Alles an „Der Brutalist“ sagt überdeutlich, wie wichtig, groß, grandios und monumental dieser Film aus Sicht seiner Macher ist.
Er dauert 216 Minuten. Im Film gibt es eine fest einprogrammierte 15-minütige Pause, in der eine Uhr rückwärts läuft.
Gedreht wurde er im in den fünfziger Jahren benutztem VistaVision-Format. Bekannte VistaVision-Filme sind „Krieg und Frieden“, „Der Schwarze Falke“, „Die oberen Zehntausend“, „Der unsichtbare Dritte“ und „Der Besessene“.
In den wenigen Kinos, in denen es möglich ist, wird „Der Brutalist“ auch in einer 70-mm-Fassung gezeigt. Nur so kann das VistaVision-Bild seine ganze Pracht entfalten,
Die Geschichte versteht sich von der ersten bis zur letzten Minute als das große, die US-amerikanische Seele und den amerikanischen Traum erkundende und erklärende Nationalepos.
Der Lohn für diese Bemühungen und den selbstgewählten Anspruch sind überschwängliches Kritikerlob, Preise, wie, nach seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig, der Silberne Löwe für die Beste Regie und zuletzt zehn Oscar-Nominierungen, unter anderem als Bester Film, für die Beste Regie (Brady Corbet), das Beste Drehbuch (Brady Corbet und Mona Fastvold), den Besten Hauptdarsteller (Adrien Brody), den Besten Nebendarsteller (Guy Pearce), die Beste Nebendarstellerin (Felicity Jones), die Beste Kamera (Lol Crawley) und den Besten Schnitt (Dávid Jancsó).
Brady Corbet erzählt die Geschichte des Emgranten László Tóth (Adrien Brody). Der in Europa bekannte Bauhaus-Architekt und titelgebende „Brutalist“ kommt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als mittelloser Einwanderer in die USA. Als er Jahre später den Industriellen Harrison Lee Van Buren Sr. (Guy Pearce) trifft und dieser von seinen Entwürfen fasziniert ist, wendet sich sein Schicksal. Tóth soll zu Ehren von Van Burens verstorbener Mutter ein Institut mit Bibliothek, Sporthalle, Auditorium und Kapelle errichten.
Wer jetzt denkt, dass in „Der Brutalist“ der Bau dieses Mammutprojekts im Mittelpunkt steht, irrt sich. Wer denkt, dass es zwischen dem Architekten und dem Bauherrn einen über den Film tragenden Konflikt gibt, irrt sich. Sicher, es gibt einige kleinere Streitigkeiten zwischen den beiden Männern, aber die sind schnell beigelegt. Van Buren ist von der ersten bis zur letzten Minute ein enthusiastischer Förderer von Tóth und des von ihm in Auftrag gegebenen, selbstverständlich immer teurer werdenden Projekts.
Und wer denkt, dass der Film anhand der fiktiven Biographie eines Architekten schnell zu einer informativen Geschichtsstunde über das Bauhaus und den Brutalismus wird, irrt sich ebenfalls. Diese Architekten verbanden mit ihren Gebäuden auch gesellschaftspolitische Utopien. Im Film ist davon nichts zu hören.
Stattdessen erzählt Brady Corbet, meist in langen Szenen in Nahaufnahmen in karg möblierten Innenräumen, elliptisch die Geschichte eines Einwanderers und seiner Jahre nach ihm in die USA kommenden Familie. Das ist nicht schlecht und hat auch einen weitgehend über die epische Dauer von gut vier Stunden andauernden erzählerischen Schwung. Aber „Der Brutalist“ ist niemals „There will be Blood“. Das liegt an seinem Desinteresse an der gezeigten Architektur und dem abwesenden zentralen Konflikt zwischen dem Künstler und dem Kapitalisten.
„Der Brutalist“ ist ein durchaus beeindruckender und gut gemachter Film. Aber er ist auch nicht so gut, wie er gerade hochgejubelt wird. Das Drama ist breitbeiniges, von seiner eigenen Größe hemmungslos überzeugtes Überwältigungskino, das einen geschüttelt, aber nicht berührt zurücklässt.
