermieden werden.

In diesem Moment schlug ihr ihr Chefredakteur Ben Bradlee eine Super-Story vor. Er war seit 1965 bei der „Washington Post“. Zwischen Bradlee und Graham herrschte eine vertrauenvolle Freundschaft. Die gegensätzlichen Charaktere hatten nämlich ein Ziel: aus der „Washington Post“ eine wichtige Tagezeitung zu machen. Sein Vorschlag war, nachdem die konkurrierende „New York Times“ am 13. Juni 1971 mit der Veröffentlichung der Pentagon-Papiere begonnen hatte und kurz darauf, auf Antrag der Nixon-Regierung, eine einstweilige Verfügung erhielt, die ihr weitere Veröffentlichungen aus den Pentagon-Papieren untersagte, sich die Papiere zu besorgen und zu drucken.

Dabei handelte es sich um eine siebentausend Seiten umfassende Studie des einflussreichen Think-Tanks RAND Corporation mit dem prosaischen Titel „Geschichte US-amerikanischer Entscheidungsfindungen in Vietnam, 1945 – 1966“ (United States – Vietnam Relations, 1945–1967: A Study Prepared by the Department of Defense). Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass mehrere US-Präsidenten die Öffentlichkeit über ihr Vorgehen in Vietnam belogen hatten. Daniel Ellsberg, einer der Autoren der Studie, hatte die siebentausend Seiten der Studie in mühevoller Kleinarbeit aus dem RAND-Büro geschmuggelt und fotokopiert. Er wollte, dass in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wird.

Dass die Regierung über eine weitere Veröffentlichung nicht erfreut wäre, war in dem Moment klar. Denn damals kämpften in Vietnam US-Soldaten, während in den USA gegen den Krieg protestiert wurde.

Graham wusste, dass sie mit einer falschen Entscheidung die Zukunft der Zeitung ruinieren könnte. Sie wusste auch, dass es um die Freiheit der Presse ging, die im wichtigen Ersten Zusatzartikel zur Verfassung erklärt wird. Und sie war, als Teil der High Society von Washington, mit einigen der Männer, die in den Pentagon-Papieren erwähnt werden, eng befreundet.

Spielberg erzählt, nach einem konzentrierten Drehbuch von Liz Hannah und Josh Singer („Spotlight“), die Geschichte von Katherine Graham. Aber, wie der Originaltitel „The Post“ andeutet, auch die Geschichte der „Washington Post“, vor allem natürlich der Reporter, die sich als investigative Journalisten hinter die Story klemmen, und die Geschichte von ihrem Informanten Daniel Ellsberg, der später als Landesverräter angeklagt wurde. Am 11. Mai 1973 erklärte der zuständige Richter das Verfahren aufgrund eines schweren Fehlverhaltens der Regierung (sie hatte den Auftrag erteilt, Ellsbergs Psychiater auszuspionieren) für ungültig. Die Vorwürfe gegen Ellsberg und seinen RAND-Kollegen Anthony Russo wurden fallengelassen.

Spielbergs „Die Verlegerin“ ist, im besten Sinn, packendes quasidokumentarisches bildungsbürgerliches Kino, in dem liberale Werte, Traditionen und die Verfassung hochgehalten werden. Vor allem natürlich der Wert einer freien Presse. Denn am 18. Juni 1971 druckte die „Washington Post“ ihren ersten Artikel über die Pentagon-Papiere und weil ein Bundesrichter die vom Justizminsterium beantragte einstweilige und dauerhafte Verfügung gegen die Zeitung ablehnte, begann auch andere Zeitungen Berichte über die Pentagon-Papiere zu drucken.

Aber in dem Moment war der Weg durch die Gerichte noch nicht ausgeschöpft.

Die Verlegerin“ zeigt, wie die „Washington Post“ durch die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere und die gerichtlichen Auseinandersetzungen von einer unbedeutenden Lokalzeitung zu einer vielfach preisgekrönten und geachteten investigativen Tageszeitung wurde, wie eine Verlegerin sich emanzipiert und wie wichtig eine freie Presse ist bei der Aufdeckung von Skandalen.

Das Drama ist auch eine Liebeserklärung an die gute alte Tageszeitung. Es ist eine Zeit, als es in Redaktionen noch laut hämmernde Schreibmaschinen und einen festen Redaktionsschluss gab, Druckvorlagen von Hand erstellt wurden, Zeitungen gedruckt, verteilt und beim Frühstück oder dem Weg zur Arbeit gelesen wurden. Sie waren dann Tagesgespräch. Heute stehen die Artikel zuerst auf der Homepage der Zeitung und erst danach in der gedruckten Ausgabe.

Der Film endet mit dem Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate-Hotel am 17. Juni 1972. Diese Geschichte, die durch die Recherche der „Washington Post“-Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward zum Rücktritt von Nixon führte, erzählt Alan J. Pakula 1976 in seinem Filmklassiker „Die Unbestechlichen“, den man sich nach „Die Verlegerin“ wieder ansehen kann. Beide Filme erzählen von Ereignissen und Konflikten, die heute wieder erschreckend aktuell sind.

Die Verlegerin (The Post, USA 2017)

Regie: Steven Spielberg

Drehbuch: Liz Hannah, Josh Singer

mit Meryl Streep, Tom Hanks, Sarah Paulson, Bob Odenkirk, Tracy Lettts, Bradley Whitford, Bruce Greenwood, Matthew Rhys, Alison Brie, Michael Stuhlbarg

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Moviepilot über „Die Verlegerin“

Metacritic über „Die Verlegerin“

Rotten Tomatoes über „Die Verlegerin“

Wikipedia über „Die Verlegerin“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood über „Die Verlegerin“

Tagespiegel über Katharine Graham

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels” (Indiana Jones and the kingdom of the skull, USA 2008)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Gefährten” (War Horse, USA 2011)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Lincoln” (Lincoln, USA 2012)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Bridge of Spies – Der Unterhändler“ (Bridge of Spies, USA 2015)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „BFG – Big Friendly Giant (The BFG, USA 2016)

Steven Spielberg in der Kriminalakte


Ein Gespräch mit Steven Spielberg, Meryl Streep, Tom Hanks, Bob Odenkirk und Bradley Whitford über den Film, organisiert von der Washington Post

Meryl Streep und Tom Hanks bei CBS This Morning

Das Teaserplakat, das mir besser als das Hauptplakat gefällt

P. S.: Nicht zu verwechseln mit diesem Film, der nichts, aber auch absolut nichts mit „Die Verlegerin“ zu tun hat

 


Neu im Kino/Filmkritik: Wie ist die „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“?

Februar 17, 2018

Seine Weltpremiere erlebte Guillermo del Toros neuer Film „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ in Venedig. Dort erhielt er den Goldenen Löwen als bester Film. Seitdem erhielt der Film über achtzig Preise und fast zweihundertsiebzig Nominierungen. Allein diese Zahlen verraten schon einiges über die Qualität des Films. Der Höhepunkt der Preisverleihungen dürfte die Oscar-Nacht sein. Denn „The Shape of Water“ ist für dreizehn Oscars nominiert, unter anderem in den wichtigen Kategorien bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin, Nebendarstellerin, Nebendarsteller und Kamera. Und er hatte gute Chancen, einige Preise zu erhalten. Unter anderem, trotz starker Konkurrenz, den Preis als bester Film des Jahres. Denn wie „The Artist“, der 2012 den Oscar als bester Film des Jahres erhielt, feiert „The Shape of Water“ das alte Hollywood zwischen B-Picture-Monsterheuler und Musical in seiner ganzen Pracht.

Ungefähr 1963, zur Hochzeit des Kalten Krieges, wird ein seltsames Wesen (Doug Jones), das Filmfans beim ersten Anblick sofort als „Der Schrecken vom Amazonas“ (Creature from the Black Lagoon, USA 1954, Regie: Jack Arnold) erkennen, zu Forschungszwecken in eine geheime und hoch gesicherte US-Forschungsanlage in Baltimore gebracht. Es ist eine dieser Anlagen, in der niemand auch nur zwei Schritte gehen kann, ohne sich ausweisen zu müssen. Bis auf die Putzfrauen, die überall Zutritt haben und normalerweise nicht beachtet werden. Es sind ja nur die Putzfrauen. Wie die schüchterne und stumme Elisa (Sally Hawkins). Sie lebt allein in einem Apartment über einem riesigen Kino, das eines dieser alten Filmpaläste ist, die wir nur aus Filmen kennen. Mit einem netten Betreiber und einer überschauberen Kundschaft. Elisas einziger Freund ist ihr Nachbar Giles (Richard Jenkins). Er ist ein erfolgloser, netter, homosexueller Werbezeichner und Musicalliebhaber, mit dem sie im Fernsehen alte Filme ansieht. Ihre beste Freundin ist ihre redselige Arbeitskollegin Zelda (Octavia Spencer). Die Afroamerikanerin ist verheiratet und nie um eine spitze Bemerkung verlegen.

