Wo soll ich nur anfangen bei diesem Totaldesaster? Vielleicht mit zwei Hinweisen.
Erstens: die „X-Men“-Filme waren immer mal besser, mal schlechter. So war der letzte „X-Men“-Film „Apocalypse“, in dem die X-Men als Gruppe auftreten, schlecht. „Logan“, der letzte Auftritt von Hugh Jackman als Wolverine, war nicht nur der beste „Wolverine“-Film, sondern einer der besten Filme aus dem „X-Men“-Universum. Wenn wir die beiden „Deadpool“-Filme ignorieren. Sie werden zwar zum „X-Men“-Franchise gezählt, aber eigentlich gehören sie nicht in die Welt der X-Men.
Zweitens: dass die Premiere von „X-Men: Dark Phoenix“ mehrfach verschoben wurde und es umfangreiche Nachdrehs gab, sagt nicht unbedingt etwas über die Qualität des Films aus. Manchmal ist der Film, der dann in die Kinos kommt, gelungen. Meistens allerdings nicht.
„X-Men: Dark Phoenix“ gehört zu den Filmen, bei denen irgendwann in der Produktion irgendetwas so gründlich schief lief, dass man nicht erkennt, an welchem Punkt aus einem potentiell grandiosem Blockbuster das Gegenteil wurde. Hier lief einfach alles so schief, dass es keinen Unterschied macht, welche Szenen nachgedreht wurden und welche nicht. Und auch nicht, dass der gesamte dritte Akt verändert wurde. Ursprünglich spielte er im Weltraum. Jetzt spielt er in einem Zug.
Schon die ersten Filmminuten sind beeindruckend schlampig inszeniert. 1975 fahren die Greys auf einer Landstraße. Sie streiten sich über die Musik und die achtjährige Jean Grey, die noch nichts von ihren Kräften ahnt, provoziert einen Autounfall, bei dem ihre Eltern sterben. Das Problem in dieser Szene ist, dass die am Steuer sitzende Mutter sich während der Fahrt immer wieder für längere Zeit zu ihrer auf der Rückband sitzenden Tochter umdreht und niemand sich daran stört, weil Mütter selbstverständlich auch bei gut hundert Stundenkilometern in Gesprächen immer ihrer Tochter tief in die Augen blicken.
Entsprechend sorglos geht es die nächsten zwei Stunden weiter. Dabei sind solche Details, die in einem besseren Film nicht negativ auffallen, ein deutlicher Hinweis auf fundamentale Schwächen im gesamten Film.
Nach dem Unfall wird Jean Grey von Professor Charles Xavier in seine Mutantenschule aufgenommen.
Jahre später gehört sie zu den X-Men, dieser Gruppe hoch- und ungewöhnlich begabter Menschen. Professor Charles Xavier ist der Anführer dieser gesellschaftlichen Außenseiter. Er will, dass die Mutanten keine Außenseiter mehr sind. Dafür müssen sie von der Menschheit als gleichberechtigt anerkannt werden.
1992 ist ihm das gut gelungen. Er trifft sich, ganz Lobbyist in eigener Sache, mit Staatsoberhäuptern. Die X-Men sind eine Truppe, die immer wieder Menschen aus tödlichen Situationen rettet. Als ein Space Shuttle in Gefahr gerät, schickt Xavier sofort eine Rettungsmission los. Die Astronauten können gerettet werden.
Aber ‚Phoenix‘ Jean Grey gerät mit einer unbekannten und rätselhaften Substanz in Kontakt. Danach wird sie körperlich und geistig stärker. Sie will kein Mitglied der X-Men mehr sein. Sie wendet sich gegen ihre Familie. Und sie will mehr über ihre Vergangenheit erfahren. Denn Xavier hat sie über ihre Eltern belogen.
Das muss als Storyskelett genügen, um beliebige Auftritte der verschiedenen X-Men und wenig berauschende CGI-Actionszenen aneinanderzureihen.
Die Schauspieler laufen dabei durch die Landschaft, als hätten sie keine Ahnung, was sie in dem Film zu suchen haben. Jessica Chastain als aus dem Weltall kommende Bösewichtin Vuk verzichtet auf jegliches Schauspiel und steht so ausdruckslos wie ein Pappaufsteller herum. Jennifer Lawrence scheint zu ihrem Auftritt als Raven/Mystique erpresst worden zu sein. James McAvoy ist wieder Professor Charles Xavier (mit wechselnden Frisuren) und Michael Fassbender ist wieder ‚Magneto‘ Erik Lehnsherr. Dieses Mal lebt er als Anführer der Mutanten-Selbstversorger-Hippie-Kommune Genosha auf einer Insel. Beide Schauspieler laufen auf Autopilot durch das Bild.