Der Brutalist (The Brutalist, USA 2024)
Regie: Brady Corbet
Drehbuch: Brady Corbet, Mona Fastvold
mit Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce, Joe Alwyn, Raffey Cassidy, Stacy Martin, Emma Laird, Isaach de Bankolé, Alessandro Nivola
You miss a very big aspect of the human experience if you take yourself too seriously.
Yorgos Lanthimos
Yorgos Lanthimos‘ neuer Film, wieder mit Emma Stone, dürfte die Fans von „Poor Things“ nachhaltig irritieren und verstören. „Kinds of Kindness“ knüpft da eher an seinen von mir nicht gemochten „The Killing of a sacred Deer“ an.
In seiner neuen, fast dreistündigen Satire erzählt er hintereinander drei nur sehr, sehr lose, fast überhaupt nicht miteinander verbundene Geschichten. In der ersten Geschichte „The Death of R. M. F.“ tut ein offensichtlich hochrangiger Büroangestellter alles für seinen Chef. Robert lässt sich Tag und Nacht von Raymond kontrollieren, berichtet ihm über alles, auch seinen Stuhlgang und sein Sexleben, und tut alles, was sein Vorgesetzter von ihm möchte. Dabei erstrecken sich Raymonds teils bizarren Wünsche und Forderungen auch und vor allem auf sein Privatleben.
Als Robert einen tödlichen Unfall, bei dem R. M. F., der Fahrer des anderen Autos, sterben soll, nicht ausführen kann, entzieht Raymond ihm seine Gunst und alle Privilegien, wozu auch seine Wohnung und seine Frau (frag nicht, lange Geschichte) gehören. Robert will wieder seine alte Position haben.
In der zweiten Geschichte „R. M. F. Is flying“ verschwindet die Frau des Polizisten Daniel spurlos im Ozean. Entgegen aller Erwartungen wird Liz lebendig gefunden. Als sie zu ihm zurückkehrt, glaubt Daniel, dass Liz eine andere Person ist. Sie verhält sich anders und hat bestimmte Dinge, wie ihren Lieblingssong, vergessen. Daniel wird darüber zunehmend paranoid, wird suspendiert und verbringt viel Zeit mit seiner Frau in ihrem gemeinsamen Haus. Da fordert er sie auf, sich zu verletzen.
In der dritten und letzten Geschichte des Films, „R. M. F. eats a Sandwich“ suchen die ‚Arbeitskollegen‘ Emily und Andrew für eine von einem Reinheitswahn besessene Sekte nach einer Frau, die Tote wiedererwecken kann. Bis jetzt ohne Erfolg.
Als Sektenführer Omi sie auf eine neue potentielle Kandidatin ansetzt, könnten sie die Frau gefunden haben. Jedenfalls häufen sich die merkwürdigen Ereignisse. So hat Emily sie in einem Traum gesehen. Sie werden in einem Restaurant von einer Frau angesprochen, die sagt, sie wisse, wer sie seien und sie habe eine Zwillingsschwester, die die Gesuchte sein könnte.
Nachdem Emily von ihrem Ex-Mann vergewaltigt wird, wird sie als contaminierte Person aus der Sekte geworfen. Emily will, wie Robert in der ersten Geschichte, wieder in die Sekte und von Omi aufgenommen werden. Fanatisch beginnt sie die auserwählte Frau zu suchen. Und ab jetzt wird die Geschichte wirklich schräg.
Bei keiner der drei Geschichten kann eine Zusammenfassung auch nur annähernd wiedergeben, wie seltsam, irreal, absurd und voller Ideen die schwarzhumorigen Geschichten sind. Und wie gut die Schauspieler sind, die in jedem Film überzeugend in eine andere Rolle schlüpfen. Emma Stone (als Rita, Liz und Emily), Jesse Plemons (als Robert, Daniel und Andrew) und Willem Dafoe (als Raymond, George und Omi) spielen immer die Hauptrollen. Sie schlüpfen in die verschiedenen Figuren und ihre Marotten. Die kleinen Details, wie die von ihnen getragenen Kleider, sind gelungen. Kamera, Musik und Ausstattung gefallen ebenfalls.