Elisa führt ein einsames, geregeltes Leben, in das nur ihre Träume Farbe bringen. Bis sie den Amphibienmann trifft. Wobei trifft eigentlich nicht das richtige Wort ist. Schließlich ist er in dem Forschungslabor, das sie putzt, in einem Wasserbottich gefangen und angekettet. Sie kann ihn zunächst nur durch eine dicke Glasscheibe schemenhaft sehen.

Der Amphibienmann wurde von dem stahlharten Regierungsagenten Richard Strickland (Michael Shannon) eigenhändig aus dem Amazonasgebiet nach Baltimore geschleppt. Er möchte alles über das Wesen wissen und er will verhindern, dass es den Russen in die Hände fällt. Für ihn ist dieser Fischmensch eine gefährliche Bestie, die mit Schlägen gefügig gemacht werden muss. Der Meeresbiologe Dr. Robert Hoffstetler (Michael Stuhlbarg), der die Lungenstruktur des Amphibienmannes untersuchen soll, behandelt den Amphibienmann besser. Trotzdem ist er auch für ihn nur ein Forschungsobjekt.

Nur Elisa hat Mitleid mit ihm. Sie begegnet ihm unvoreingenommen, bringt ihm Essen mit und verständigt sich wortlos mit ihm. Langsam vertraut er ihr.

Gleichzeitig werden die Experimente für den Amphibienmann immer lebensbedrohlicher und russische Spione versuchen die Anlage zu infiltrieren.

Weil Elisa sich inzwischen in ihn verliebt hat, möchte sie ihn befreien. Aber wie? Und können ihr ihre Freunde, die wie sie gesellschaftliche Außenseiter sind, helfen?

Del Toros neuer Film ist ein überaus gelungener Crossover aus Monsterfilm, Liebesfilm und Thriller, garniert mit ein, zwei kräftigen Musical-Tupfern, der sich ausdrücklich auf die klassischen Fünfziger-Jahre-B-Pictures beruft. Damals gab es jede Woche eine Alien-Invasion, ein wissenschaftliches Experiment ging grotesk schief und natürlich mussten die Amerikaner sich gegen die bösen Russen verteidigen. Es waren und sind höchst unterhaltsame Filme, die auch, mehr oder weniger offensichtlich, Stimmungen aufgriffen. Es waren oft paranoide Fantasien, die das Herz jedes Analytikers erfreuen. Die besten dieser Filme wurden in jede Richtung interpretiert. Auch der Publikumserfolg „Der Schrecken vom Amazonas“ als „Die Schöne und das Biest“-Variante hatte eine Botschaft. Del Toro knüpft an diesen Klassiker an, führt ihn weiter und verändert vieles, bis eigentlich nur noch der Amphibienmann vorhanden ist. Allerdings nicht mehr als Herrscher über seine Welt, sondern als Gefangener und malträtierte Kreatur. Er ist wahrlich kein Biest mehr. Ein verwunschener Prinz ist er auch nicht. Und Elisa ist nicht die Anwärterin für „die Schöne“, sondern für „die Unsichtbare“. Wie ihre Freunde, die damals von der WASP-Gesellschaft, deren Vertreter Richard Strickland ist, nicht wahrgenommen wurden.

Durch diese Veränderungen wird „The Shape of Water“ zu einem subversivem Märchen über gesellschaftliche Außenseiter, die sich respektvoll, human und ohne Vorurteile begegnen.

Durch diese Veränderungen entgeht del Toro der Gefahr, einfach nur eine zweistündige, prächtig gefilmte, detailversessene Retro-Liebeserklärung an die alten B-Picture-Monsterheuler abzuliefern. Das ist „The Shape of Water“ auch. Aber im Gegensatz zu dem letztjährigen Oscar-Liebling „La La Land“ (das dann überraschend doch nicht der beste Film des Jahres wurde) benutzt del Toro die alten Filme und unsere Erinnerungen an sie, um daraus innerhalb und unter Verwendung der bekannten Formen etwas vollkommen Neues zu machen.

Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (The Shape of Water, USA 2017)

Regie: Guillermo del Toro

Drehbuch: Guillermo del Toro, Vanessa Taylor (nach einer Geschichte von Guillermo del Toro)

mit Sally Hawkins, Michael Shannon, Richard Jenkins, Octavia Spencer, Michael Stuhlbarg, Doug Jones, David Hewlett, Nick Searcy, Stewart Arnott

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „The Shape of Water“

Metacritic über „The Shape of Water“

Rotten Tomatoes über „The Shape of Water“

Wikipedia über „The Shape of Water“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Guillermo del Toros „Pacific Rim“ (Pacific Rim, USA 2013)

Meine Besprechung von Guillermo del Toros „Crimson Peak“ (Crimson Peak, USA 2015)

Die TIFF-Pressekonferenz

DP/30 spricht mit Guillermo del Toro über „The Shape of Water“

Peter Travers spricht mit Guillermo del Toro über „The Shape of Water“


TV-Tipp für den 21. November: Blue Jasmine

November 21, 2017

ZDF, 00.35

Blue Jasmine (Blue Jasmine, USA 2013)

Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen

Weil Jasmine es unerträglich fände, von ihren Freundinnen aus der New Yorker Oberschicht an der Kasse gesehen zu werden, quartiert sie sich nach der Totalpleite ihres Mannes in San Francisco bei ihrer Schwester Ginger ein. Die bodenständige Ginger will Jasmine helfen, aber sie lebt in ihrer eigenen Traumwelt.

TV-Premiere eines von der Kritik abgefeierten Woody-Allen-Films vier Jahre nach dem Kinostart zu einer unmöglichen Uhrzeit.

Zum Kinostart meinte ich zu diesem um eine quirlige Schwester und etwas Wirtschaftskrimi angereichertes Quasi-Remake von Amos Kolleks „Sue – Eine Frau in New York“: „ein etwas zwiespältiges Vergnügen, trotz der gewohnt grandiosen Schauspieler und der gut gespielten Szenen, die mal mehr auf die Mike-Leigh-Schule, mal mehr in Richtung Ingmar Bergman, auch etwas in Richtung High-Society-Satire schielen und alle im Woody-Allen-Kosmos grundiert sind.“

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Cate Blanchett, Sally Hawkins, Alec Baldwin, Peter Sarsgaard, Louis C. K., Bobby Cannavale, Michael Stuhlbarg, Andrew Dice Clay, Max Casella, Alden Ehrenreich, Tammy Blanchard

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Blue Jasmine“

Moviepilot über „Blue Jasmine“

Metacritic über „Blue Jasmine“

Rotten Tomatoes über „Blue Jasmine“

Wikipedia über „Blue Jasmine“

Homepage von Woody Allen

Deutsche Woody-Allen-Seite

Meine Besprechung von Robert B. Weides „Woody Allen: A Documentary“ (Woody Allen: A Documentary, USA 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “To Rome with Love” (To Rome with Love, USA/Italien 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “Blue Jasmine” (Blue Jasmine, USA 2013)

Meine Besprechung von Woody Allens “Magic in the Moonlight” (Magic in the Moonlight, USA 2014)

Meine Besprechung von John Turturros “Plötzlich Gigolo” (Fading Gigolo, USA 2013 – mit Woody Allen)

Meine Besprechung von Woody Allens “Irrational Man” (Irrational Man, USA 2015)

Meine Besprechung von Woody Allens „Café Society“ (Café Society, USA 2016)

Woody Allen in der Kriminalakte  


Neu im Kino/Filmkritik: Miss Sloane und „Die Erfindung der Wahrheit“

Juli 7, 2017

Elizabeth Sloane ist ein Star in der Lobbyisten-Branche in Washington, D. C.. Skrupel kennt sie nicht. Wenn sie einen Auftrag übernimmt, ist der Wunsch des Auftraggebers bereits Gesetz. Deshalb freut sich die Waffenlobby über ihr Engagement gegen den von ihr abgelehnten Heaton-Harris-Bill. Das ist ein parteiübergreifender Gesetzesentwurf zur stärkeren Kontrolle des Verkaufs von Schusswaffen; – okay, im heutigen Washington ist ein solcher Gesetzesvorschlag sehr fiktiv.

