Neu im Kino/Filmkritik: Hollywood „Babylon“, munter an den Fakten entlang fantasiert

Januar 19, 2023

Für Damien Chazelle war früher vielleicht nicht alles besser, aber in jedem Fall war es aufregender und, nun, in Ermangelung eines besseren Wortes, besser. Das gilt für seine Verklärungen älterer Jazzstile in „Whiplash“ und „La La Land“.

Das gilt jetzt für seine Verklärung der frühen Jahre Hollywoods, als einige Glücksritter aus der Brachlandschaft um Los Angeles Hollywood erschufen. Sein Film beginnt 1926 mit einer riesigen Party, auf der die meisten der für die nächsten drei Stunden wichtigsten Figuren vorgestellt werden. Es sind Manny Torres (Diego Calva), ein junger Mexikaner, der irgendetwas im Filmgeschäft machen will. Staunend sieht er das enthemmte Treiben der oberen Zehntausend auf dieser Party in dem einsam gelegenem Anwesen. Dort lernt Manny die lebhafte Nellie LaRoy (Margot Robbie) kennen. Noch ist sie ein No-Name. Aber das ändert sich schnell. Mit ihrer exaltierten Art und ihrem Stofffetzen von Kleid lenkt sie die Blicke und die Aufmerksamkeit auf sich. Bis sie ein Angebot für eine Rolle in einem Stummfilm erhält. Und er begegnet Jack Conrad (Brad Pitt). Conrad ist ein großer Stummfilmstar mit noch größerem Alkoholkonsum. Frauen tanzen, spärlich bekleidet, orgiastisch zur treibenden Musik der selbstverständlich nur aus schwarzen Musikern bestehenden Jazzband. Zur Band gehört der Trompeter Sidney Palmer (Jovan Adepo), der später beim Film Geld verdient und bei den Dreharbeiten für einen Song ein sehr demütigendes Erlebnis hat. Die große Sensation der Party, die im Film eine gute halbe Stunde dauert, ist ein Elefant, den Manny zu der Party transportierte. Der Vierbeiner hat seinen großen Auftritt, als er in den Saal getrieben wird und alle Blicke auf sich lenkt, während am anderen Ende des Saales die Leiche eines Starlets aus dem Haus getragen wird.

Nach der Party fährt Manny den stockbesoffenen Conrad nach Hause. Dieser verschafft ihm anschließend einen Job und schon sind wir bei dem nächsten großen Set-Piece von Damien Chazelles „Babylon – Rausch der Ekstase“: dem Studiogelände von Kinoscope Pictures. Auf einem riesigen Feld finden parallel die Dreharbeiten für mehrere, vollkommen unterschiedliche Filme statt. Es ist ein einziges organisiertes Chaos. Lärm und Umgebungsgeräusche sind – es werden ja Stummfilme gedreht – kein Problem. Jedes Set hat seine eigene Band. Die größte Band, ein dreißigköpfiges Orchester, spielt für einen Monumentalfilm, bei dem die Statisten eine Schlacht nachstellen. Ein Statist wird dabei von einem Speer durchbohrt. Unfälle passieren halt.

Und so geht es weiter. Chazelle zeigt die Stummfilmjahre als einen einzigen Exzess, in dem ohne Folgen zu befürchten, alles erlaubt und getan wurde. So ist der Tod des Starlets bei der Eröffnungsparty, für die weitere Filmgeschichte unerheblich. Gleiches gilt für den Statisten bei dem Monumentalfilm. Oder all den anderen bizarren Geschichten von Partys und Dreharbeiten. Es geht um einen in einer Toilette fest steckenden Kopf, betrunkene Mutproben mit Schlangen in der Wüste und den für alle enervierenden Dreharbeiten für den Tonfilm. Denn während sie im Stummfilm munter vor sich hin improvisieren und lärmen konnten, müssen sie jetzt alle mucksmäuschenstill sein und Nellie muss ihren Text an präzise festgelegten Punkten in einer bestimmten Lautstärke aufsagen. Da ist das Stöhnen des Kameramanns über die tropische Hitze und den Sauerstoffmangel in seiner Kabine vernachlässigbar.