Ich habe auch nichts gegen schräge Geschichten. So gefiel mir Lanthimos‘ ziemlich absurde Satire „The Lobster“ sehr. Aber bei „Kinds of Kindness“ lenkt der Hinweis auf die guten Schauspieler und die gute Inszenierung nur vom Grundproblem ab: der Film funkioniert nicht. Die einzelnen Geschichten sind rudimentäre Skizzen, in denen es irgendwie um Macht, Kontrolle und den Freien Willen geht. Diese Themen werden in den einzelnen Szenen immer wieder angesprochen. Aber es bleibt auf der Ebene eines teils gelungenen und teils witzigen Sketches, in dem eine Person einer anderen Person ihren Willen aufzwingt.
Die Geschichten sind so abstrakt, dass jeder hineininterpretieren, was ihm gerade gefällt. Jede dieser Geschichten ist gleichzeitig zu kurz und zu lang. Die interessanten Teile werden zu schnell abgehandelt. Für uninteressanteste, den Plot in keinster Weise voranbringende Szenen wird dann zu viel Zeit aufgewendet. Oder die Szene dauert einfach viel länger als nötig. Erklärungen gibt es keine, weil das den Raum möglicher Interpretationen einschränken würde. Entsprechend zahn- und ziellos gerät die Satire.
„Kinds of Kindness“ ist länger als „The Killing of a sacred Deer“, aber genauso todsterbenslangweilig.
P. S.: Wenn der Abspann beginnt, sitzenbleiben. Es gibt noch eine Szene.
Kinds of Kindness(Kinds of Kindness, USA 2024)
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Yorgos Lanthimos, Efthimis Filippou
mit Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Hong Chau, Joe Alwyn, Mamoudou Athie, Hunter Schafer
Es scheint, als habe Nicole Kidman ihrem Agenten gesagt, sie wolle in ihren nächsten Filmen möglichst unterschiedliche Rollen haben und so ihr Können zeigen. Anders ist ihre aktuelle Rollenauswahl kaum zu erklären. Im Dezember war sie in dem quietschbunten DC-Superheldenepos „Aquaman“ eine Meeresgöttin. Demnächst ist sie in dem zwiespältigen harten Polizeithriller „Destroyer“ (Kinostart 14. März, Besprechung folgt) eine süchtige Polizistin. In den in der Gegenwart spielenden Teilen ist sie kaum erkennbar. Und in den beiden Filmen mit ihr, die heute im Kino anlaufen, ist sie einmal eine aufgedonnerte Südstaaten-Mutter, einmal eine verhuschte Sekretärin.
Die verhuschte Sekretärin spielt sie in „Mein Bester & Ich“. Ihr stinkreicher Chef ist nach einem Sportunfall fast vollständig gelähmt. Jetzt benötigt er einen neuen Pfleger und, weil er gerade an Suizid denkt, nimmt er sich von allen Pflegern, die sich bei ihm um die Stelle bewerben, die Person, die am allerwenigsten für den Job geeignet ist und die beim Vorstellungsgespräch auch offensiv sagt, dass sie die Arbeit überhaupt nicht haben wolle.
Und wer jetzt denkt, dass ihn das an „Ziemlich beste Freunde“ erinnere, liegt richtig. „Mein Bester & Ich“ ist das US-Remake der Geschichte.
Olivier Nakache und Éric Toledanos Film ist von 2011 und die wahre Geschichte ereignete sich in den neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. 2001 veröffentlichte Philippe Pozzo di Borgo seine Autobiographie „Le Second souffle“ in der er über seinen Gleitschirmunfall, die Folgen und seine Freundschaft zu seinem Pflegehelfer Abdel Yasmin Sellou schrieb. Es ist eine Geschichte, die wegen ihrer Gegensätze – arm und reich, schwarz und weiß – und ihrem Ende – aus dem Pfleger und seinem Patienten werden Freunde – förmlich nach einer Verfilmung schreit.