Mitten während der Verhandlungen zu dem Gesetz wechselt Sloane aus für ihre Kollegen und auch für uns Zuschauer nicht nachvollziehbaren Gründen die Seiten. Sie geht mit fast ihrem gesamten Team zu einer deutlich kleineren, moralisch integeren Lobby-Firma. Ab diesem Moment kämpft sie gegen ihre früheren Arbeitgeber und Kunden.

Irgendetwas muss bei ihrem Kampf für das Gesetz allerdings schief gegangen sein. Denn am Filmanfang muss sich Elizabeth Sloane in einer öffentlichen Anhörung eines Senatsuntersuchungsausschusses verteidigen. Sie soll gegen die Verhaltensregeln für Lobbyisten verstoßen haben. Dafür könnte sie mit einem Berufsverbot bestraft werden.

Während der deutsche Titel „Die Erfindung der Wahrheit“ vieldeutig ist, gibt der Originaltitel des von „Best Exotic Marigold Hotel“-Regisseur John Madden inszenierten Films schon eine eindeutige Richtung an. „Miss Sloane“ ist er und damit ist klar, dass Elizabeth Sloane, glänzend gespielt von Jessica Chastain, im Mittelpunkt des Dramas steht, das auch einen Blick hinter die Kulissen des Lobby-Geschäfts in Washington wirft.

Die mit dem Porträt von Miss Sloane verbundene Geschichte funktioniert allerdings nur bedingt. Das beginnt mit ihrem plötzlichen Jobwechsel, der so unvermittelt kommt – Rodolfo Schmidt, der Chef der Konkurrenzfirma spricht sie nachts auf offener Straße an und gibt ihr einen Zettel, dessen Inhalt wir erst am Filmende erfahren und der sie dazu bringt, die Firma zu wechseln –, dass man bei dem Wechsel des Arbeitgebers nie glaubt, dass sie wegen ihres Gewissens die Seiten wechselte. Aber einen besseren Grund findet man nicht. So bleibt dieser Wechsel bis zum Schluss eine nicht in ihrem Charakter begründete Drehbuchidee. Auch das Komplott, das zu ihrer Ladung vor den Ausschuss führte, und Miss Sloanes genialer Plan, um ihr Ziel (oder ihre Ziele) zu erreichen, enttäuschen. Von einer Meisterstrategin wäre da mehr zu erwarten gewesen.

Unklar bleibt auch, warum das Gesetz unbedingt jetzt beschlossen werden muss; – wobei Elizabeth Sloane zuerst auf den Seiten der Verhinderer, der Status-Quo-Bewahrer, kämpft. Sie haben inen guten Grund, um gegen die jetzige Verabschiedung des Gesetzes zu kämpfen. Die Befürworter des Gesetzes, die eine stärkere Waffenkontrolle wollen, könnten mit etwas zeitlichem Abstand oder über andere Wege einfach wieder versuchen, ihr Anliegen durchzusetzen. Sie haben keine Eile. Sie müssen einfach nur einige weitere Menschen von ihrem Anliegen überzeugen. Trotzdem inszeniert Madden, nach einem Drehbuch des Debütanten Jonathan Perera, einen Kampf zwischen zwei Lobbyfirmen, in dem es um jede Stimme geht. Und für jede Lobbyfirma steht ihre Existenz auf dem Spiel. Das ist nicht besonders glaubwürdig, weil eine Lobbyfirma, wie eine Werbefirma, sich normalerweise nicht sonderlich mit ihrem Produkt identifiziert. Der zentrale Konflikt wird dann einerseits furchtbar aufgeblasen als ein weltbewegendes Gesetz, während er bei genauerer und distanzierter Betrachtung eher bedeutungslos ist. Das liegt auch daran, dass der Inhalt des Gesetzes nur oberflächlich angesprochen wird. In „Die Erfindung der Wahrheit“ geht es nicht um die Frage, ob man für oder gegen Waffenkontrolle ist. Es geht um die Arbeit und die Winkelzüge von Lobbyfirmen, die teils in der Öffentlichkeit, teils in Hinterzimmern, stattfinden.

Dieser Kampf zwischen zwei Lobbyfirmen über die Verabschiedung eines Gesetzes ist nur der Vorwand für ein verschachteltes Porträt einer sehr ambitionierten Frau in einer Männerwelt, die einen fordernden Job hat, für den sie lebt. Ein Privatleben hat sie, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, nicht. Außer man nennt den Sex im Hotelzimmer mit einem Callboy Privatleben; – aber dann könnte man auch die Pinkelpause Privatleben nennen. Und eine Erklärung für ihren Arbeitseifer gibt es auch nicht. Jesscia Chastain verleiht dieser eiskalten, zu Empathie und Mitarbeiterführung gänzlich ungeeigneten Karrierefrau, die leicht zu einer Parodie hätte werden können, dennoch eine emotionale Tiefe.

Als Porträt von „Miss Sloane“ (Originaltitel) funktioniert „Die Erfindung der Wahrheit“ gut. Als Polit-Thriller lässt einen der kühle, in den entscheidenden Momenten zu naive und zu plakative Film dann doch etwas unbefriedigt zurück. Trotz überraschender Enthüllungen und langfristig angelegter Fallen und Finten.

Die Erfindung der Wahrheit (Miss Sloane, Frankreich/USA 2016)

Regie: John Madden

Drehbuch: Jonathan Perera

mit Jessica Chastain, Mark Strong, John Lithgow, Alison Pill, Gugu Mbatha-Raw, Michael Stuhlbarg, Sam Waterston, Jake Lacey

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Die Erfindung der Wahrheit“

Metacritic über „Die Erfindung der Wahrheit“

Rotten Tomatoes über „Die Erfindung der Wahrheit“

Wikipedia über „Die Erfindung der Wahrheit“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von John Maddens Elmore-Leonard-Verfilmung „Killshot – Gnadenlose Jagd“ (Killshot, USA 2008)

Meine Besprechung von John Maddens „Eine offene Rechnung“ (The Debt, USA 2010) (ebenfalls mit Jessica Chastain)

DP/30 unterhält sich in Los Angeles im November 2016 (wenige Tage vor der US-Präsidentenwahl) mit John Madden und Jessica Chastain über den Film

Ein Publikumsgespräch mit den Schauspielern Jessica Chastain und John Lithgow, Regisseur John Madden und Autor Jonny Perera, moderiert von Jenelle Riley (Variety) (SAG-AFTRA Foudation, 5. November 2016; Ton ist am Anfang nicht so toll)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Arrival“ erzählt irgendwie nicht die „Geschichte deines Lebens“

November 29, 2016

Erinnern Sie sich an „Independence Day: Wiederkehr“? Oder irgendeinen anderen Invasions- oder Marvelfilm, in dem die Erde am Filmende regelmäßig wie ein Kinderzimmer nach einer Geburtstagsfeier aussieht? Gut.

Und jetzt stellen Sie sich das Gegenteil davon vor.

Das ungefähr ist „Arrival“. In seinem neuen Meisterwerk erzählt Denis Villeneuve, wie eine Begegnung zwischen Menschen und Außerirdischen stattfinden könnte, in der nicht von der ersten bis zur letzten Minute alles zerstört wird, sondern in dem eine Verständigung zwischen Menschheit und Aliens versucht wird. Sein Film basiert auf der mit dem Nebula Award und dem Sturgeon Award ausgezeichneten Kurzgeschichte „Geschichte deines Lebens“ (Story of your Life) von Ted Chiang.

Als Autor ist Ted Chiang nicht sonderlich produktiv. Fünfzehn Erzählungen seit 1990. Keine Romane. Dafür sammelt er Preise, wie Freiberufler Quittungen für die nächste Steuererklärung sammeln. Für die fünf Geschichten, die der Golkonda Verlag in dem Sammelband „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“, in dem auch „Geschichte deines Lebens“ enthalten ist, zusammenstellte, erhielt Chiang zehn renommierte Science-Fiction-Preise. Für Science-Fiction-Fans ist das Empfehlung genug.