Babylon“ ist eine eine gute Stunde zu lang geratene Abfolge von zwischen 1926 und 1932 spielenden Anekdoten, die lose zusammengehalten werden durch das wiederholte Auftauchen bekannter Gesichter. Diese Figuren sind, und das fällt spätestens mit dem Beginn des Tonfilms auf, reine Platzhalter.

So berührt der Abstieg von Jake Conrad nicht weiter. Das gleiche gilt letztendlich für das Schicksal von Nellie und Manny. Er besucht 1952 im Epilog, zwanzig Jahre nach den Ereignissen von „Babylon“, wieder Hollywood.

Es gibt, nachdem während der Stummfilmzeit das Organisierte Verbrechen keine Rolle spielte, eine in den frühen Dreißigern spielende Episode um Spielschulden und den Besuch in der Kanalisation von Los Angeles in einer sich über mehrere Etagen erstreckenden Untergrund-Sex-Höhle. Die gesamte Episode wirkt wie ein Outtake aus einem Exploitation-Horrorfilm. Immerhin hat Tobey Maguire hier einen wahrhaft bizarren Auftritt als Gangster und Casinochef.

Der Film selbst ist wie das Blättern in Skandalblättern oder Skandalchroniken, wie Kenneth Angers höchst unterhaltsamer, nicht besonders faktensicherer „Hollywood Babylon“. Sie war 1959 das erste Werk dieser Art und die Blaupause für alle weiteren Skandalchroniken: etwas Klatsch über bekannte Schauspieler, warnende Geschichten über gefallene Starlets, Drogen, Sex, mehr oder weniger rätselhafte Todesfälle (zwischen dummen Zufällen und möglicherweise eiskalt geplanten Morden) und Fotos von Unfällen, verwüsteten Hotelzimmern und nackten Schönheiten.

Mehr ist Chazelles „Babylon“ auch nicht. Außer dass er behauptet, dass die Stummfilmzeit in jeder Beziehung viel besser als alles war, was danach kam.

Dabei wissen wir doch dank James Ellroy, dass es in den Vierzigern und Fünfzigern nicht besser war. Ich sage nur „L. A. Confidential“. Dank Peter Biskind und seinen seitenstarken Büchern über das Hollywoodkino der siebziger, achtziger und neunziger Jahre wissen wir, dass es später nicht schlechter wurde. Mit seinem 1969 spielendem „Once upon a Time in Hollywood“ (ebenfalls mit Margot Robbie und Brad Pitt) quetsche Quentin Tarantino sich dazwischen. Und die Coen-Brüder erzählen in ihrer Komödie „Hail, Caesar!“ von schwierigen Dreharbeiten in den Fünfzigern. Das mag, für alle, die sich nach Chazelles „Babylon“, weiter in mehr oder weniger erfundenen Hollywood-Skandalen suhlen wollen, an Tipps genügen.

Babylon – Rausch der Ekstase (Babylon, USA 2022)

Regie: Damien Chazelle

Drehbuch: Damien Chazelle

mit Brad Pitt, Margot Robbie, Diego Calva, Jean Smart, Jovan Adepo, Li Jun Li, P. J. Byrne, Lukas Haas, Olivia Hamilton, Tobey Maguire, Max Minghella, Rory Scovel, Katherine Waterston, Flea, Jeff Garlin, Eric Roberts, Ethan Suplee, Samara Weaving, Olivia Wilde, Joe Dallesandro, Marc Platt, Spike Jonze

Länge: 189 Minuten (vier Minuten kürzer als „Avatar: The Way of Water“)

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Babylon“

Metacritic über „Babylon“

Rotten Tomatoes über „Babylon“

Wikipedia über „Babylon“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Damien Chazelles „Whiplash“ (Whiplash, USA 2014)

Meine Besprechung von Damien Chazelles „La La Land“ (La La Land, USA 2016)

Meine Besprechung von Damien Chazelle „Aufbruch zum Mond“ (First Man, USA 2018)