Aber während Nakache und Toledanos im unglaublich erfolgreichen Original die Geschichte als lockere Komödie inszenierten, inszenierte Neil Burger sie als Drama. Das ist, nachdem die ersten Minuten der US-Version die französische Vorlage fast 1-zu-1 schlecht nachstellten, ein deutlich anderer Tonfall. Daran ändern auch die später eingestreuten wenigen und in jeder Beziehung sehr deplatzierten Witzversuche nichts.
Die in der Gegenwart spielende Geschichte selbst folgt dagegen fast sklavisch dem Original. Die Kleinigkeiten, die geändert wurden, verändern nichts wesentliches. Ob einem jetzt diese oder jene Lösung besser gefällt, ist letztendlich Geschmacksache. Wobei die von Nicole Kidman gespielte Hausdame und damit auch persönliche Sekretärin des gelähmten Milliardärs hier deutlich konservativer als im Original ist.
Bryan Cranston ist als Gelähmter gewohnt überzeugend. Nicole Kidman blass bis zum gehtnichtmehr. Sie hat zwar einen guten Uniabschluss, aber sie ist so schüchtern, dass sie am liebsten mit der Tapete verschmelzen würde. Kevin Hart, der sonst für kindlich-vulgären Klamauk zuständig ist, bemüht sich hier als Pfleger um eine schauspielerische Leistung. Gegenüber Omar Sy, der im Original den Pfleger als einen breit grinsenden Sunnyboy mit Jean-Paul-Belmondo-Charisma spielte, ist Hart allerdings nur ein latent schlechte Stimmung verbreitender Stinkstiefel.
Wie bei den meisten US-Remakes von erfolgreichen Nicht-US-Filmen gilt auch hier die altbekannte Regel: Wer das Original bereits kennt, kann das US-Remake getrost ignorieren. „Mein Bester & Ich“ ist keine Neuinterpretation, sondern eine Nacherzählung von „Ziemlich beste Freunde“ in einem anderen Tonfall.
Neil Burgers Feelgood-Drama hatte seine Premiere 2017 beim Toronto International Film Festival. Die Weinstein Company wollte den Film in den USA verleihen. Mit dem allseits bekannten Weinstein-Skandal und der damit verbundenen Insolvenz der Firma zerschlugen sich diese Pläne. In den USA lief der Film, jetzt verliehen von STX Entertainment und Lantern Entertainment, im Januar an.
Auch der zweite Film mit Nicole Kidman, der heute anläuft, beruht auf einer wahren Geschichte, ist ein kleiner Film und sie spielt eine Nebenrolle. In „Der verlorene Sohn“ spielt sie die in schönster Südstaaten-Tradtion aufgedonnerte Mutter von Jared Eamons (Lucas Hedges, wieder als Junge mit Problemen). Ihr Mann Marshall (Russell Crowe) ist Autohändler und Baptistenprediger. Entsprechend textgetreu bibelnah gefestigt sind seine Moralvorstellung. Auch zur Homosexualität.
Als der neunzehnjährige Jared seinen Eltern seine Homosexualität gesteht, gibt es für Marshall nur eine Lösung: Jared wird in eine von Victor Sykes (Joel Edgerton) für Love in Action durchgeführte Reparativtherapie (auch bekannt als Konversionstherapie) gesteckt.
Diese findet über zwölf Tage in einer von außen, wie ein Gefängnis, hermetisch abgeschlossenen Einrichtung statt. In ihr führen der sich wie ein Guru benehmende Sykes und seine Untergebenen ein strenges und streng religiöses Regiment. Jared darf zwar, wie die anderen Teilnehmer, in den Nächten zurück zu seiner Mutter ins Hotel. Aber er darf mit ihr nicht über seine Erlebnisse in der Einrichtung sprechen. Er darf auch nicht mit anderen Teilnehmern darüber sprechen.