In Buch und Film tauchen an zwölf verschiedenen Orten rund um den Globus außerirdische Raumschiffe auf, die nichts tun. Sie schweben einfach wenige Meter über der Erde. Während die Menschen mehr oder weniger in Panik ausbrechen, sichert das Militär die Gegend um die Raumschiffe ab. Alle fragen sich, was die Aliens wollen. Und wie die Menschen mit den schweigsamen Aliens in Kontakt treten können. Dafür fragt Colonel Weber (Forest Whitaker) im Auftrag der US-Regierung die Linguistin Louise Banks (Amy Adams) an. Ihr zur Seite steht Ian Donnelly (Jeremy Renner), ein Physiker und Mathematiker. Denn Verständigung beruht, neben der Sprache, auf den universell gültigen Regeln der Mathematik (und Physik) beruht.

Und wirklich: Banks kann sich im Raumschiff in einem von der Welt abgeschlossenem Raum, mehr ein quadratisch-brutalistischer Höhlenraum als irgendetwas, was wir aus SF-Filmen als Raumschiff kennen, mit den Heptapoden, die sie Abbott und Costello nennt, verständigen, indem die beiden Heptapoden kreisförmige Zeichen malen. Dabei erfährt sie, dass deren Sprache zyklisch aufgebaut ist. Sie also immer am Anfang eines Satzes (oder Kreises) schon das Ende des Satzes (oder Kreises) kennen. Diese Art der Sprache, jedenfalls wenn man, wie die Sapir-Whorf-Hypothese annimmt, dass Sprache Denken bestimmt, verändert auch Banks‘ Denken und ihre Sicht auf die Welt.

Unklar ist allerdings immer noch, was die Aliens wollen. Also, warum sie die Erde besuchen.

Im Mittelpunkt von „Arrival“ steht der Prozess der Verständigung mit den Aliens und damit der Prozess, der in der Realität viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Die ähnlich gelagerte, sehr sehenswerte, im Kino hoffnungslos untergegangene „Dokumentation“ „The Visit – Eine außerirdische Begegnung“ (ab dem 17. Februar 2017 auf DVD) zeigt, anhand von Interviews mit verschiedenen Fachleuten und Verantwortlichen, die bei einem solchen Ereignis die Verhandlungen führen würden, wie das in der Realität geschehen könnte. Insofern ist „Arrival“ die Spielfilmversion von „The Visit“ oder, umgekehrt, „The Visit“ die dokumentarische Ergänzung zu „Arrival“. In jedem Fall wäre genau dieser Prozess, des gegenseitigen Erlernens der Sprache, der Kommunikation miteinander und dem Versuch, herauszufinden, was die Außerirdischen auf der Erde wollen, spannend, weil wir nichts über ihre Absichten wissen. Und Missverständnisse ungeahnte Folgen haben können.

Warum Abbott und Costello zur Erde gekommen sind, wird im dritten Akt von „Arrival“ dann, notgedrungen, etwas hastig mit einigen überraschenden Drehungen und Wendungen abgehandelt, die einen zunächst etwas ratlos zurücklassen. In dem Moment empfiehlt sich die Lektüre von Ted Chiangs „Geschichte deines Lebens“, der sich ausführlich auf die Frage, wie Sprache und Denken miteinander zusammenhängen, konzentrieren kann.

Über das Ende sprechen wir am Besten beim Erscheinen der DVD des sehr sehenswerten Science-Fiction-Films, der Fragen stellt, über die man nach dem Kinobesuch noch lange diskutieren und nachdenken kann.

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Arrival (Arrival, USA 2016)

Regie: Denis Villeneuve

Drehbuch: Eric Heisserer

LV: Ted Chiang: Story of your Life, 1998 (Geschichte deines Lebens, in „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“)

mit Amy Adams, Jeremy Renner, Forest Whitaker, Michael Stuhlbarg, Mark O’Brien

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Die Vorlage

Geschichte deines Lebens“ ist mit fast sechzig Seiten die längste Geschichte des speziell für Deutschland zusammengestellte Sammelbandes „Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes“ und jede einzelne Geschichte ist sehr lesenswert und regt zum Nachdenken an. Denn die Erzählungen von Ted Chiang sind mehr philosophische Essays als traditionelle, nach dem Lehrbuch aufgebaute Geschichten (wobei Chiang der Lehrbuchstruktur schon folgt).

Nur die Fans von epischen Raumschlachten werden enttäuscht sein.

Der Sammelband enthält folgende Geschichten:

– Der Turmbau zu Babel (Tower of Babylon, Erstveröffentlichung: Omni, November 1990)

– Geschichte deines Lebens (Story of Your Life, Erstveröffentlichung: Starlight 2, 1998)

– Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (Hell is the Absence of God, Erstveröffentlichung: Starlight 3, 2001)

– Der Kaufmann am Portal des Alchemisten (The Merchant and the Alchemist’s Gate, Erstveröffentlichung: Fantasy and SF, September 2007)

– Ausatmung (Exhalation, Erstveröffentlichung: Eclipse 2, 2008)

In einem zweiten Sammelband, „Das wahre Wesen der Dinge“, veröffentlichte Golkonda dann die restlichen von Ted Chiang bis dahin veröffentlichten Geschichten.

Sollte man sich zu Weihnachten wünschen; falls man die Geschichten nicht vorher, beim Warten auf den Weihnachtsmann, lesen will.

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Ted Chiang: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

(übersetzt von molosovsky)

Golkonda, 2011

184 Seiten

14,90 Euro

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Arrival“

Metacritic über „Arrival“

Rotten Tomatoes über „Arrival“

Wikipedia über „Arrival“ (deutsch, englisch) und Ted Chiang (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Enemy“ (Enemy, Kanada/Spanien 2013)

Meine Besprechung von Denis Villeneuves „Sicario“ (Sicario, USA 2015) und der DVD und des Soundtracks

Das tolle Teaserplakat

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Ein Gespräch mit Ted Chiang zum Film, nach einer Präsentation des Films (Ich gebe mal eine allgemeine Spoiler-Warnung für alle Interviews aus.)

Ein Interview mit Drehbuchautor Eric Heisserer

und eines mit Denis Villeneuve

 


Neu im Kino/Filmkritik: „Doctor Strange“ betritt das Marvel Cinematic Universe

November 3, 2016

Gesehen in der Originalfassung in 3D im Imax – und das lohnt sich. Jedenfalls wenn man gerade in der Nähe eines Imax ist. Denn das Bild ist groß (etwa eine Stunde des Films wurde für das Imax-Kino optimiert, was zu einem wesentlich größerem Bild führt und dieses Mal funktioniert der Wechsel zwischen dem normalen Kinoformat und dem 1.9:1-Imax-Format flüssig), 3D stört nicht und die Spezialeffekte sehen verdammt gut aus.

Sie sind auch ein Problem des Films. Denn in den großen Actionszenen werden locker-flockig im „Inception“-Stil ganze Städte, Straßen und Häuserzeilen wild in alle möglichen Richtungen gefaltet oder zerschnitten und im Finale wird, eher Doctor Strange in eine andere Dimension wechselt, eine Stadt entstört. Das ist eine beeindruckende, in „Doctor Strange“ öfter wiederholte, Zirkusnummer, bei der auch immer spürbar ist, dass bei den Sprüngen zwischen den Dimensionen und Paralleluniversen niemand von den Schauspielern und Stuntmen in einer wirklich gefährlichen Situation ist.

Ein anderes Problem von „Doctor Strange“ ist, dass, wie immer bei Marvel, der Bösewicht und seine Motivation schwach sind. Dieses Mal ist der Bösewicht Kaecilius; Mads Mikkelsen, der schon ein James-Bond-Bösewicht war und demnächst in „Star Wars: Rogue One“ mitspielt, verkörpert ihn mit stoischer Mine.

Er ist, neben seinem starren, humorlosen Blick und den schwarzen Augenrändern, als Bösewicht vor allem daran erkennbar, dass er am Filmanfang zwei sehr wichtige Blätter aus einem Buch herausreißt und nebenbei den Bibliothekar bestialisch ermordet.

