Neu im Kino/Filmkritik: „The long walk – Todesmarsch“ für fast alle Teilnehmer

September 11, 2025

Nein, die Überschrift ist kein Spoiler, sondern die Prämisse des Films: in einer dystopischen USA müssen jedes Jahr fünfzig, zufällig ausgeloste Jungen ihren Bundesstaat bei einem Marsch vertreten. Der Marsch endet, wenn nur noch einer lebt.

Stephen King schrieb die Geschichte bereits 1966/67. Damals war er Freshman an der Universität. Er veröffentlichte sie 1979 als Richard Bachman. Francis Lawrence, der Regisseur von vier (von fünf) „Die Tribute von Panem“-Filmen verfilmte den düsteren Roman über ein gnadenloses Auswahlverfahren als überraschend düsteren Film und ohne offensichtliche Aktualisierungen. Es ist unklar, wann der Film spielt. Nichts weißt auf die Gegenwart oder die nahe Zukunft hin. Alles sieht so aus, wie es schon zur Entstehungszeit des Romans aussah. Über die Gesellschaft, die den alljährlichen Todesmarsch gutheißt, erfahren wir auch nichts.

Vertreten wird das Regime durch den Major (Mark Hamill). Er erfand den Todesmarsch. Jetzt hält er gegenüber den Jungen während des Marsches immer wieder kernig-salbungsvolle Reden, die direkt aus dem Redenplatitütdenbuch für Offiziere stammen könnten und mit denen junge Männer in den Tod geschickt werden. King und Lawrence legen sich allerdings nicht auf eine Interpretation fest. Sie konzentrieren sich auf die den Wettbewerb, der letztendlich nur fünfzig Tote kennt.

Die Geschichte ist, ausgehend von der Prämisse und der anfänglichen Vorstellung der Todeskandidaten, absolut vorhersehbar. Überraschend ist nicht, wer überlebt (und einen Akt sinnlosen Widerstands leistet), sondern höchstens wer wann einen sinnlosen, aber den Regeln gehorchenden Tod stirbt. Die Regeln sind denkbar einfach: wer zu langsam geht, wird verwarnt. Wer dreimal verwarnt wurde, scheidet aus.

Trotzdem ist der erste Tod ein Schock. Als einer der Teilnehmer zu langsam geht, erhält er schnell hintereinander drei Verwarnungen und wird von einem gesichtslosen Soldaten, entsprechend den Regeln, erschossen. Ab dem Moment ist klar, dass Francis Lawrence nichts beschönigen oder heroisieren wird. Wer zu langsam geht, wird erschossen. Warum er zu langsam geht, ist egal. Die Notdurft wird während des Gehens verrichtet. Wunden, Krämpfe und Blasen werden ignoriert. Geschlafen wird bestenfalls im Gehen.

Beim Gehen unterhalten sich die Teilnehmer über ihr Leben und ihre Wünsche. In diesen Momenten werden sie zu Individuen. Sie kommen sich auch näher – und wissen, dass dies nur eine Freundschaft für wenige Stunden ist.

Die Landschaft durch die sie dabei marschieren ist das US-amerikanische Hinterland mit Feldern so weit das Auge reicht. Am Straßenrand stehen manchmal abrissreife Bretterbuden und ausgeschlachtete Schrottautos. Es ist ein menschenleerer Landstrich, der den Abstieg hinter sich hat. Auch das Wetter passt sich der allgemeinen Trostlosigkeit an.

Hoffnungsloser war schon seit Ewigkeiten kein Hollywood-Mainstreamfilm mehr. „The long walk – Todesmarsch“ hat keine tröstliche Botschaft, keinen Ausweg und auch keine glänzende Oberfläche, die einen über die nihilistische Botschaft hinwegsehen lassen könnte. War in den „Die Tribute von Panem“-Dystopien der tödliche Wettbewerb noch ein vor großer Kulisse inszeniertes Spektakel, ist in „The long Walk“ der Tod nicht mehr als eine Blutlache auf einer einsamen Landstraße.

Francis Lawrence zeigt in seinem neuesten, strikt chronologisch gedrehtem Drama nur fünfzig junge Männer, die durch eine langweilige Landschaft marschieren und sterben. Das ist nicht schön oder heroisch, aber absolut sehenswert.