Durchgeführt werden diese Therapien meist von Vertretern der überwiegend evangelikal geprägten Ex-Gay-Bewegung. Ziel der Therapie ist es, den Homosexuellen von seinen homosexuellen Neigungen zu heilen. Denn Homosexualität sei eine sehr schlimme Krankheit, die geheilt werden könne.
Das ist unwissenschaftlicher und gefährlicher Humbug, der inzwischen von allen führenden internationalen psychiatrischen und psychologischen Fachgesellschaften und dem Weltärztebund abgelehnt wird. Depressionen, Angstzustände und selbstzerstörerisches Verhalten wurde bei LGBTQ-Jugendlichen nach einer Reparativtherapie beobachtet. Anstatt einer Heilung wurde das Gegenteil erreicht und die Schuldgefühle und Selbstzweifel der Jugendlichen verstärkt. Eine richtige Therapie will und muss das Gegenteil erreichen.
In den USA ist die Reparativtherapie in vierzehn Staaten (vor allem an der Ost- und Westküste) und in Washington, D. C., verboten. In Deutschland hat Gesundheitsminister Jens Spahn kürzlich einen Gesetzentwurf zum gesetzlichen Verbot von Reparativtherapien angekündigt.
In seinem zweiten Spielfilm zeichnet Joel Edgerton, der auch das Drehbuch schrieb und die Rolle des Therapieleiters Sykes übernahm, sehr genau und detailliert die Therapie und ihre Probleme nach. Denn es geht nicht um eine Heilung (auch wenn das von den evangelikalen Verfechtern behauptet wird), sondern um Gehirnwäsche und Psychofolter. Und es ist erschreckend, dass diese Humbug-Therapie heute immer noch angewandt wird.
Allerdings ist der gesamte Film zu dröge inszeniert und die Charaktere und ihre Dynamik zu flach, um wirklich zu begeistern. „Der verlorene Sohn“ wirkt dann eher wie ein mild dramatisierter Lehrfilm und nicht wie ein packendes Drama über die Rettung einer verlorenen Seele. Es geht vor allem um einen gläubigen Jungen, der versucht herauszufinden, wer er ist und, in zweiter Linie, eine gläubige Mutter, die sich, als sie sieht, wie ihr Sohn auf die Therapie reagiert, zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn entscheiden muss. Nicole Kidman hat zwar nur eine Nebenrolle, aber es ist eine wichtige und sehr eindrücklich gespielte Nebenrolle.
Die Vorlage für die Filmgeschichte war die autobiografische Erzählung „Boy erased“ von Garrard Conley, der 2004 bei „Love in Action“ eine solche Therapie erlebte. Nach der Veröffentlichung wurde er zu einem der Sprecher der LGBTQ-Bewegung gegen die Reparativtherapie.
Am Ende überzeugt „Der verlorene Sohn“ vor allem wegen seinem Anliegen als gut gemachter und gespielter Aufklärungsfilm.
Das sieht auch Regisseur Edgerton so: „Wenn wir unsere Arbeit mit dem Film richtig machen, haben wir die Chance, eine größere Diskussion über ein Thema anzustoßen, das Aufmerksamkeit bedarf. Die Reparativtherapie im Allgemeinen existiert in vielen verschiedenen Varianten, in hundert verschiedenen Ländern. Es wird auf verschiedene Weise ständig wiederholt. Einige davon basieren auf Religion, andere nicht. Einige werden mit Psychotherapie kombiniert. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Reparativtherapie richtet unglaublich großen Schaden an.“
Mein Bester & Ich(The Upside, USA 2017)
Regie: Neil Burger
Drehbuch: Jon Hartmere (nach dem Drehbuch „Intouchables“ von Olivier Nakache und Éric Toledano)
mit Kevin Hart, Bryan Cranston, Nicole Kidman, Golshifteh Farahani, Julianna Margulies, Aja Naomi King, Suzanne Savoy
Für die Fans des britischen Königshauses, die es gerne mit der rosaroten Brille haben, dürften beide Filme nichts sein. Einmal wird Maria Stuart durch die feministische Brille neu betrachtet, einmal gibt es Neid und Missgunst am Hofe von Königin Anne und die Männer stehen, hübsch geschminkt und kostümiert, am Spielfeldrand. Yorgos Lanthimos‘ „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ ist eine grandiose, tiefschwarze Komödie. Josie Bourkes „Maria Stuart, Königin von Schottland“ wirkt dagegen wie ein Lore-Roman.
