Als vor zwanzig Jahren Jonathan Lethems Noir-Krimi „Motherless Brooklyn“ erschien wurde gleich über eine Verfilmung gesprochen. Denn Lethems geradlinige Kriminalgeschichte voller liebgewonnener Klischees eignet sich vorzüglich dafür. Es dauerte dann doch zwanzig Jahre und der Film hat wenig mit der Vorlage zu tun. Norton verlegte die Geschichte von den späten Neunzigern in die fünfziger Jahre und er erfand einen vollkommen neuen Kriminalfall. Nur der Held und der Grund für seine Ermittlungen blieben gleich.
Wer jetzt aber denkt, dass Jonathan Lethem in Interviews Gift und Galle über die Verfälschung seines literarischen Meisterwerks speit, irrt sich. Er äußerte sich wohlwollend über den Film und er weist darauf hin, dass Buch und Film zwei verschiedene Sachen sind, die eigenen Regeln gehorchen.
Im Roman wird Lionel Essrogs Chef Frank Minna ermordet. Minna zog ihn und einige andere Waisenkinder groß, indem er sie immer wieder für sich arbeiten ließ. Zuletzt als „Privatdetektive“. Dabei waren ihre Aufträge meistens mehr, selten weniger halbseiden. Jetzt sollen sie Minna beschützen, während er sich in einem Apartmentzimmer mit einem Auftraggeber trifft. Das Treffen gerät aus dem Ruder. Minna wird angeschossen und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Essrog und seine Kollegen haben keine Ahnung, wer der Täter ist.
Essrog beginnt den Täter zu suchen. Dabei versucht er aus seinen Beobachtungen und Frank Minnas rätselhaften letzten Worten eine Spur zum Täter zu finden.
Im Buch bewegen Essrog und die anderen Minna Men sich durch das heutige Brooklyn wie klassische Hardboiled-Dicks. Nur ist halt nicht mehr 1950 und sie sind alle keine Sam Spades und Philip Marlowes, sondern mäßig begabte Waisenkinder. Sie sind Handlanger, die in eine Geschichte hineinstolpern, die zu groß für ihre geistigen Fähigkeiten ist.
Außerdem leidet Ich-Erzähler Lionel Essrog am Tourette-Syndrom.
Edward Norton, der das Drehbuch schrieb, die Regie führte und die Hauptrolle übernahm, verlegt die Geschichte von der Gegenwart in die das New York der späten fünfziger Jahre und damit in die Zeit des klassischen Noirs. Damit erscheinen die Minna Men und ihr Verhalten nicht mehr anachronistisch.
Gleichzeitig erfand Norton einen Fall, der deutlich von Roman Polanskis „Chinatown“ beeinflusst ist. Nur dass es dieses Mal um einen Bauskandal aus New York geht.
Moses Randolph (Alec Baldwin) ist ein skrupelloser Baumogul und Teilzeitpolitiker, der mit seinem politischen Amt seine Bauprojekte fördert. Dazu gehört die Zerstörung von von armen, hauptsächlich Schwarzen bewohnten Wohnvierteln. Anschließend baut er dort moderne Mietwohnungen, die für Schwarze nicht bezahlbar sind. Oder er baut eine Schnellstraße. Er hat sich die Stadt zur Beute gemacht und verdient mächtig daran.
Baldwins Figur ist am deutlichsten von Robert Moses inspiriert. Der Stadtplaner entwarf das Gesicht des heutigen New Yorks.
Dieser sich tief in die Stadtgeschichte von New York hineingrabende Plot hat mit Lethems Plot nichts zu tun.
Mit gut zweieinhalb Stunden ist der Film deutlich zu lang geraten. Es ist eine Länge, die vor allem die Eitelkeit des Hauptdarstellers befriedigt, der mit seiner Performance überdeutlich auf einen Oscar zielt.
Für die anderen Schauspieler bleiben da nur noch Nebenrollen. Bruce Willis, der Essrogs Mentor Frank Minna spielt, verschwindet aus dem Film genauso schnell wie aus dem Buch. Nach ein paar Minuten Minuten ist er tot. Danach taucht er noch einige Male in Flashbacks und kurzen Traumszenen, in denen er Essrog kluge Ratschläge gibt, auf. Damit reiht sich diese Rolle vom Umfang her mühelos in Bruce Willis‘ Spätwerk ein. Immerhin tritt er dieses Mal in einem besseren Film auf.
Alec Baldwin, Willem Dafoe und Gugu Mbatha-Raw überzeugen in ihren wenigen, aber wichtigen Auftritten. Gerade Baldwins erster Auftritt ist sehr gelungen inszeniert.
Trotzdem ist „Motherless Brooklyn“ vor allem eine zu lang geratene Fleißarbeit. Noir-Motive werden zitiert, die bekannten Plot-Points mit den vertrauten Figuren abgehandelt. Nur der Protagonist, der Möchtegern-Privatdetektiv Lionel Essrog, fällt mit seiner Störung und den damit verbundenen Macken aus dem Rahmen. Norton präsentiert das überzeugend als ein Period-Piece.
So ist „Motherless Brooklyn“ ein Noir, der weniger Interesse am Krimiplot und dem überschaubar kompliziertem Mordkomplott, als am Ausstellen der schauspielerischen Fähigkeiten von Edward Norton hat.
Motherless Brooklyn (Motherless Brooklyn, USA 2019)
Regie: Edward Norton
Drehbuch: Edward Norton
LV: Jonathan Lethem: Motherless Brooklyn, 1999 (Motherless Brooklyn)
mit Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Willem Dafoe, Bruce Willis, Ethan Suplee, Cherry Jones, Boby Cannavale, Dallas Roberts, Josh Pais, Radu Spinghel, Michael Kenneth Williams, Leslie Mann
Länge: 145 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die Vorlage
(lesenswert und ganz anders als die Verfilmung)
Jonathan Lethem: Motherless Brooklyn
(übersetzt von Michael Zöllner)
Tropen Verlag, 2019
376 Seiten
9, 95 Euro
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Deutsche Erstausgabe
Tropen Verlag, 2001
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Originalausgabe
Motherless Brooklyn
Doubleday, New York 1999
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Neu von Jonathan Lethem
Wenige Tage vor dem Kinostart von „Motherless Brooklyn“ erschien die deutsche Ausgabe von Jonathan Lethems Kurzgeschichtensammlung „Alan, der Glückspilz“. Die neun Geschichte richten sich dabei nicht an den Lethem-Neueinsteiger. Der sollte besser mit einem seiner Romane, wie „Motherless Brooklyn“, beginnen. Die Kurzgeschichten sind Stilübungen, Skizzen, Momentaufnahmen, Ideen und auch Was-zur-Hölle-hat-er-sich-dabei-gedacht?-Texte. Mal mehr, mal weniger absurd, mal mehr, mal weniger in unserer Wirklichkeit spielend.
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Jonathan Lethem: Alan, der Glückspilz
(übersetzt von Johann Christoph Maass)
Tropen, 2019
176 Seiten
20 Euro
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Originalausgabe
Lucky Alan and other stories
Doubleday, New York 2015
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Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Moviepilot über „Motherless Brooklyn“
Metacritic über „Motherless Brooklyn“
Rotten Tomatoes über „Motherless Brooklyn“
Wikipedia über „Motherless Brooklyn“ (deutsch, englisch)
Perlentaucher über den Roman „Motherless Brooklyn“
Book Marks über den Roman „Motherless Brooklyn“
Wikipedia über Jonathan Lethem (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Jonathan Lethems „Der wilde Detektiv“ (The feral detective, 2018)