The long Walk – Todesmarsch (The long Walk, USA 2025)

Regie: Francis Lawrence

Drehbuch: JT Mollner

LV: Richard Bachman (Pseudonym von Stephen King): The long Walk, 1979 (Todesmarsch)

mit Cooper Hoffman, David Jonsson, Garrett Wareing, Tut Nvuot, Charlie Plummer, Ben Wang, Roman Griffin Davis, Jordan Gonzalez, Joshua Odjick, Josh Hamilton, Judy Greer, Mark Hamill

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The long Walk“

Metacritic über „The long Walk“

Rotten Tomatoes über „The long Walk“

Wikipedia über „The long Walk“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Francis Lawrences „Die Tribute von Panem – Catching Fire“ (The Hunger Games: Catching Fire, USA 2013)

Meine Besprechung von Francis Lawrences „Red Sparrow“ (Red Sparrow, USA 2018)

Meine Besprechung von Francis Lawrences „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes“ (The Hunger Games: The Ballad of Songbirds and Snakes, USA 2023)

zu Stephen King

Homepage von Stephen King

Mein Porträt zu Stephen Kings Geburtstag

Stephen King in der Kriminalakte, in seinem Trailer-Park und auf Europa-Tour

den Romanen von Stephen King

Meine Besprechung von Stephen Kings/Richard Bachmans „Qual“ (Blaze, 2007)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Nachgelassene Dinge“ (The things they left behind) in Ed McBains „Die hohe Kunst des Mordens“ (Transgressions, 2005)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Colorado Kid“ (The Colorado Kid, 2005)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Doctor Sleep“ (Doctor Sleep, 2013)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Später“ (Later, 2021)

Meine Besprechung von Joe Hill/Stephen King/Richard Mathesons „Road Rage“ (Road Rage, 2012)

den Verfilmungen, teils mit Besprechungen der Romane

Meine Besprechung der auf Stephen Kings Novelle “The Colorado Kid” basierenden TV-Serie “Haven”

Meine Besprechung von Kimberly Peirces Stephen-King-Verfilmung “Carrie” (Carrie, USA 2013)

Meine Besprechung von Tod Williams‘ Stephen-King-Verfilmung „Puls“ (Cell, USA 2016)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Der dunkle Turm: Schwarz“ (The Dark Tower: The Gunslinger, 1982) und von Nikolaj Arcels Romanverfilmung „Der dunkle Turm“ (The dark Tower, USA 2017)

Meine Besprechung von Andy Muschiettis „Es“ (It, USA 2017)

Meine Besprechung von Stephen Kings „Friedhof der Kuscheltiere“ (Pet Sematary, 1983) und Kevin Kölsch/Dennis Widmyers Romanverfilmung „Friedhof der Kuscheltiere“ (Pet Sematary, USA 2019)

Meine Besprechung von Andy Muschietti Stephen-King-Verfilmung „Es Kapitel 2″ (It Chapter 2, USA 2019)

Meine Besprechung von Mike Flanagans „Stephen Kings Doctor Sleeps Erwachen“ (Doctor Sleep, USA 2019) (wahrscheinlich einer der Filmtitel, die kein Mensch an der Kinokasse vollständig ausgesprochen hat)

Meine Besprechung von Rob Savages Stephen-King-Verfilmung „The Boogeyman“ (The Boogeyman, USA 2023)

Meine Besprechung von Kurt Wimmers „Kinder des Zorns“ (Children of the Corn, USA 2020)

Meine Besprechung von Osgood Perkins‘ Stephen-King-Verfilmung „The Monkey“ (The Monkey, USA/Großbritannien 2025)

Meine Besprechung von Mike Flanagans Stephen-King-Verfilmung „The Life of Chuck“ (The Life of Chuck, USA 2024)


Neu im Kino/Filmkritik: „Licorice Pizza“ – ansehen erlaubt

Januar 27, 2022

San Fernando Valley, Sommer 1973: Auf dem Schulhof lernt der Teenager Gary Valentine (Cooper Hoffman) die zehn Jahre ältere Alana Kane (die Musikerin Alana Haim) kennen. Sie ist die Assistentin für den Fotografen, der an diesem Fototag Bilder von den Schülern und den Klassen macht. Sie hängt eher gelangweilt herum. Da ist Garys gleichzeitig unverschämt offensives, großkotziges und pubertäres Werben um sie eine willkommene Abwechslung. Sie lässt sich von ihm sogar zu einem Date überreden.

Und das ist der Auftakt für eine deutlich über zweistündige Abfolge von Anekdoten aus diesem Sommer. Gary ist neben der Schule auch ein Schauspieler (zwar noch ganz am Anfang seiner Karriere, aber sehr ambitioniert) und ein Unternehmer. Auch hier steht er noch vor dem großen Durchbruch, aber er ist sehr ambitioniert und von jeder seiner Geschäftsideen hundertfünfzigprozentig überzeugt. Zum Beispiel mit dem Verkauf von Wasserbetten oder, nachdem er erfährt, dass Flippern in Kalifornien legalisiert werden soll, eröffnet er eine Halle mit Flipperautomaten.

Alana ist in diesen Tagen seine Fahrerin und Freundin. Wobei unklar ist, ob sie seine ‚Freundin‘ werden soll oder sein ‚Freund‘ ist. Jedenfalls sind sie, trotz des Altersunterschieds, ziemlich unzertrennlich. Und Paul Thomas Anderson zeigt diesen schüchterne und auch unbeholfene, von großer Unsicherheit gekennzeichnete Umwerben äußerst feinfühlig.

