Wer Bram Stokers Roman „Dracula“ gelesen oder eine der vielen Verfilmungen des Romans gesehen hat, weiß, wie die Fahrt der Demeter endet. Die Demeter ist das Frachtschiff, das Graf Dracula und mehrere mit Erde gefüllte Kisten aus seiner Heimat, den Karpaten, nach England befördert. In London möchte er das Nachtleben in sich aufsaugen. Während der Fahrt tötet Dracula die Seeleute. Als die Demeter während eines Orkans in der zur Grafschaft Yorkshire gehörenden Hafenstadt Whitby strandet, ist die gesamte Besatzung tot.
Bram Stoker schildert diese Reise auf wenigen Seiten. In meiner dreihundertseitigen Übersetzung des Romans sind es keine fünf Seiten, in denen es vor allem darum geht, zu erklären, wie Graf Dracula aus seiner Heimat nach England gelangt. Dort spielt dann der größte Teil des Romans. In den Verfilmungen, die für jede Generation von Kinogängern die Figur des blutsaugenden Grafen neu interpretierten, wurde es bislang ähnlich gehandhabt. Die Reise interessierte nicht weiter.
Schon vor über zwanzig Jahren hatte Bragi Schut jr. die Idee, das Logbuch der Demeter als Grundlage für einen Spielfilm zu nehmen. Seine Idee kam bei Produzenten gut an. Anschließend wanderte das Projekt durch viele Hände, bis die Geschichte der letzten Fahrt der Demeter jetzt von André Øvredal verfilmt wurde. Øvredal inszenierte davor „Troll Hunter“ und „Scary Story we tell in the Dark“. Beides durchaus gelungene Genrewerke. Auch sein neuester Film „Die letzte Fahrt der Demeter“ ist ein Horrorfilm, der am besten funktioniert, wenn man ihn als netten altmodischen, zu lang geratenen Grusler goutiert. Denn wofür Øvredal zwei Stunden benötigt, wurde früher in neunzig Minuten erzählt. Wie früher wurde der Film nicht auf einem Schiff, sondern im Studio gedreht und im Zweifelsfall sind Atmosphäre und Schocks wichtiger als Logik und Wahrscheinlichkeit.
Die Länge ist nur ein Problem des Films. Ein anderes ist die Geschichte, die auf dem Logbuch der Demeter basiert und dieses auf Spielfilmlänge erweitert. Dafür werden auch einige neue Figuren erfunden: ein naseweiser Schiffsjunge, ein überqualifizierter Doktor, der hier zum ersten Mal auf der Demeter als Schiffsarzt anheuert, und eine junge Frau, die ihr bisheriges Leben in den Karpaten in dem Dorf verbrachte, das von Graf Dracula beherrscht wird. Gerade Anna ist die problematischste neue Figur. Denn obwohl sie ihr Leben mehr oder weniger mit dem Blutsauger verbrachte und von ihm an Bord geschmuggelt wurde, weiß sie nicht, wie man sich vor ihm schützt oder ihn töten kann. Sie hat weniger Ahnung von Vampiren, ihren Eigenschaften, Stärken und Schwächen als Professor van Helsing, der in „Die letzte Fahrt der Demeter“ nicht auftaucht.
Henry Clemens, der Mediziner, der zurück nach England will und deshalb auf der „Demeter“ anheuert, ist eine okaye neue Figur, die als Wissenschaftler einen van-Helsing-Touch hat. Er kann Menschen verarzten. Beispielsweise Anna, die, als sie auf der Demeter gefunden wird, schwer verletzt ist. Er stellt Vermutungen über die Ursachen ihrer Verletzungen an. Er will herausfinden, was auf der Demeter geschieht. Und er will Dracula besiegen.
Die Seeleute verhalten sich ziemlich idiotisch. So suchen sie den geheimnisvollen Passagier, den einige der Seemänner gesehen habe wollen, bevorzugt nach Einbruch der Dunkelheit. Schließlich ist er tagsüber nicht zu sehen. Auch nachdem sie sehen, wie einige ihrer Kameraden, die von Dracula zu Vampiren gemacht wurden, im Sonnenlicht verbrennen, kommen sie nicht auf die Idee, dass sie den unbekannten Passagier tagsüber suchen und ins Sonnenlicht zerren sollten. Als sie ihm eine Falle stellen, stellen sie diese nachts und in Sichtweite des rettenden Landes. Letztendlich sind sie Vampirfutter.
Graf Dracula ist erst gegen Ende länger im Bild. Er sieht aus wie Nosferatu, also wie Max Schreck in Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (eine nicht autorisierte Verfilmung von Stokers Roman) oder wie Klaus Kinski in Werner Herzogs Remake „Nosferatu – Phantom der Nacht“. Allerdings hat Javier Botets Dracula nichts verführerisches. Er ist ein nur nach Nahrung gierendes Monster.
Gerade weil die Macher in „Die letzte Fahr der Demeter“ nicht eine neue Menschen-müssen-auf-einem-Schiff-gegen-ein-Monster-kämpfen-Geschichte erzählen wollen, sondern einen Teil von Stokers „Dracula“-Roman als eigenständigen Film verfilmen wollten, müssen sie auch die gesamte, allseits bekannte Vampirmythologie und die Geschichte des Grafen Dracula beachten. Das führt schon bei der Beladung der Demeter in der Schwarzmeerstadt Warna zu den ersten Problemen. Während die Einheimischen sofort das Zeichen des Grafen Dracula auf einer Kiste erkennen und sich danach weigern, das Schiff weiter zu beladen und mitzufahren, bekommen der Kapitän und seine Stammbesatzungsmitglieder nichts davon mit. Auf See müssen sie sich, wie wir es aus unzähligen anderen Horrorfilmen kennen, immer wieder dumm und irrational verhalten.So verläuft die letzte Fahrt der Demeter dann, mit einigen selbst verschuldeten Problemen, ziemlich vorhersehbar.
Wie es besser geht zeigen die „Sherlock“-Erfindern Mark Gatiss und Steven Moffat in der von ihnen geschriebenen dreiteilige BBC-Miniserie „Dracula“ (mit Claes Bang als Dracula). Die zweite Folge schildert ebenfalls die Geschichte der Überfahrt.

Die letzte Fahrt der Demeter (The last Voyage of the Demeter, USA/Deutschland 2023)
Regie: André Øvredal
Drehbuch: Bragi Schut jr., Zak Olkewicz (basierend auf der Story von Bragi Schut jr.)
LV: Bram Stoker: Dracula, 1897 (Dracula) (genaugenommen nur das wenigen Seiten umfassende Logbuch der Demeter)
mit Corey Hawkins, Aisling Franciosi, Liam Cunningham, David Dastmalchian, Javier Botet, Woody Norman
Länge: 119 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Hinweise
Filmportal über „Die letzte Fahrt der Demeter“ (wurde im Studio Babelsberg gedreht)
Moviepilot über „Die letzte Fahrt der Demeter“
Metacritic über „Die letzte Fahrt der Demeter“
Rotten Tomatoes über „Die letzte Fahrt der Demeter“
Wikipedia über „Die letzte Fahrt der Demeter“ (deutsch, englisch)
und dann gibt es noch einige andere Manifestationen von Graf Dracula, die ich ausführlicher besprochen habe
Meine Besprechung von Dario Argentos „Dario Argentos Dracula“ (Dracula 3D, Italien 2012)
Meine Besprechung von Gary Shores „Dracula Untold“ (Dracula Untold, USA 2014)
Meine Besprechung von Chris McKays „Renfield“ (Renfield, USA 2023)
Veröffentlicht von AxelB 