Als Achtzehnjährige kehrt Maria Stuart (Saoirse Ronan) 1561 als Witwe aus Frankreich nach Schottland zurück. Sie präsentiert sich als freigeistige Herrscherin. Anstatt ihrem Volk die Religion vorzugeben, dürfen sie Protestanten bleiben, während sie Katholikin ist. Für sie ist Schottland nur eine Station auf dem Weg nach London. Denn sie ist, nach der Erbfolge, die rechtmäßige Herrscherin des englischen Königreichs. Ein Anspruch, der während des gesamten Films nie ernsthaft bestritten wird.
Trotzdem will Königin Elizabeth I (Margot Robbie) die Krone nicht abgeben.
Während in den kitschigen Adelsschmonzetten die Liebe im Mittelpunkt steht, geht es in „Maria Stuart, Königin von Schottland“ um die weltliche Macht. Heirat ist dabei nur ein Arrangement, um einen Thronnachfolger zu zeugen. Dafür braucht Maria Stuart einen Mann (den sie als Friedensangebot gegenüber Königin Elizabeth heiratet) und seinen Samen. Dass er homosexuell ist, ist ihr egal. Sowieso geht es an ihrem Hof in jeder Beziehung sehr leger zu.
Das sind in einem Kostümdrama schon einige neue Töne. Aber Theaterregisseurin Josie Rourke gelingt es in ihrem Filmdebüt nicht, daraus mehr als eine längliches Drama zu machen. Der Konflikt zwischen Maria Stuart und Königin Elizabeth stagniert, die Intrigen zwischen weltlicher und geistlicher Macht (bzw. Mächten) und die Heiratspolitik interessiert höchstens Historiker, die diesen Historienstreifen zum Anlass genommen haben, über die richtige Interpretation von Maria Stuart zu streiten. Die können sicher auch sofort erklären, ob der Hofstaat von Mary Stuart wirklich ethisch so divers wie im Film war.
„The Favourite“ ist dagegen grandioses Schauspielerkino, das den Königshof als einziges Intrigantenstadl zeichnet und fröhlich die historische Korrektheit ignoriert. Im Gegensatz zu anderen Filmen, in denen ständig die historische Genauigkeit betont und dann von Fachleuten bestritten wird, werden die Macher von „The Favourite“ nicht müde zu betonen, dass sie sich viele Freiheiten erlaubten. Dem Film schadete es nicht. Es ist ein sehr zeitgenössisches Werk, in dem zwei Frauen um ihre Stelle bei der Königin kämpfen.
Königin Anne (Olivia Colman, grandios!!!) ist die Herrscherin des Königreichs, als es zum Königreich Großbritannien wird und zur Weltmacht aufsteigt. Sie ist kränklich, hat schwere Gicht und ist übergewichtig. Trotz 17 Geburten zeugt sie keinen Thronfolger. Sie war die letzte Regentin aus dem Hause Stuart.
Sie gilt als schwach und manipulierbar. Ihre Cousine und Vertraute Lady Sarah Churchill, Herzogin von Marlborough (Rachel Weisz), übernimmt dagegen die Regierungsgeschäfte.