Sie hilft Gary bei seinen Geschäften und fährt auch einmal einen Laster rückwärts die Berge hinunter, weil erstens ihr Kunde, der extrem cholerische Filmproduzent und Barbara-Streisand-Freund Jon Peters (Bradley Cooper), mit dem Aufbau des Wasserbettes unzufrieden ist, und zweitens, während der Ölkrise, der Tank des Wagens leer ist. Aber bergab braucht man kein Benzin, sondern gute Bremsen.

Sie will auch Schauspielerin werden. Gary vermittelt ihr einen Vorsprechtermin. Dabei lernt sie Jack Holden (Sean Penn; Vorbild war William Holden) kennen. Zusammen mit ihm und Rex Blau (Tom Waits; Vorbild war Regisseur Mark Robson [„Erdbeben“]) verbringen sie einen Abend voller Alkohol und männlicher Angeberei. Schließlich beweist Holden sich sturzbetrunken als Motorradfahrer.

Sie wird Freiwillige im Wahlkampfteam des jungen, charismatischen Politiker Joel Wachs (Benny Safdie). Er kandidiert für das Bürgermeisteramt von Los Angeles. Auch er ist eine reale Figur, die unter ihrem echten Namen auftritt. Das Vorbild für Gary Valentine war der mit Paul Thomas Anderson befreundete Gary Goetzman. Er erzählte ihm Geschichten von seiner Jugend. Heute produziert Goetzman, oft mit Tom Hanks in der Hauptrolle, Filme wie „My Big Fat Greek Wedding – Hochzeit auf griechisch“, „Mamma Mia!“, „Larry Crowne“ und „Ein Hologramm für den König“.

Paul Thomas Anderson taucht in seinem neuen Film „Licorice Pizza“ tief in frühen Siebziger in Kalifornien ein. Eigentlich sieht das Episodendrama wie ein gut fünfzig Jahre alter Dokumentarfilm aus. Die Hauptrollen werden von den Spielfilmdebütanten Cooper Hoffman, Sohn von Philip Seymour Hoffman, und Alana Haim gespielt. Das restliche Ensemble besteht, manchmal in Personalunion, aus Freunden von Anderson, bekannten Schauspielern und der Familie von Alana Haim, die die Familie von Alana Kane spielen.

Die Abfolge der von Anderson erzählten Anekdoten folgt dabei keiner strikten Chronologie oder erzählerischen Notwendigkeit. Deshalb könnte „Licorice Pizza“ problemlos eine halbe Stunde länger oder kürzer sein.

Wenn man auf diese Art von weitgehend plotlosen Erinnerungsfilmen voller warmherziger Nostalgie und in diesem Fall cineastischer Anspielungen steht, dann wird man von „Licorice Pizza“ begeistert sein. Die meisten Kritiker sind es.

Ich halte das Drama für überbewertet; das liegt allerdings daran, dass ich diese Art von Filmen, in denen tagebuchhaft einfach Episoden und Anekdoten aneinandergereiht werden, für schwierig halte und ich vor allem Gary reichlich unsympathisch fand. Er ist in erster Linie kein Teenager, der sich zum ersten Mal verliebt, sondern ein Schüler, der ständig das nächste große Geschäft wittert und umsetzt. Seine ganze Existenz dreht sich um das Angeben mit seinen Taten und um das Geld verdienen. Er ist ein archetypischer Kapitalist, für den der ständig getragene Anzug die stolz getragene Arbeitskleidung ist. Dabei darf er noch nicht einmal Auto fahren oder Bier trinken. Dieser Gary, der Protagonist, mit dem wir mitfühlen sollen, wirkt die meiste Zeit wie ein schmieriger, ichbezogen-egomanischer Verkäufer. Vor solchen Menschen haben uns unsere Eltern immer gewarnt.

„Licorice Pizza“ ist nicht schlecht. Er hat sogar viele gute Szenen, aber die anderen Filme von Paul Thomas Anderson, zum Bespiel sein ebenfalls in den frühen Siebzigern spielender Privatdetektivkrimi „Inherent Vice – Natürliche Mängel“, sind besser.

Licorice Pizza (Licorice Pizza, USA 2021)

Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson

mit Alana Haim, Cooper Hoffman, Bradley Cooper, Benny Safdie, Tom Waits, Sean Penn, Nate Mann, Will Angarola, Joseph Cross, Maya Rudolph

Länge: 134 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Licorice Pizza“

Metacritic über „Licorice Pizza“

Rotten Tomatoes über „Licorice Pizza“

Wikipedia über „Licorice Pizza“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (Inherent Vice, USA 2015)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ (Phantom Thread, Großbritannien 2017)