Neu im Kino/Filmkritik: Über die Doku „Billie – Legende des Jazz“

November 12, 2021

Bevor ich mit dem Kritisieren beginne, muss ich eines sagen: „Billie – Legende des Jazz“ ist sehenswert. Für Jazzfans sowieso. Für Fans von Musikdokus ebenso. Und wer sich für amerikanische Sozialgeschichte interessiert, sollte sich die Doku über das Leben der Jazzsängerin Billie Holiday ebenfalls ansehen.

Die Grundlage für James Erskines Doku waren Tonbänder, die Linda Lipnick Kuehl in den Siebzigern aufnahm. Sie waren Teil ihrer jahrelangen Recherche für eine Biographie über die Jazzsängerin. Am 6. Februar 1978 starb Kuehl in Washington, D. C.. Für die Polizei war ihr Tod ein Suizid. Ihre Schwester Myra Luftman, die auch im Film auftritt, bezweifelt das.

Diese halbgare Mordgeschichte ist der vernachlässigbare Rahmen, in dem Erskine das Leben von Billie Holiday von ihrer Geburt 1915 bis zum Tod 1959 erzählt. Dafür wertete er die von Kuehl gemachten 125 Tonbänder mit 200 Stunden Interviews und ihr Buchmanuskript aus. Dazu kommen Ausschnitte aus Interviews mit Billie Holiday. Diese Toncollage wird mit zeitgenössischen Bildern unterlegt. Es gibt auch einige Ausschnitte aus älteren TV-Sendungen. Hier ist vor allem ein Talkshowauftritt von ihrem Entdecker John Hammond (einem Weißen) zu erwähnen. Und selbstverständlich gibt es Ausschnitte von ihren Auftritten. Diese Bilder wurden für den Film gelungen koloriert.

Kuehl interviewte zwischen 1971 und 1978 vor allem Mitmusiker, Freunde, Bekannte, Familienmitglieder und Vertraute von Billie Holiday. Sie sprach auch mit FBI-Agenten, die gegen sie wegen Drogenvergehen ermittelten, und einer Vollzugsbeamtin, die erzählt, wie Holiday sich im Gefängnis verhielt.

Als Zeitzeugen sind diese Menschen für eine Biographie wichtige Stimmen. Sie sprechen dann gemeinsamen Erlebnissen, besonderen Ereignissen und erzählen Anekdoten aus Holidays Leben. Mal geht es um die Musik, öfter aber um Holidays Privatleben, ihre sexuellen Beziehungen (sie war äußerst aktiv), ihre gewalttätigen Liebhaber und ihren überbordenden Drogenkonsum. Es geht auch um ihre problematische Persönlichkeit. Dabei wurde Kuehl mit widersprechenden Geschichten konfrontiert. Wenn sie ihre Interviewpartner darauf anspicht, reagieren diese rechthaberisch, unwirsch und feindselig. Sowieso ist, wie auch bei anderen Jazzmusikern, oft unklar, wie sehr die von ihnen erzählten Geschichten wahr oder nur gut erfundene Anekdoten sind.

Damit interessiert die Doku sich, wie die Presse zu Holidays Lebzeiten, mehr für Klatsch, Tratsch, Sensationen, Enthüllungen und viel weniger für ihre Musik und ihre Bedeutung für die Jazzgeschichte. Aber immerhin werden mehrere ihrer Songs präsentiert. Es wird ausführlicher auf „Strange Fruit“, ihren bekanntesten und wichtigsten Song, eingegangen. Und damit natürlich auch auf den Rassismus in den USA, die Rassentrennung, die Bürgerrechtsbewegung und Holidays Kampf gegen den Rassismus. Allein schon, wenn sie das Lied über die Lynchjustiz in den Südstaaten sang.

Das, ihre Prominenz und ihr Auftreten waren dann auch wahrscheinlich die Gründe, warum der Staat die Drogenkonsumentin wie eine Schwerverbrecherin verfolgte, anklagte und verurteilte.

Das ist interessant, informativ und auch gut präsentiert in seiner Mischung aus O-Tönen, Fotos und Konzertmitschnitten. Nur hätte ich, wie wahrscheinlich jeder Jazzfan, mir mehr Musiker- und weniger Drogengeschichten gewünscht.

Billie – Legende des Jazz (Billie, Großbritannien 2019)

Regie: James Erskine

Drehbuch: James Erskine

mit den Stimmen (manchmal auch im Bild) Billie Holiday, Charles Mingus, Tony Bennett, Count Basie, John Hammond, John Simmons, Roy Harte, Lester Young, Tallulah Bankhead, Sylvia Syms, Pigmeat Markham, Jimmy Rowles, James ‚Stump‘ Cross, Bobby Tucker, Carmen McRea, Marie Bryant, Melba Liston, Ray Ellis, Milt Hinton, John Fagan, Mary ‚Pony‘ Kane, Skinny Davenport, Myra Luftman, Detroit Red, Ruby Davis, Clarence Holiday, Sandy Williams, Irene Kitchings, Virginia McGlocken, Jean Allen, James Hamilton, Earl Zaidins

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Billie – Legende des Jazz“

Metacritic über „Billie – Legende des Jazz“

Rotten Tomatoes über „Billie – Legende des Jazz“

Wikipedia über „Billie – Legende des Jazz“ und Billie Holiday (deutsch, englisch)

AllMusic über Billie Holiday


TV-Tipp für den 23. Dezember: Frank Sintra – All or Nothing at All

Dezember 22, 2015

Arte, 20.15
Frank Sinatra – All or Nothing at All (USA 2015, Regie: Alex Gibney)
Drehbuch: Alex Gibney
Das ist jetzt Heiligabend für Frank-Sinatra-Fans: Arte zeigt die zweiteilige, Emmy-nominierte Sinatra-Doku von Alex Gibney in einem Rutsch. Vier Stunden Sinatra mit ihm, mit Weggefährten und seltenem Archivmaterial.
Mit Frank Sinatra, Nancy Barbato, Harry Belafonte, Mia Farrow, Nancy Sintra, Tina Sinatra, Lauren Bacall, Tony Bennett, Seymour Hersh
Hinweise

Arte über die Doku

AllMusic über Frank Sinatra

Wikipedia über Frank Sinatra (deutsch, englisch)

Besprechungen der Doku in Hollywood Reporter, Variety, New York Times, LA Times, AV Club und Washington Post

Meine Besprechung von Alex Gibneys „We steal Secrets: Die Wikileaks-Geschichte“ (We steal Secrets: The Story of Wikileaks, USA 2013)