Ungefähr um 1700 taucht Abigail Masham (Emma Stone) am königlichen Hof auf. Also genaugenommen wird sie mit einem Tritt aus der Kutsche in den Matsch vor dem Palast gestoßen. Schon in dem Moment ist klar, dass Lanthimos Film kein Heile-Welt-Film wird. Mit Abigail ändert sich das Machtgefüge am Hof. Zunächst muss die arme Verwandte der Königin als Magd den Küchenboden schrubben. Doch schnell schleimt sie sich bei der Königin ein.
Lanthinos („The Lobster“, „The Killing of a sacred Deer“) inszeniert einen herrlich dekadenten Zickenkrieg, in dem immer wieder unklar ist, wer hier gerade wen manipuliert und drei Schauspielerinnen brillieren dürfen.
In den vergangenen Wochen wurde der Film zu recht mit Lob, Nominierungen und Preisen überschüttet. Der aktueller Höhepunkt sind die zehn Oscar-Nominierungen in den Kategorien „Bester Film“ (Ceci Dempsey, Ed Guiney, Yorgos Lanthimos, Lee Magiday), „Beste Regie“ (Yorgos Lanthimos), „Bestes Originaldrehbuch“ (Deborah Davis, Tony McNamara), „Beste Hauptdarstellerin“ (Olivia Colman), „Beste Nebendarstellerin“ (Emma Stone), „Beste Nebendarstellerin“ ( Rachel Weisz), „Beste Kamera“ (Robbie Ryan), „Bester Schnitt“ (Yorgos Mavropsaridis), „Bestes Szenenbild“ (Fiona Crombie, Alice Felton) und „Bestes Kostümdesign“ (Sandy Powell).
„The Favourite“ ist ein früher Höhepunkt des diesjährigen Kinojahrs.
Maria Stuart, Königin von Schottland (Mary, Queen of Scots, Großbritannien 2018)
Regie: Josie Rourke
Drehbuch: Beau Willimon
LV: John Guy: Queen of Scots: The True Life of Mary Stuart, 2004
mit Saoirse Ronan, Margot Robbie, Jack Lowden, Joe Alwyn, David Tennant, Guy Pierce, Gemma Chan, Martin Compston, Ismael Cruz Cordova, Brendan Coyle, Ian Hart, Adrian Lester
„Die irre Heldentour des Billy Lynn“ dauert in Ang Lees Verfilmung des gleichnamigen Buches von Ben Fountain nur einen Tag, ein Football-Spiel mit Vorspiel und unvermittelten Erinnerungen von Billy Lynn an seine Heldentat, die uns zeigt, dass er ein gewaltiges psychisches Problem hat.
Billy Lynn (Joe Alwyn), ein 19-jähriger Private, versuchte 2004 in einem Feuergefecht im Irak seinen Vorgesetzten, Sergeant Shroom (Vin Diesel), zu retten. Shroom starb. Der gesamte Einsatz war von der ersten bis zur letzten Minute ein Desaster. Aber Lynns Rettungsaktion wurde gefilmt. Danach wird er als Held gefeiert.
Jetzt soll er, begleitet von seinen Kameraden, auf einer zweiwöchigen Heldentour in seiner Heimat von seiner Heldentat erzählen. Vor dem Spiel bei einer Pressekonferenz. Während des Spiels sollen er und seine Einheit als Showeinlage in der Halftime Show (siehe Originaltitel) fungieren. Ebenfalls während des Spiels verhandelt ein Agent (Chris Tucker) über den Verkauf ihrer Geschichte nach Hollywood. Und der Besitzer des Texas Football Teams (Steve Martin) würde das Geld für eine Verfilmung von Billy Lynns Heldentat geben. Mit Billy Lynn als Helden, aber ohne seine Einheit als Co-Helden.
Außerdem versucht Lynns ältere Schwester (Kristen Stewart) ihn von einer Rückkehr in den Irak abzuhalten. Sie weiß, dass ihr Bruder an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet und dringend in Behandlung müsste. Ein Arzt würde ihm bei seinem Antrag auf vorzeitige Entlassung helfen.