Das sehr, sehr wichtige Buch stand in der Bibliothek von The Ancient One (Tilda Swinton), die den titelgebenden Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) zu einem besseren Menschen und Magier erzieht. Keine leichte Aufgabe, denn Strange ist ein Geistesverwandter von Tony Stark: ein arroganter Schnösel vor dem Herrn, der wie ein Rockstar lebt und ein begnadeter Neurochirurg ist. Nach einem Autounfall (selbst verschuldet) kann er seine Hände nicht mehr bewegen. Weil sein Beruf auch seine Berufung und der Sinn seines Lebens war, ist für ihn sein jetziges Leben vollkommen sinnlos und es ist für ihn unvorstellbar, irgendeiner anderen Profession nachzugehen. Einmal Chirurg, immer Chirurg.

Als er erfährt, dass es in Kathmandu einen Ort, das Kamar-Taj, und eine Person, The Ancient One, gibt, die ihm helfen kann, macht er sich auf den Weg.

Doctor Strange“ erzählt die Origin-Story von Stephen Strange. Der von Steve Ditko erfundene Charakter hatte 1963 seinen ersten Comic-Auftritt und schon damals sah er mit dem Amulett und seinem Umhang aus wie ein aus einem Dreißiger-Jahre-“Flash Gordon“-Serial entsprungener Charakter. Heute ist er modisch vollkommen aus der Zeit gefallen. Aber Benedict Cumberbatch trägt ihn mit der augenzwinkernden Würde eines gestandenen Theaterschauspielers.

Scott Derrickson, der sich vorher vor allem im Horrorfilm austobte („Der Exorzismus von Emily Rose“, „Sinister“, „Erlöse uns von dem Bösen“) erzählt die Geschichte, wie man es von Marvel gewohnt ist, mit großem Staraufgebot (das teilweise nur wenige Szenen hat), überwältigenden Tricks (auch wenn man vieles schon so ähnlich gesehen hat) und einer ordentlichen Portion Humor, der einen über die Storylücken, die doch recht einfache Geschichte und die schwurbeligen Weisheiten von The Ancient One hinwegsehen lässt. Das liegt allerdings auch an Tilda Swinton, die diese Weisheiten verkündet als seien es Shakespeare-Verse. Sie könnte allerdings auch ein Telefonbuch vorlesen und wir wären überzeugt, einen tiefsinnig-bedeutungsvollen Text zu hören.

Letztendlich liefert „Doctor Strange“ wieder genau das, was man von einem Marvel-Film erwartet. Auch wenn, wie es sich für eine Origin-Story gehört, der Fokus auf dem Helden liegt und all die anderen Superhelden (die Avengers, die Guardians, die wie-war-noch-einmal-der-Name) pausieren müssen. Das führt dann auch zu einer angenehm kurzen Laufzeit von unter zwei Stunden.

Ach ja: selbstverständlich gibt es ein Cameo von Stan Lee und im und nach dem Abspann je eine Szene, die den nächsten Film anteasert.

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Doctor Strange (Doctor Strange, USA 2016)

Regie: Scott Derrickson

Drehbuch: Scott Derrickson, C. Robert Cargill (nach einer Geschichte von Jon Spaihts, Scott Derrickson und C. Robert Cargill

LV: Charakter von Steve Ditko

Mit Benedict Cumberbatch, Tilda Swinton, Chiwetel Ejiofor, Rachel McAdams, Michael Stuhlbarg, Mads Mikkelsen, Benedict Wong, Benjamin Bratt, Scott Adkins

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Doctor Strange“

Metacritic über „Doctor Strange“

Rotten Tomatoes über „Doctor Strange“

Wikipedia über „Doctor Strange“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Scott Derricksons „Erlöse uns von dem Bösen“ (Deliver us from Evil, USA 2014)


DVD-Kritik: „Bauernopfer – Spiel der Könige“ zwischen Bobby Fisher und Boris Spassky

September 18, 2016

Zum Kinostart schrieb ich ziemlich begeistert unter der Überschrift „’Bauernopfer – Spiel der Könige‘, Kampf der Systeme 1972 in Island“, die ich deshalb jetzt nicht wieder verwenden konnte:

Schach im Fernsehen? Heute gibt es so etwas vielleicht in irgendeinem Sportkanal, der halt sein Programm füllen muss. Früher war Schach auch nicht das Material für die samstägliche Sportschau. Aber 1972 gab es das Schachduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky, das auch im Fernsehen übertragen wurde und eine weltweite Schachbegeisterung auslöste.

Bauernopfer – Spiel der Könige“ von Edward Zwick („Blood Diamond“), nach einem straffen Drehbuch von Steven Knight („Eastern Promises“, „Madama Mallory und der Duft von Curry“), erzählt jetzt, nah an den Fakten, die Geschichte von diesem Schachduell, das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, auch ein Kampf der Systeme war. Und es ist ein Biopic über Bobby Fischer (1943 – 2008), das sich auf die 1972er Schach-Weltmeisterschaft in Reykjavik, Island, und die Jahre davor konzentriert. Das spätere Leben von Bobby Fischer, das, höflich formuliert, nicht unproblematisch war, wird dann in einigen Texttafeln abgehandelt, während wir Bobby Fischer auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn verlassen.

Bis dahin erleben wir einen spannenden Film über einen hochintelligenten Menschen, der schon früh ein erfolgreicher Schachspieler war und der sein ganzes Leben auf das Spiel konzentrierte, weshalb er auch gegen jede Ablenkung, egal ob echt oder nur gefühlt, harsch vorging. Schon in den Sechzigern war er in den USA als Schachgenie bekannt. Seine Anti-Establishment-Haltung half. Er wird, nachdem seine Mutter als Teil der jüdisch-kommunistischen Gemeinschaft in Brooklyn in den Fünfzigern vom FBI überwacht wurde, zunehmend paranoid. Er fühlt sich ständig beobachtet. Er fühlt sich von Kameras, die damals lauter als heute waren, und dem Publikum in seiner Konzentration gestört und er setzte bei den Turnieren seine Wünsche nach Ruhe und einer entsprechenden Gestaltung der Räume gnadenlos durch.

Gleichzeitig wird das Spiel und die 1972er Schach-Weltmeister zu einem Duell der Systeme hochgejazzt. So als könnte der Kalte Krieg am Schachbrett besiegt werden (Sylvester Stallone tat es einige Jahre später in „Rocky IV – Der Kampf des Jahrhunderts“ im Boxring). Damals war Fischer gut genug, um die jahrzehntelange Dominanz der Sowjetunion im Schach brechen zu können. Außerdem waren, nach einem erzürnten Artikel von Fischer, die Regeln, die von der Sowjetunion zu ihrem Vorteil ausgelegt wurden, geändert worden. Jetzt hatte Fischer eine Chance, den Titel zu gewinnen.

Edward Zwick inszenierte diese Geschichte als Schauspielerkino, das sich auf das Drehbuch und sein Ensemble verlässt. „Spider Man“ Tobey Maguire überzeugt als zunehmend paranoides Schachgenie Bobby Fischer. Liev Schreiber als von der Sowjetunion geförderter Schachspieler Boris Spassky, der am Schachbrett die Überlegenheit des Kommunismus demonstrieren soll, ist ein ebenbürtiger Gegner, der fast während des gesamten Film nichts sagt. Gerade dadurch wirkt er noch bedrohlicher.

Am Ende der faszinierenden Charakterstudie hat man zwar nichts gelernt, was einem beim nächsten Schachspiel hilft (soweit man überhaupt die Bedeutung der Schachfiguren kennt), aber man hat einen ebenso spannenden, wie lehrreichen Ausflug in die Vergangenheit gemacht, als jeder wusste, wer die Guten und wer die Bösen sind.

Die DVD-Ausgabe enthält, wie die Blu-ray, als Bonusmaterial lediglich ein dreiminütiges 08/15-Werbebeaturette. Für ein Biopic ist das arg wenig. Denn neben dem normalen Making-of zum Film hätte sich natürlich auch eine Doku zu den wahren Hintergründen angeboten.

Bauernopfer – Spiel der Könige“ ist ein Topfilm.