Sophie Turner hinterlässt in ihrem zweiten Auftritt als ‚Phoenix‘ Jean Grey und als titelgebende, unglaublich mächtige Dark Phoenix ebenfalls keinen nachhaltigen Eindruck. Die Macher sahen das wohl so ähnlich. In den Credits wird sie nämlich erst an fünfter Stelle, nach James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence und Nicholas Hoult, genannt.
Offiziell spielt „Dark Phoenix“ 1992. Aber nichts im Film deutet darauf hin, dass der Film in diesem Jahr spielt. Es gibt keinerlei Hinweise auf das Jahr oder popkulturelle Anspielungen, wie sie sogar jede TV-Serie (vollkommen unabhängig von ihrem Budget) hinbekommt. Dass es anders geht, zeigten in den vergangenen Monaten das Neunziger-Jahre-Fest „Captain Marvel“ und das Achtziger-Jahre-Fest „Bumblebee“. Oder die „X-Men“-Filme „Erste Entscheidung“ und „Zukunft ist Vergangenheit“ für die sechziger und siebziger Jahre. „Dark Phoenix“ könnte mit seinen zahlreichen, zeitlich nicht zuordenbaren Innenaufnahmen aus Xaviers Mutantenschule und einem Gefangenentransportzug irgendwann spielen.
Das alte X-Men-Thema, dass sie Außenseiter sind, die zur Gesellschaft dazugehören wollen, wird in „Dark Phoenix“ selbstverständlich auch angesprochen. Im ersten „X-Men“-Film wurde eine Linie von den Konzentrationslagern der Nazis und der Vernichtung der Juden zu den X-Men gezogen.
Spätestens seit der Wahl von Donald Trump und dem Erstarken rechtspopulistischer Einstellungen, wozu Rassismus, Antisemitismus, Ausländer- und Islamfeindlichkeit gehören, ist der Umgang der Mehrheit mit Minderheiten ein brennend aktuelles Thema, das auch in einem 1992 spielendem „X-Men“-Film behandelt werden kann. Die einzige Antwort, die der Film in der Gestalt von Professor Xavier darauf gibt, ist Überanpassung. Um von der Gesellschaft anerkannt und akzeptiert zu werden, müssen die Mutanten besser, fehlerfreier und unterwürfiger sein, als die Menschen. Dieses alte und diskriminierende Konzept von Integration wird im Film nicht weiter problematisiert.
Weil allerdings immer wieder gezeigt wird, dass die Menschen die Mutanten nicht dauerhaft als gleichberechtigt anerkennen wollen, müsste Xavier irgendwann darüber nachdenken, ob sein Konzept von Integration tragbar ist. Denn es ist höchstens kurzfristig erfolgreich.
„X-Men: Dark Phoenix“ ist das Regiedebüt von Simon Kinberg. Er schrieb die Drehbücher zu den „X-Men“-Filmen „Der letzte Widerstand“ (2006), „Days of Future Past“ (2014) und „Apocalypse“ (2016). Außerdem ist er seit seinem ersten „X-Men“-Drehbuch auch als Produzent in die Serie involviert. Man kann ihm also nicht vorwerfen, dass er keine Ahnung vom „X-Men“-Filmuniversum hat. Aber eine tragfähige Idee, wie er die Geschichte der X-Men weiter und wahrscheinlich zu Ende erzählt, hat er in „Dark Phoenix“ nicht.
Denn das „X-Men“-Franchise wanderte durch die jüngsten Firmenverkäufe von Twentieth Century Fox zu den Marvel Studios und Disney. Wie Marvel-Produzent Kevin Feige die Geschichte der X-Men weitererzählt und ob er sie in das Marvel Cinematic Universe integriert, ist noch unklar. Aktuell sind jedenfalls keine weiteren Filme mit diesen X-Men geplant.
X-Men: Dark Phoenix (Dark Phoenix, USA 2019)
Regie: Simon Kinberg
Drehbuch: Simon Kinberg
LV: John Byrne, Chris Claremont: The Dark Phoenix Saga, 1980 (X-Men: Die Dark Phoenix Saga)
Erfinder: Comiccharaktere von Jack Kirby und Stan Lee
mit James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Nicholas Hoult, Sophie Turner, Tye Sheridan, Alexandra Shipp, Evan Peters, Kodi Smit-McPhee, Jessica Chastain
Länge: 114 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
–
Hinweise
Moviepilot über „X-Men: Dark Phoenix“
Metacritic über „X-Men: Dark Phoenix“
Rotten Tomatoes über „X-Men: Dark Phoenix“
Wikipedia über „X-Men: Dark Phoenix“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Bryan Singers „X-Men: Apocalypse“ (X-Men: Apocalypse, USA 2016)
Meine Besprechung von James Mangolds “Wolverine – Weg des Kriegers” (The Wolverine, USA 2013)
Meine Besprechung von James Mangolds „Logan – The Wolverine“ (Logan, USA 2017)