In seinen ersten beiden Hercule-Poirot-Verfilmungen „Mord im Orient-Express“ und „Tod auf dem Nil“ erzählte Kenneth Branagh bekannte und bereits sehr erfolgreich verfilmte Poirot-Romane noch einmal. Dabei hielt er sich weitgehend an die von Agatha Christie geschriebenen Romane. In seinem dritten Hercule-Poirot-Film ist alles anders. Die von Agatha Christie geschriebene Vorlage ist unbekannter. „Hallowe’en Party“ wurde einmal, 2010 im Rahmen der langlebigen ITV-Poirot-TV-Serie mit David Suchet als Ermittler, verfilmt. Auch diese Verfilmung ist unbekannter. Dieses Mal hielten die Macher sich kaum bis überhaupt nicht an die Vorlage. Bei Agatha Christie spielt die jetzt als „A Haunting in Venice“ verfilmte Geschichte 1969 in einem englischen Dorf.
Der Film spielt, wie der Titel andeutet, in Venedig. Er spielt auch nicht in den späten sechziger Jahren, sondern 1947. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog der weltberühmte Detektiv Hercule Poirot sich zurück. In Venedig genießt er seinen Ruhestand. Da bittet ihn die erfolgreiche und mit ihm befreundete Krimi-Autorin Ariadne Oliver um einen Gefallen. Er soll sie zu einer Séance begleiten.
In dem Palazzo der früheren Opernsängerin Rowena Drake soll die bekannte Hellseherin Joyce Reynolds an Halloween auftreten und den Kontakt zu Drakes vor einem Jahr verstorbener Tochter Alicia herstellen.
Poirots Freundin Oliver hat eine ihrer Shows besucht. Seitdem fragt sie sich nun, ob Reynolds eine Schwindlerin ist oder ob sie wirklich Kontakt zu den Toten hat. Denn ihr gelang es nicht, die Tricks von Reynolds zu durchschauen. Das soll jetzt ihrem Freund Hercule Poirot gelingen. Poirot, der auch nicht an Hellseherei, Wahrsagerei und Gesprächen mit den Toten glaubt, begleitet seine Freundin zu der Abendgesellschaft.
Die Séance nimmt einen ungeahnten dramatischen Verlauf. Und kurz darauf ist Reynolds tot. Spätestens in dem Moment sind im Palazzo und im Kinosaal die letzten Zweifler überzeugt, dass Reynolds eine Betrügerin ist. Eine echte Hellseherin hätte ihren Tod doch vorhersehen können.
In den nächsten Stunden versucht Poirot in dem düsteren Palazzo den Mord und viele weitere große und kleine Verbrechen und Lügen aufzuklären. Dabei zweifelt er mehr als einmal an seiner Beobachtungsgabe und seinen legendären kleinen grauen Zellen.
Das klingt doch ganz spannend. Aber Michael Green, der auch für Branaghs vorherige Poirot-Filme die Drehbücher schrieb, gelingt es nie, Poirots Ermittlungen und Überlegungen nachvollziehbar zu erzählen. Allerdings, das muss gesagt werden, haben Green und Branagh dieses Mal kein Interesse an einem konventionellem Rätselkrimi. Sicher, Poirot sucht den Täter, er verhört die Anwesenden, dröselt die Hinweise auf und enttarnt am Ende den Täter. Aber dieses Mal versammelt er dafür nicht, wie wir es bei einem Rätselkrimi erwarten, alle Tatverdächtigen und Anwesenden in einem Raum und präsentiert ihnen ein halbes Dutzend verschiedener Täter, ehe er, zu unserer Verblüffung, den wahren Täter enthüllt. In „A Haunting in Venice“ geschieht die Enttarnung des Mörders quasi nebenbei.
Branagh erzählt die Tätersuche und Enttarnung des Mörders so lustlos und chaotisch, dass wahrscheinlich niemand diesen Teil des Films nacherzählen kann. Es kann auch nicht mitgerätselt werden.
Als Rätselkrimi ist „A Haunting in Venice“ ein ziemlicher Totalausfall.
