Neu im Kino/Filmkritik: „Old“ – ein Tag am Strand

Juli 30, 2021

Ich fand M. Night Shyamalans neuen Film „Old“ gelungen. Bevor ich das genauer erkläre, sollte ich vielleicht verraten, was „Old“ nicht ist. Wer „Old“ mit den Erwartungen des traditionellen Hollywood-Erzählkinos und den Hollywood-Plotmodellen ansieht, wird wenig mit dem Horrorfilm anfangen können. Er hat keinen eindeutigen Protagonisten. Wer nach Unplausibilitäten sucht, wird viele finden. Die Erklärung ist, nun, logisch betrachtet ziemlich fantastisch oder, je nachdem, wie kritisch man darüber nachdenkt, einfach bescheuert. Aber immerhin liefert Shyamalan einen nachvollziehbaren Grund für die Leiden seiner Figuren. In der Vorlage, dem Comic „Sandburg“ von Pierre Oscar Lévy und Frederik Peeters, wird zugunsten eines Warten auf den Tod darauf verzichtet. Ansonsten hält Shyamalan sich in seiner Interpretation erstaunlich nah an den Plot der Vorlage.

Und wer in einen Shyamalan-Film nur wegen des Twists hineingeht, wird auch enttäuscht werden. Denn diesen Twist gibt es nicht. Es ist, soviel kann verraten werden, eher eine B-Picture-Auflösung oder die Enttarnung des Mörders am Ende eines Rätselkrimis. Es ist also keine Auflösung, die, wie in „The sixth Sense“, alles vorher gesehene in einem vollkommen anderen Licht erscheinen lässt. Und, im Gegensatz zu seinen vorherigen Filmen, gibt es dieses Mal auch keine Superhelden oder vermeintlichen Superhelden. In „Old“ gibt es nur ganz normale Menschen ohne irgendwelche fantastischen Eigenschaften.

In „Old“ geht es um ein Thema, das im Rahmen einer albtraumhaften Situation durchgespielt wird.

Während des Urlaubs in einem malerisch abgelegen gelegenem Luxusressort empfiehlt der Hotelmanager den Eheleuten Guy und Prisca Capa und ihren beiden Kindern, dem sechsjährigen Trent und der elfjährigen Maddox, den Besuch einer kleinen, versteckten Bucht.

Dorthin begleitet werden sie von einer anderen Familie, die aus einem Arzt (mit, wie wir später erfahren, psychischen Problemen), seiner Mutter, seiner deutlich jüngeren, auf ihr Aussehen bedachten Frau und ihrer sechsjährigen Tochter.

In der Bucht treffen sie auf MID SEIZED SEDAN. Der Rapper wartet auf seine Freundin. Sie ist in der Nacht hinausgeschwommen. Ihre Leiche wird im Lauf des Tages angespült.

Etwas später stößt ein weiteres Paar zu ihnen. Es sind ein patenter Krankenpfleger und seine Frau, eine Psychologin, die auch Epileptikerin ist.

Zugegeben, für eine versteckte Bucht sind das viele Menschen. Sie sind auch nicht zufällig in die Bucht gekommen. Fast alle haben Krankheiten. Und am Strand altern sie rasend schnell. Jede halbe Stunde altern sie um ein Jahr. In zehn Stunden altern sie also um zwanzig Jahre. In zwanzig Stunden um vierzig Jahre. Diese Veränderung fällt zuerst an den Kindern auf. Ihr Körper verändert sich. Ihre Badekleider passen nicht mehr.

Weil sie nicht sterben wollen, versuchen sie den Strand zu verlassen, bevor sie in wenigen Stunden sterben werden.

Allerdings schlagen ihre ersten Fluchtversuche fehl. So können sie durch die Felsschlucht, durch die sie zum Strand gelangten, nicht zurückgehen. Sie können die die Bucht umgebende imposante Felswand nicht hinaufklettern. Sie können nicht in das Meer hinausschwimmen.

Und sie finden keine Erklärung für ihr plötzliches Altern.

Old“ ist, im Rahmen einer absurden Situation, eine in einen Tag und eine Nacht gedrängte Meditation über das Altern und das Vergehen der Zeit. Weil das Ende, nämlich der Tod, unverrückbar feststeht, ist es keine Frage ob, sondern nur wann die verschiedenen Figuren sterben. Dieses Setting führt natürlich dazu, dass man sich mit keiner der Figuren und ihrer Probleme übermäßig identifizieren möchte. Schließlich könnte sie schon zwei Minuten später tot sein. Außedem sind sie alle erschreckend normal und ohne irgendwelche besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten. Wir könnten jedem von ihnen im nächsten Café begegnen.