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Bauernopfer – Spiel der Könige (Pawn Sacrifice, USA 2014)

Regie: Edward Zwick

Drehbuch: Steven Knight

mit Tobey Maguire, Liev Schreiber, Peter Sarsgaard, Michael Stuhlbarg, Edward Zinoviev, Alexandre Gorchkov, Lily Rabe, Robin Weigert, Seamus Davey-Fitzpatrick, Aiden Lovekamp, Sophie Nelisse

DVD

Studiocanal

Technische Angaben

Bild: 2,40:1 anamorph

Ton: Deutsch, Englisch (5.1 Dolby Digital)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Featurette: Bobby Fischer: Der Kalte Krieg und das Schachspiel des Jahrhunderts, Wendecover

Länge: 110 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Bauernopfer“

Metacritic über „Bauernopfer“

Rotten Tomatoes über „Bauernopfer“

Wikipedia über „Bauernopfer“ (englisch)

History vs. Hollywood über „Bauernopfer“ (der Faktencheck)

Meine Besprechung von Edward Zwicks „Bauernopfer – Spiel der Könige“ (Pawn Sacrifice, USA 2014)


TV-Tipp für den 14. September: A Serious Man

September 14, 2016

Eins Plus, 22.15

A Serious Man (USA 2009, Regie: Joel Coen, Ethan Coen)

Drehbuch: Joel Coen, Ethan Coen

USA, Mittlerer Westen, 1967: Über einen biederen, jüdischen Physikprofessor bricht das Unheil herein und er fragt sich „Warum ich?“.

Die Kritik war begeistert von dem Film der Coen-Brüder, den ich etwas zäh fand. Aber bibelfeste Zuschauer können einiges entdecken.

mit Michael Stuhlbarg, Richard Kind, Fred Melamed, Sari Lennick, Aaron Wolf, Jessica McManus

Wiederholung: Donnerstag, 15. September, 03.35 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Film-Zeit über “A Serious Man”

Metacritic über “A Serious Man”

Rotten Tomatoes über “A Serious Man”

Wikipedia über die Coen-Brüder (deutsch, englisch)

Drehbuch “Blood Simple” von Joel und Ethan Coen

„You know, for kids!“  – The Movies of the Coen Brothers (eine sehr umfangreiche Seite über die Coen-Brüder)

Meine Besprechung von Bill Green/Ben Peskoe/Will Russell/Scott Shuffitts „Ich bin ein Lebowski, du bist ein Lebowski – Die ganze Welt des Big Lebowski“ (I’m a Lebowski, you’re a Lebowski, 2007)

Meine Besprechung von Michael Hoffmans „Gambit – Der Masterplan“ (Gambit, USA 2012 – nach einem Drehbuch von Joel und Ethan Coen)

Meine Besprechung des Coen-Films “Inside Llewyn Davis” (Inside Llewyn Davis, USA/Frankreich  2013)

Meine Besprechung ces Coen-Films „Hail, Caesar! (Hail, Caesar!, USA/Großbritannien 2016)

Die Coen-Brüder in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: „Bauernopfer – Spiel der Könige“, Kampf der Systeme 1972 in Island

April 29, 2016

Schach im Fernsehen? Heute gibt es so etwas vielleicht in irgendeinem Sportkanal, der halt sein Programm füllen muss. Früher war Schach auch nicht das Material für die samstägliche Sportschau. Aber 1972 gab es das Schachduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky, das auch im Fernsehen übertragen wurde und eine weltweite Schachbegeisterung auslöste.

Bauernopfer – Spiel der Könige“ von Edward Zwick („Blood Diamond“), nach einem straffen Drehbuch von Steven Knight („Eastern Promises“, „Madama Mallory und der Duft von Curry“), erzählt jetzt, nah an den Fakten, die Geschichte von diesem Schachduell, das auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, auch ein Kampf der Systeme war. Und es ist ein Biopic über Bobby Fischer (1943 – 2008), das sich auf die 1972er Schach-Weltmeisterschaft in Reykjavik, Island, und die Jahre davor konzentriert. Das spätere Leben von Bobby Fischer, das, höflich formuliert, nicht unproblematisch war, wird dann in einigen Texttafeln abgehandelt, während wir Bobby Fischer auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn verlassen.

Bis dahin erleben wir einen spannenden Film über einen hochintelligenten Menschen, der schon früh ein erfolgreicher Schachspieler war und der sein ganzes Leben auf das Spiel konzentrierte, weshalb er auch gegen jede Ablenkung, egal ob echt oder nur gefühlt, harsch vorging. Schon in den Sechzigern war er in den USA als Schachgenie bekannt. Seine Anti-Establishment-Haltung half. Er wird, nachdem seine Mutter als Teil der jüdisch-kommunistischen Gemeinschaft in Brooklyn in den Fünfzigern vom FBI überwacht wurde, zunehmend paranoid. Er fühlt sich ständig beobachtet. Er fühlt sich von Kameras, die damals lauter als heute waren, und dem Publikum in seiner Konzentration gestört und er setzte bei den Turnieren seine Wünsche nach Ruhe und einer entsprechenden Gestaltung der Räume gnadenlos durch.

Gleichzeitig wird das Spiel und die 1972er Schach-Weltmeister zu einem Duell der Systeme hochgejazzt. So als könnte der Kalte Krieg am Schachbrett besiegt werden (Sylvester Stallone tat es einige Jahre später in „Rocky IV – Der Kampf des Jahrhunderts“ im Boxring). Damals war Fischer gut genug, um die jahrzehntelange Dominanz der Sowjetunion im Schach brechen zu können. Außerdem waren, nach einem erzürnten Artikel von Fischer, die Regeln, die von der Sowjetunion zu ihrem Vorteil ausgelegt wurden, geändert worden. Jetzt hatte Fischer eine Chance, den Titel zu gewinnen.

Edward Zwick inszenierte diese Geschichte als Schauspielerkino, das sich auf das Drehbuch und sein Ensemble verlässt. „Spider Man“ Tobey Maguire überzeugt als zunehmend paranoides Schachgenie Bobby Fischer. Liev Schreiber als von der Sowjetunion geförderter Schachspieler Boris Spassky, der am Schachbrett die Überlegenheit des Kommunismus demonstrieren soll, ist ein ebenbürtiger Gegner, der fast während des gesamten Film nichts sagt. Gerade dadurch wirkt er noch bedrohlicher.

Am Ende der faszinierenden Charakterstudie hat man zwar nichts gelernt, was einem beim nächsten Schachspiel hilft (soweit man überhaupt die Bedeutung der Schachfiguren kennt), aber man hat einen ebenso spannenden, wie lehrreichen Ausflug in die Vergangenheit gemacht, als jeder wusste, wer die Guten und wer die Bösen sind.

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Bauernopfer – Spiel der Könige (Pawn Sacrifice, USA 2014)

Regie: Edward Zwick

Drehbuch: Steven Knight

mit Tobey Maguire, Liev Schreiber, Peter Sarsgaard, Michael Stuhlbarg, Edward Zinoviev, Alexandre Gorchkov, Lily Rabe, Robin Weigert, Seamus Davey-Fitzpatrick, Aiden Lovekamp, Sophie Nelisse

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Bauernopfer“

Metacritic über „Bauernopfer“

Rotten Tomatoes über „Bauernopfer“

Wikipedia über „Bauernopfer“ (englisch)

History vs. Hollywood über „Bauernopfer“ (der Faktencheck)


Die ersten 73 Minuten der 93-minütigen Doku „Zug um Zug in den Wahnsinn“ (The World against Bobby Fischer, 2011) von Liz Garbus über Bobby Fischer


Neu im Kino/Filmkritik: „Trumbo“, ein grandioses Biopic über einen Hollywood-Autor mit Berufsverbot