Aber schon in den ersten, sehr atmosphärischen Minuten entwirft Branagh ein Bild von Venedig als Geisterstadt, in der Maskierte und Tote in Gondeln durch die Stadt gleiten. Nach dem Mord ermittelt Poirot in einem sehr dunklem Palazzo. Fast jedes von Branaghs Stammkameramann Haris Zambarloukos aufgenommene Bild ist schräg und arbeitet mit teils extrem verschobenen Perspektiven. Unterbrochen von wenigen exzessiven Kamerafahrten und vielen desorientierenden Schnitten. Das bedient durchgehend die Klaviatur des Gothic-Horrorfilms.
Als sich wenig um erzählerische Konventionen kümmernder Horrorfilm voller echter und falscher Gespenster ist „A Haunting in Venice“ ziemlich gelungen.
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Und jetzt zur Vorlage: Agatha Christies „Die Halloween-Party“. In seinem Vorwort zur Neuausgabe schreibt Michael Green, er habe einen Mord begangen und das Opfer sei Agatha Christies drittletzter Hercule-Poirot-Roman „Die Halloween-Party“. Denn die Verfilmung hat mit dem Roman, bis auf einige zufällige und vermeidbare Ähnlichkeiten und Namen, nichts zu tun.
Während einer von Rowena Drake in ihrem Haus für die Kindes des Dorfes Woodleigh Common veranstalteten Halloween-Party, behauptet die dreizehnjährige Joyce Reynolds, sie habe vor längerer Zeit einen Mord beobachtet. Das sei ihr damals nicht bewusst gewesen. Kurz darauf ist sie tot. Sie wurde in der Bibliothek des Hauses in einem für ein Spiel mit Wasser gefülltem Metalleimer ertränkt.
Die Krimiautorin Ariadne Oliver (ja, sie könnte Agatha Christie sein), die während der Tatzeit in Drakes Haus war, bittet ihren Freund Hercule Poirot um Hilfe. Er soll den Täter finden.
Poirot beginnt in dem Dorf mit der Mördersuche. Dabei will er auch herausbekommen, ob Joyce einen Mord beobachtet hat und, wenn ja, wer das Opfer und wer der Täter ist.
„Die Halloween-Party“ (bzw. früher „Die Schneewittchen-Party“ oder, im Original, „Hallowe’en Party“) ist einer von Agatha Christies letzten Romanen. Und er hat nicht die Qualität ihrer früheren Geschichten. Die Figuren sind blass. Der Rätselplot ist bestenfalls solala. Und am Ende wird der Täter, wie in der Verfilmung, nicht in einer großen Versammlung aller Tatverdächtigen enttarnt. Er wird auf frischer Tat ertappt.
A Haunting in Venice (A Haunting in Venice, USA 2023)
Regie: Kenneth Branagh
Drehbuch: Michael Green
LV: Agatha Christie: Hallowe’en Party, 1969 (Die Schneewittchen-Party; Die Halloween-Party, und neuerdings A Haunting in Venice)
mit Kenneth Branagh, Kyle Allen, Michelle Yeoh, Camille Cottin, Jamie Dornan, Tina Fey, Jude Hill, Ali Khan, Emma Laird, Kelly Reilly, Riccardo Scamarcio
Länge: 104 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die Vorlage in der Filmausgabe
Agatha Christie: A Haunting in Venice
(übersetzt von Hiltgunt Grabler) (mit einem Vorwort von Michael Green)
Atlantik, 2023
256 Seiten
14 Euro
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Ältere deutsche Titel
Die Schneewittchen-Party (ursprünglicher Titel)
Die Halloween-Party (Titel der Neuausgabe von 2018)
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Originalausgabe
Hallowe’en Party
Harper Collins, London 1969
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Hinweise
Moviepilot über „A Haunting in Venice“
Metacritic über „A Haunting in Venice“
Rotten Tomatoes über „A Haunting in Venice“
Wikipedia über „A Haunting in Venice“ (deutsch, englisch), die Vorlage (deutsch, englisch), Hercule Poirot (deutsch, englisch) und Agatha Christie (deutsch, englisch)
Thrilling Detective über Hercule Poirot
Meine Besprechung von Kenneth Branaghs „Cinderella“ (Cinderella, USA 2015)
Meine Besprechung von Kenneth Branaghs „Belfast“ (Belfast, USA 2021)
Krimi-Couch über Agatha Christie
Meine Besprechung von Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ (Murder on the Orient Express, 1934)