Und das ist noch nicht alles: Lynn trifft einen Cheerleader (Makenzie Leigh), die er für die große Liebe seines Lebens hält
Das ist viel Stoff für einen zweistündigen Film, der dann doch erstaunlich dröge ist. Denn trotz des satirischen Potentials ist „Die irre Heldentour des Billy Lynn“ keine Satire und auch keine Anklage gegen die US-Gesellschaft und das Militär. Das wurde in zahlreichen anderen Filmen schon besser gemacht. Auch die heroischen Heldenshows, die durch die Provinz tingeln und fernab jeder Realität von den tapferen Taten der Soldaten erzählen, wurden schon thematisiert. Von Clint Eastwood in „Flags of our Fathers“ (USA 2006) oder, in einigen Szenen, in Joe Johnstons „Captain America: The First Avenger“ (USA 2011).
Ang Lees Film ist eher eine Charakterstudie eines jungen Mannes, der vom Militär einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, die dazu führt, dass ihm seine Kameraden wichtiger als alles andere sind. Über Ziel und Zweck des Krieges, hier des Irakkrieges, wird nicht gesprochen. Das entspricht dem gerne benutzten Selbstbild des Militärs als gut funktionierende, uneigennützige und von keinen Interessen geleiteten Organisation. Das ist natürlich ein Trugbild. Und es ist nicht egal, warum Jugendliche als Kanonenfutter in einen Krieg geschickt werden. Man kann auch nicht über Kriegseinsätze reden, ohne auch über die Ziele des Krieges zu reden und wie diese, in Verbindung mit patriotischen Gedanken, benutzt werden, um junge Menschen in den Krieg (und Tod) zu schicken. Lees Film hat allerdings keine Haltung zum Krieg.
Wobei Billy Lynn nicht aus Patriotismus, sondern weil er eine Haftstrafe vermeiden wollte, in den Irakkrieg zog. Was aber nur angesprochen wird, um die Verbindung zwischen Lynn und seiner Schwester zu erklären.
Diese militärische Gehirnwäsche und die Versuche des Neunzehnjährigen mit den Kriegserlebnissen zurechtzukommen werden in dem Film immer wieder gezeigt, wenn Lynn plötzlich von seinen Erinnerungen überwältigt wird, die Grenzen zwischen Erinnerung und Gegenwart und Fantasie, wenn der verstorbene Shroom mit ihm kluge Ratschläge gibt, verschwimmen. Teilweise innerhalb eines Bildes. Im ersten Moment ist der bruchlose Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit als ein Blick in Lynns Kopf eine gelungene Visualisierung von PTBS faszinierend. Schnell wird das Stilmittel allerdings zu einem Gimmick.
Kathryn Bigelow in „Tödliches Kommando – The Hurt Locker“ (USA 2008) und Clint Eastwood in „American Sniper“ (USA 2014) zeigten, um zwei Filme zu nennen, die im Kriegsgebiet und den USA spielen, eindrücklicher als Ang Lee die Probleme eines Soldaten bei der Rückkehr in das Zivilleben. Beide Male kehrten die Protagonisten immer wieder, auch nachdem sie ihren Dienst absolviert hatten, zurück in den Krieg.
Diese Filme hatten auch eine Haltung zum Krieg und zum Militär, über die gestritten werden kann. Eine solche Haltung ist in „Die irre Heldentour des Billy Lynn“ nicht zu finden. Auch weil der Film es bei einer reinen schön anzusehenden Bebilderung belässt, die ein Gefecht mit einer Halbzeitshow gleichsetzt und jede Zuspitzung vermissen lässt.
Die irre Heldentour des Billy Lynn (Billy Lynn’s long Halftime Walk, USA/Volksrepublik China/Großbritannien 2016)
Regie: Ang Lee
Drehbuch: Jean-Christophe Castelli
LV: Ben Fountain: Billy Lynn’s long Halftime Walk, 2012 (Die irre Heldentour des Billy Lynn)
mit Joe Alwyn, Kristen Stewart, Steve Martin, Vin Diesel, Chris Tucker, Garrett Hedlund, Makenzie Leigh, Ben Platt