März 14, 2016

Er schrieb die Drehbücher für einige heute immer noch gern gesehene Filmklassiker, wie „Ein Herz und eine Krone“, „Spartacus“ und „Papillon“. Er schrieb auch die Drehbücher für „Gefährliche Leidenschaft“ (Gun Crazy), „Exodus“, „El Perdido“. „Einsam sind die Tapferen“, „Ein Mann wie Hiob“ und, seine einzige Regiearbeit, „Johnny zieht in den Krieg“, die seltener im Fernsehen gezeigt werden.
Für „Ein Herz und eine Krone“ und „Roter Staub“ (The brave one) erhielt er den Drehbuchoscar, aber weil er damals auf der Schwarzen Liste stand und deshalb weder unter seinem Namen noch unter Pseudonym arbeiten durfte, schrieb er die Bücher für deutlich weniger Geld als er es gewohnt war, nannte einen Strohmann als Autor und war bei der Preisverleihung nicht dabei. Denn Dalton Trumbo (9. Dezember 1905 – 10. September 1976) war eines der prominentesten Opfer von Senator McCarthy, der damals alle jagte, die er für Kommunisten hielt. Kommunismus war nach dem Zweiten Weltkrieg unamerikanisch und, um eine Unterwanderung der amerikanischen Gesellschaft zu verhindern, mussten alle, die auch nur verdächtig waren, Kommunisten zu sein, verfolgt werden. McCarthy war mit seiner Paranoia für eine in den USA ziemlich einmalige Hexenjagd verantwortlich, die auch in dem ebenfalls sehenswertem SW-Film „Good Night, and Good Luck“ (USA 2005) thematisiert wird (oder lest den Wikipedia-Artikel).
Dalton Trumbo war, im Gegensatz zu anderen McCarthy-Opfern, sogar seit 1943 Mitglied der Kommunistischen Partei, was damals vor allem bedeutete, dass er sich für Arbeiter- und Bürgerrechte engagiert und den intellektuellen Schlagabtausch genoss. Seine Tochter Niki Trumbo sagt im Presseheft: „Trumbo ist immer noch als Kommunist bekannt, aber den Menschen ist wohl nicht so richtig klar, dass er vor allem ein Patriot war. In den späten Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren war er ein Kommunist, als das noch bedeutete, dass man für die Arbeiter eintrat und sich gegen die Jim-Crow-Mentalität stellte, dass man sich für die Bürgerrechte der afroamerikanischen Bevölkerung einsetzte. Es hatte nichts mit Russland zu tun, dafür aber mit der Überzeugung, wie man ein bereits großartiges Land noch besser machen könnte.“
In seinem Film „Trumbo“ setzt Jay Roach diesem Mann ein filmisches Denkmal, das man so nicht erwartet hätte. Immerhin ist Jay Roach bei uns vor allem für die „Austin Powers“-Filme und die Komödien „Meine Braut, ihr Vater und ich“ und die Fortsetzung „Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich“ bekannt. Er inszenierte aber auch den mit drei Golden Globes ausgezeichneten, hochkarätig besetzten HBO-Film „Game Change – Der Sarah-Palin-Effekt“. „Trumbo“-Drehbuchautor John McNamara schrieb bislang nur fürs Fernsehen; für Serien wie „Superman – Die Abenteuer von Lois & Clark“, „In Plain Sight“ und, aktuell, „The Magicians“ und „Aquarius“. Auch „Trumbo“ hat einen leichten, nicht unangenehmen TV-Touch mit seinen vielen Innenaufnahmen, seinen wenigen Schauplätzen, der Betonung des Dialogs und der straffen Erzählweise, die nah am klassischen Hollywood-Kino ist, als die Geschichte im Vordergrund stand und die Kamera meist unauffällig im Hintergrund blieb. Diese Erzählweise ergänzt angenehm die zwischen 1947 und 1970 spielende Filmgeschichte. Wobei sich der Film auf die Tage und Wochen vor Trumbos Berufsverbot nach seiner Anhörung vor dem HUAC (Komitee für unamerikanische Umtriebe), seinen Versuchen, die Familie in den Fünfzigern zu ernähren und er dabei mit dem B-Movie-Produzenten Frank King als Auftraggeber ein kleines, subversives Imperium von Autoren errichtete, die unter Pseudonymen, trotz des Verbots Drehbücher im Akkord schrieben, und seiner Rehabilitierung mit den Drehbüchern zu Stanley Kubricks „Spartacus“ (wobei Hauptdarsteller Kirk Douglas die treibende Kraft war) und Otto Premingers „Exodus“, die beide zeitgleich entstanden und 1960 in den Kinos anliefen. Mit „Spartacus“ endete die Ära der Schwarzen Liste.
„Trumbo“ überzeugt als historisch gesättigtes, hochkarätig besetztes Schauspielerkino, garniert mit einigen zeitgenössischen Aufnahmen und mit einer klaren, auch heute noch gültigen Botschaft. Es ist auch das ernste Gegenstück zur quietschbunten Hollywood-Nummernrevue „Hail, Caesar!“ der Coen-Brüder, die ebenfalls in den fünfziger Jahren in Hollywood spielt.
Jay Roach meint zu seinem Film: „Dalton Trumbo war ein amerikanischer Patriot, aber seine Verteidigung der Redefreiheit machte ihn in den Augen mancher Leute zum Verräter. Mein Film stellt eine entscheidende Frage: Wie sind wir als Land an einen Punkt gekommen, an dem es richtig erschien, jemanden wie Trumbo ins Gefängnis zu stecken und daran zu hindern, seinen Beruf als Autor auszuüben? Diese Frage ist wichtig in einer Zeit, in der unser Land stärker gespalten ist, als ich es in meinem Leben jemals erlebt habe. Es geht um fundamentale Dinge und wir stellen die Frage, wie wir als Land weitermachen wollen. Redefreiheit ist leicht verteidigt, wenn wir Dinge aussprechen, die nicht anecken. Aber die Bill of Rights wurde entworfen, um Menschen zu beschützen, die Dinge sagen, die unbequem sind. Trumbo hat es immer und immer wieder gesagt. Es ist die Essenz des demokratischen Experiments.“

Trumbo - Plakat
Trumbo (Trumbo, USA 2015)
Regie: Jay Roach
Drehbuch: John McNamara
LV: Bruce Cook: Trumbo, 1977
mit Bryan Cranston, Diane Lane, Helen Mirren, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Louis C. K., David James Elliott, Elle Fanning, John Goodman, Michael Stuhlbarg, Alan Tudyk, Dan Bakkedahl, Roger Bart, Christian Berkel
Länge: 125 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Englische Homepage zum Film
Moviepilot über „Trumbo“
Metacritic über „Trumbo“
Rotten Tomatoes über „Trumbo“
Wikipedia über „Trumbo“ (deutsch, englisch) und über Dalton Trumbo (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Steve Jobs“, Michael Fassbender, Danny Boyle und Aaron Sorkin