So werden allerdings das Thema und das kafkaeske der Situation, in der sie sich befinden, umso deutlicher.

Schon in den ersten Minuten, wenn wir zum ersten Mal der Famiie Capa begegnen, führt Shyamalan unauffällig das Thema ein und weist auf künftige Ereignisse hin. So sprechen sie auf ihrer Fahrt zum Hotel über die Dinge, die auf jeder Fahrt angesprochen werden (Wann sind wir da? – Genieß die Landschaft. Guck nicht auf das Telefon. – Ihr habt gesagt, dass wir in fünf Minuten da sind. Jetzt sind wir immer noch nicht da. – Warum vergeht die Zeit so langsam?). Diese alltäglichen Sätze sind gleichzeitig deutliche Hinweise auf die kommenden Ereignisse. Denn in der Bucht wünschen sie sich, dass die Zeit langsamer vergeht, dass sie mehr Zeit hätten und sie fragen sich, was der Sinn ihres Lebens sein könnte.

Shyamalan erzählt diese Horrorogeschichte aus der „Twilight Zone“ voller Suspense und immer wieder elliptisch. Er zeigt die Ereignisse vor einem Ereignisse und die Folgen. Manchmal durch einen Zeitsprung. Manchmal durch einen langsamen Kameraschwenk weg und wieder hin zu dem Ereignis. Manchmal bewegt sich die Kamera auch einfach weg, weil sie irgendwo am Strand etwas interessanteres gesehen hat. Manchmal vergeht mit dem Schwenk viel, manchmal keine Zeit.

Oft zeigt er auch zuerst die Reaktion und dann, auf was die Figuren gerade so erstaunt oder entsetzt reagieren. Ohne jetzt etwas von der Geschichte zu verraten ist so ein Moment, wenn der der Krankenpfleger Jarin und seine Frau Patricia das Alter von Maddox und Trent schätzen. Die beiden Kinder behaupten erheblich jünger zu sein, als sie geschätzt werden. Erst am Ende des längeren Gespräch wird gezeigt, dass Maddox und Trent innerhalb weniger Minuten um Jahre alterten. Oder wenn Prisca ihrer beiden Kinder sucht und entsetzt feststellen muss, dass Maddox und Trent nicht mehr Kinder, sondern Teenager oder junge Erwachsene sind.

Old“ ist eine Mediation über das Leben und die Vergeblichkeit, seinem Tod auszuweichen, der schneller als erwartet kommen kann. Shyamalan erzählt dies im Gewand eines Horror-B-Pictures, das die Horrorfilm-Konventionen mit seinen Geisterbahn-Effekten ignoriert. Ein großer Spaß.

Old (Old, USA 2021)

Regie: M. Night Shyamalan

Drehbuch: M. Night Shyamalan

LV: Pierre Oscar Lévy, Frederick Peeters: Chateau de sable, 2010 (Sandburg)

mit Gael García Bernal, Vicky Krieps, Rufus Sewell, Alex Wolff, Thomasin McKenzie, Abbey Lee, Nikki Amuka-Bird, Ken Leung, Eliza Scanlen, Aaron Pierre, Embeth Davidtz, Emun Elliott, Alexa Swinton, Gustaf Hammarsten, Kathleen Chalfant, Nolan River, Luca Faustino Rodriguez, Mikaya Fisher, Kailen Jude, M. Night Shyamalan

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

(ein gutes Geschenk für den Aufenthalt in den Alpen; – obwohl, wer sagt, dass es da nicht ein ähnliches Tal gibt?)

Pierre Oscar Lévy/Frederik Peeters: Sandburg

(aus dem Französischen von Marion Herbert)

Reprodukt, 2021

104 Seiten

18 Euro

Deutsche Erstausgabe

Reprodukt, 2013

Originalausgabe

Cháteau de sable

Atrabile, 2010

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Old“

Metacritic über „Old“

Rotten Tomatoes über „Old“

Wikipedia über „Old“ (deutsch, englisch) (Achtung: hier wird selbstverständlich das Ende verraten!)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „After Earth“ (After Earth, USA 2013)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „Split“ (Split, USA 2017)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „Glass“ (Glass, USA 2019)


Neu im Kino/Kinokritiken in einem Satz (oder mehr)

Juli 29, 2021

Einmal schnell, für die Ungeduldigen und bevor die längeren Besprechungen fertig sind, durch einige ausgewählte Kinoneustarts:

Die Adern der Welt

In ihrem neuen Film erzählt Byambasuren Davaa die Geschichte des zwölfjährigen Amra, der an der TV-Show „Mogolia’s Got Talent“ teilnehmen möchte. Doch bevor er vor den Juroren singen darf, gibt es einen ruhig erzählten Einblick in das Leben der Nomaden in der mongolischen Steppe. Ihr traditioneller Lebensstil ist von internationalen, die Natur rückssichtslos ausbeutenden Bergbauinternehmen bedroht.