November 13, 2015

Ein Biopic über Steve Jobs, den 2011 verstorbenen Gründer und langjährigen Geschäftsführer von Apple und, später, Pixar Animation Studios? Uh, muss nicht unbedingt sein.
Ein Biopic über Steve Jobs, nach einem Drehbuch von Aaron Sorkin, inszeniert von Danny Boyle? Das ist etwas ganz anderes. Sorkin schrieb auch das Drehbuch für „The Social Network“, David Finchers galligen Film über Facebook. Und Danny Boyle hat noch keinen wirklich schlechten Film gemacht.
Sorkin schrieb für „Steve Jobs“ dann auch kein gewöhnliches Biopic. Er konzentrierte sich in seinem 182-seitigem Drehbuch (hoffentlich bald online) auf drei für Steve Jobs wichtige Produktpräsentationen, die er zu einem Porträt von Steve Jobs verdichtete.
Es sind die Präsentation des ersten Macintosh-Computers 1984. Diese Präsentation ist, im Gegensatz zu den nächsten beiden Präsentation, auch an dem Ort gedreht, an dem sie in der Realität stattfand: dem Flint Auditorium im De Anza Community College in Cupertino. Bei dieser Präsentation sollte der Computer nach Jobs‘ Willen unbedingt sprechen. Was aber nach Meinung des Programmiers nicht gehen werde. Eine Ex-Freundin, mit der Jobs eine von ihm nicht anerkannte Tochter hat, will Geld von ihm. Und es gibt noch einige weitere Kleinigkeiten, die nicht so laufen, wie Jobs es gerne hätte, weil die Realität kein Binärcode ist.
1988 folgt, als zweiter Akt, die Präsentation des perfekt gestylten NeXt-Würfelcomputers im San Francisco Opera House, mit dem Jobs, nachdem er Apple verlassen hatte, mit seinem eigenen Unternehmen durchstarten wollte. Wieder begegnen wir den Menschen, die schon vor der ersten Präsentation dabei waren. Wieder werfen sich die Figuren unangenehme Wahrheiten an den Kopf. Es sind scharfzüngige Dialoge, die so in der Wirklichkeit niemals stattfinden.
Zehn Jahre später, 1998, folgt der dritte Akt. Jobs ist wieder Geschäftsführer von Apple und er will in wenigen Minuten den ersten iMac in der Davies Symphony Hall in San Francisco präsentieren. Auch vor dieser Präsentationen konfrontieren ihn Freunde, Geschäfspartner, Feinde und seine Familie mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Vorwürfen. Unter diesem Druck werden Steve Jobs und sein Umfeld plastisch, dreidimensional und erfahrbar als Menschen. Sorkin verdichtete dabei die wahren Ereignisse in einer hochgradig stilisierten Theatersituation in der Worte Waffen sind.
Danny Boyle inszenierte das Geschehen, mit wenigen, kurzen Rückblenden, als einen Rausch in drei ungefähr gleich langen Akten, in denen er sich stilistisch der Optik der damaligen Zeit anpasste. Es beginnt, gedreht auf 16-mm-Filmmaterial, also mit dem körnigen Look des Siebziger-Jahre-New-Hollywood-Kinos, geht über 35-mm-Film und endet, digital gedreht, in den Visionen der durchgestylten, verspiegelten Bürowelten der Jahrtausendwende und den endlosen visuellen Tricks, die jetzt so einfach möglich sind.
Michael Fassbender, der Steve Jobs spielt, fügt mit dieser Rolle seinem Oeuvre beeindruckender Charakterstudien eine weitere hinzu. Auch die anderen Schauspieler – wie Kate Winslet als Jobs‘ Vertraute Joanna Hoffman, Seth Rogen als Apple-Mitgründer Steve Wozniak und Jeff Daniels als Apple CEO John Sculley – überzeugen.
Mit „Steve Jobs“ inszenierte Danny Boyle grandioses Schauspielerkino, in dem Steve Jobs nicht besonders gut wegkommt. Aber Jobs wurde ja nicht so bekannt, weil er ein Charmebolzen und liebevoller Familienvater war.
Am Ende des zweistündigen Films hat man einiges gelernt und einen Egomanen kennengelernt, dessen Talent als Verkäufer ungleich größer war als sein Talent als Mensch.
„Steve Jobs“ ist ein auf jeder Ebene faszinierender Film, der gerade wegen der Freiheiten, die er sich nimmt, wahrscheinlich Steve Jobs näher kommt als ein biederes Biopic. In jedem Fall ist es der bessere Film und ich bin mir sicher, dass Aaron Sorkins Skript demnächst auf einigen Bühnen gespielt wird.

Steve Jobs - Plakat

Steve Jobs (Steve Jobs, USA 2015)
Regie: Danny Boyle
Drehbuch: Aaron Sorkin
LV: Walter Isaacson: Steve Jobs, 2011 (Steve Jobs)
mit Michael Fassbender, Kate Winslet, Seth Rogen, Jeff Daniels, Michael Stuhlbarg, Katherine Waterston, Perla Haney-Jardine, John Ortiz
Länge: 123 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Steve Jobs“
Moviepilot über „Steve Jobs“
Metacritic über „Steve Jobs“
Rotten Tomatoes über „Steve Jobs“
Wikipedia über „Steve Jobs“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „Steve Jobs“
Meine Besprechung von Danny Boyles „Trance – Gefährliche Erinnerung“ (Trance, GB 2013)

Ein Filmgespräch mit Danny Boyle und Aaron Sorkin

Ein Filmgespräch mit ungefähr allen Verantwortlichen

Ein Gespräch mit Aaron Sorkin über den Film


Neu im Kino/Filmkritik: Woody Allen und „Blue Jasmine“ Cate Blanchett

November 8, 2013

 

Unseren jährlichen Woody Allen gib uns heute. Nach der Ansichtskarte „To Rome with Love“ geht es heuer nach San Francisco, aber außer dem sonnigen Wetter ist nichts sonnig in seinem neuen Film „Blue Jasmine“. Denn es geht wieder, mit einer Protagonistin, in Richtung Ingmar Bergman; also düster, existenzialistisch, introvertiert, aber dank des dieses Mal ebenfalls vorhandenen Woody-Allen-Humors, nicht so bleiern wie in seinen ersten Bergman-Verehrungen „Innenleben“ (Interiors) und „September“.

Im Mittelpunkt von „Blue Jasmine“ steht die fast ohne Unterbrechung redende traurige Jasmine (Cate Blanchett), die nach San Francisco zu ihrer Schwester (also nicht biologisch, sie wurden beide adoptiert und von der gleichen Mutter groß gezogen) in deren kleine Wohnung zieht. Denn in New York war Jasmine an das mondäne Leben der Upper Class gewöhnt, bis die Polizei die Geschäfte ihres Mannes Hal (Alec Baldwin) überprüfte und ihn als Betrüger (Remember Bernard Madoff?) entlarvte. Jasmine verlor dabei ebenfalls alles und weil sie es für unerträglich hält, wenn ihre früheren Freundinnen sie jetzt als Verkäuferin sehen müssen, zog sie zu Ginger (Sally Hawkins). Die Schwester nimmt sie auf, auch wenn sie und ihr Ex-Mann Augie (Andrew Dice Clay) von Jasmines Mann um ihr gesamtes Vermögen betrogen wurden. Sie versucht Jasmine zu helfen, stellt sie ihren Freunden vor, die Jasmine alle für unerträglich primitiv hält, und verschafft ihr eine Arbeit, die Jasmine, die noch nicht einmal einen Studienabschluss hat, für vollkommen unter ihrer Würde hält. Die lebensuntüchtige Jasmine kann und will ihre Situation einfach nicht wahrhaben. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, in der der schöne Schein und damit verbundene Selbsttäuschung alles sind.

Außerdem ist sie seelisch labil, führt Selbstgespräche und erinnert sich immer wieder an ihr besseres Leben, das von Woody Allen bruchlos in die in San Francisco spielende Geschichte hineingeschnitten wird. Das Stilmittel illustriert anfangs schön Jasmines Geisteszustand, aber mit der Zeit – auch weil die Erinnerungen scheinbar beliebig kommen – nervt es. Denn wir müssen nicht zehnmal auf die gleiche Weise demonstriert bekommen, dass Jasmine ein Realitätsproblem hat.

Gleichzeitig wirkt Jasmines Abstieg wie ein Eins-zu-Eins-Remake von Amos Kolleks „Sue – Eine Frau in New York“, ergänzt um Allenismen und, als Spiegelbild zu Jasmines Selbstverleugnung, die Geschichte der sehr bodenständigen Schwester Ginger, ihres bodenständigen Freundes, seiner bodenständigen Freunde und ihres bodenständigen Ex-Mannes, der bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnt, dass Hal ein Betrüger sei, der sie um ihr Geld brachte; was man allerdings schon nach dem zweiten Mal begriffen hat. Und einer Abrechnung mit dem Finanzkapitalismus, der von Hal, einem Betrüger und Schlawiner, dessen Vermögen auf Lug, Trug und Blendwerk aufgebaut ist, verkörpert wird.

Und so ist „Blue Jasmine“ dann doch ein etwas zwiespältiges Vergnügen, trotz der gewohnt grandiosen Schauspieler und der gut gespielten Szenen, die mal mehr auf die Mike-Leigh-Schule, mal mehr in Richtung Ingmar Bergman, auch etwas in Richtung High-Society-Satire schielen und alle im Woody-Allen-Kosmos grundiert sind.

Blue Jasmine - Plakat

Blue Jasmine (Blue Jasmine, USA 2013)

Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen

mit Cate Blanchett, Sally Hawkins, Alec Baldwin, Peter Sarsgaard, Louis C. K., Bobby Cannavale, Michael Stuhlbarg, Andrew Dice Clay, Max Casella, Alden Ehrenreich, Tammy Blanchard

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

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Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Blue Jasmine“

Moviepilot über „Blue Jasmine“

Metacritic über „Blue Jasmine“

Rotten Tomatoes über „Blue Jasmine“

Wikipedia über „Blue Jasmine“

Homepage von Woody Allen

Deutsche Woody-Allen-Seite

Meine Besprechung von Robert B. Weides „Woody Allen: A Documentary“ (Woody Allen: A Documentary, USA 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “To Rome with Love” (To Rome with Love, USA/Italien 2012)

Woody Allen in der Kriminalakte  

 


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