Alles ist Eins. Außer der 0

Sehr gelungene, informative und kurzweilige Doku von Klaus Maeck und Tanja Schwerdorf über den 1981 gegründeten Chaos Computer Club und seinen visionären Gründer Wau Holland, der die Utopie eines freien Internets hatte. Noch bevor die Welt das Internet kannte.

Cash Truck

Der neue Film von Guy Ritchie mit Jason Statham als Rächer, der Undercover in einer Geldtransportfirma arbeitet, die immer wieder überfallen wird. Düsteres, interessant kontruiertes Remake eines französischen Gangsterthriller, das als kalter, vollkommen humorfreier Rachethriller ohne Sympathieträger prächtig funktioniert.

Wer allerdings einen typischen Guy-Ritchie-Film erwartet, sollte sich besser noch einmal seinen vorherigen Film, die brachiale Gaunerkomödie „The Gentlemen“, ansehen.

Censor

In den frühen Achtzigern, als ganz England die „Video Nasties“ bekämpfte, entdeckt eine der Zensorinnen in einem der billig-blutigen Horrorfilme Verbindungen zu ihrem Leben. Oder hat sie zu viele schlechte Horrorfilme gesehen?

Prano Bailey-Bonds Debütfilm ist ein sehr atmosphärischer, ironiefreier Horrorfilm mit einer ordentlichen Portion Horrorfilmblut, viel Zeitkolorit und selbstverständlich auch eine Liebeserklärung an diese ’schlechten Filme‘.

Generation Beziehungsunfähig

Deutsche Komödie von Helena Hufnagel über junge Menschen und ihre Beziehung, die alle Qualitäten einer schlechten deutschen Komödie hat. Da sage ich im Duktus der Katholischen Filmkritik der fünfziger Jahre: Wir raten ab.

The Green Knight

David Lowery inszeniert die Artus-Legende neu. Bildgewaltig. Düster. Extrem langsam in dunklen Bildern. Das dürfte wohl genau der Film sein, den er inszenieren wollte.

Ich fand ihn tödlich langweilig. Auch weil ich nie begreifen wollte, warum Sir Gawain überhaupt die Herausforderung des titelgebenden grünen Ritters angenommen hat und sich ein Jahr später auf die gefährliche Reise zur Grünen Kapelle und zu seinem sicheren Tod begibt.

The Green Knight“ ist für mich Lowerys bislang schwächster Film.

Jungle Cruise

Dwayne Johnson als halbseidender Schiffskapitän und Emily Blunt als taffe Abenteuerforscherin erleben in dem kunterbunten, auf einer Disney-Attraktion basierendem Disney-Abenteuerfilm haarsträubende Abenteuer.

Das ist, von Jaume Collet-Serra gewohnt druckvoll, in der Tradition der „Indiana Jones“-Filme inszenierte, unterhaltsame, über Gebühr harmlose Unterhaltung für die ganze Familie.

Matthias & Maxime

Wenige Tage vor einem zweijährigen Aufenthalt in Australien küsst Maxime, aufgrund einer Wette, während einer Party mit seinen langjährigen Freunden, für einen Studentenfilm seinen Sandkastenfreund Matthias. Daraus ergeben sich einige Gefühlskonfusionen, die ihre Beziehung auf die Probe stellen.

In seinem achten Film bewegt Xavier Dolan (der auch Maxime spielt) sich auf vertrautem Terrain. Aber dieses Mal ist alles ruhiger, normaler und weniger hysterisch als in seinen vorherigen Filmen.

Old

Regisseur M. Night Shyamalan nennt seine Verfilmung des Comics „Sandburg“ (von Pierre Oscar Lévy und Frederick Peeters) – zutreffend – eine spielfilmlange „The Twilight Zone“-Episode. Die Story: in einer abgelegenen Bucht altern die Menschen rapide. Das ist kein Film für alle, aber mir hat „Old“ sehr gut gefallen. Die ausführliche Kritik ist in Arbeit.