Neu im Kino (und bald im Streaming)/Filmkritik: Über Noah Baumbachs Porträt des Hollywood-Stars „Jay Kelly“

November 21, 2025

Jay Kelly (George Clooney) ist ein alternder Hollywood-Star klassischer Prägung. So wie, uh, der Star aus „Out of Sight“, „Ocean’s Eleven“ und der Nespresso-Werbung oder Brad Pitt (der die Rolle ursprünglich spielen sollte) oder Leonardo DiCaprio (der gerade „One Battle after another“ drehte). Nach dem Tod eines mit ihm befreundeten Regisseurs, der ihm seine erste große Rolle gab, und dem Wunsch eines italienischen Filmfestival, ihn für sein Lebenswerk auszuzeichnen, gerät er in eine Sinnkrise. Verschärft wird sie von seiner jüngsten Tochter. Sie will den Sommer vor ihrem Studienbeginn nicht mit ihm, sondern mit ihren Freunden in Europa verbringen.

Kurzentschlossen fliegt er mit seiner Entourage, die dafür alle ihre Pläne umwirft, nach Europa. Er will sie dort zufällig treffen und dann mit ihr Zeit verbringen – und die Zeit nachholen, die sie bis jetzt nicht miteinander verbrachten, weil er einen weiteren Film drehte.

Diese Erlebnisse des Hollywoodstars zwischen Luxushotels und ganz normalen Menschen in Frankreich und Italien, filmisch angesiedelt zwischen Screwball-Comedy und nostalgischer Reiseerzählung, ist der schwächere Teil von Noah Baumbachs neuestem Film „Jay Kelly“. Er wirkt, als hätten sie aus Frankreich und Italien Geld bekommen mit der Auflage vor Ort zu drehen. Also erfanden sie einige Szenen, die genausogut an jedem anderen Ort spielen könnten.

Viel gelungener und umfangreicher sind die in Hollywood spielenden Szenen. Das sind einmal Aufnahmen von Dreharbeiten, so beginnt „Jay Kelly“ mit einer grandiosen Plansequenz,in Hollywood und in Kellys Villa. Immer ist der Hollywood-Star von Dutzenden Helfern umgeben, die ihm alles abnehmen, was lästig sein könnte. Die in der Gegenwart spielenden Szenen werden von Rückblenden unterbrochen. In diesen Erinnerungen an wichtige Stationen in seinem Leben und seiner Karriere ist er dabei gleichzeitig als alter und junger Jay Kelly im Bild.

Aus der Gegenwart und Kellys Erinnerungen entwirft Noah Baumbach ein liebevoll-ironisches Porträt eines selbstbezogenen Hollywood-Stars, der etwas den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. Er ist kein schlechter Mensch, aber ein Mensch, der in seinen Rollen interessanter als in seinem Privatleben ist.

Neben Kelly ist sein Manager Ron Sukenick die zweite Hauptfigur. Gespielt wird Sukenick überzeugend von Adam Sandler in einer seiner seltenen dramatischen Rollen. Sukenicks Leben besteht darin, Jay Kelly zu einem angenehm sorgenfreiem Leben zu verhelfen. Er liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und tut alles, damit er erfolgreich ist und unbeschwert sein Image leben kann. Auch wenn dafür ein lange geplantes Tennismatch mit seiner Tochter ausfallen muss. Warum Sukenick sich für dieses Leben entschied, erfahren wir nicht. Aber wir erfahren, was er dafür opfert und erhält.

Zum Vergnügen beim Ansehen dieses bittersüß-melanchollischen, eindeutig für die Kinoleinwand gemachten Abgesang auf ein Hollywood, das es so schon lange nicht mehr gibt, trägt auch das große Staraufgebot in teils kleinsten Rollen bei.

P. S.: Jay Kelly ist eine fiktive Figur und George Clooney ist nicht Jay Kelly.

Jay Kelly (Jay Kelly, USA 2025)

Regie: Noah Baumbach

Drehbuch: Noah Baumbach, Emily Mortimer

mit George Clooney, Adam Sandler, Laura Dern, Billy Crudup, Riley Keough, Grace Edwards, Stacy Keach, Jim Broadbent, Patrick Wilson, Eve Hewson, Greta Gerwig , Alba Rohrwacher, Josh Hamilton , Lenny Henry, Emily Mortimer, Nicôle Lecky, Thaddea Graham, Isla Fisher, Louis Partridge, Charlie Rowe, Jamie Demetriou, Parker Sawyers, Patsy Ferran, Lars Eidinger, Kyle Soller, Tom Francis, Giovanni Esposito

Länge: 132 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Jetzt in einigen wenigen Kinos und auf Netflix ab 5. Dezember 2025.

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Jay Kelly“

Metacritic über „Jay Kelly“

Rotten Tomatoes über „Jay Kelly“

Wikipedia über „Jay Kelly“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Noah Baumbachs „Frances Ha“ (Frances Ha, USA 2012)

Meine Besprechung von Noah Baumbachs „Gefühlt Mitte Zwanzig“ (While we’re young, USA 2014)

Meine Besprechung von Noah Baumbachs „Mistress America“ (Mistress America, USA 2015)

Meine Besprechung von Noah Baumbachs Don-DeLillo-Verfilmung „Weißes Rauschen“ (White Noise, USA 2022)


Neu im Kino/Filmkritik: „Maria“ Callas, gesehen durch die Augen von Pablo Larraín

Februar 6, 2025

Maria“ ist der dritte Film in Pablo Larraíns Trilogie über bedeutende Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie begann gelungen mit „Jackie“ und ging furios mit „Spencer“ weiter. „Jackie“ schildert die Stunden und Tage nach der Ermordung von John F. Kennedy und wie seine Witwe Jackie Kennedy (gespielt von Natalie Portman) damit umgeht. „Spencer“ schildert ein Weihnachten am englischen Königshaus, als die Ehe von Prinz Charles und Prinzessin Diana, bzw. Lady Diana, geborene Diana Spencer (gespielt von Kristen Stewart) schon am Ende war. „Maria“ schildert die letzte Woche im Leben der heute immer noch bekannten Opernsängerin Maria Callas. Gespielt wird sie von Angelina Jolie, die sich in den vergangenen Jahren als Schauspielerin rar machte, für diesen Film singen lernte und niemals hinter der Rolle verschwindet. Sie bleibt immer Angelina Jolie, die Maria Callas spielt.

Maria Callas wurde am 2. Dezember 1923 in New York City geboren. Sie starb in Paris am 16. September 1977. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Paris in einer von ihr prunkvoll eingerichteten Wohnung. Ihr Kammerdiener Ferruccio (Pierfrancesco Favino) und ihre Köchin Bruna (Alba Rohrwacher) kümmern sich um sie und erfüllen jeden ihrer Wünsche. Meist noch, bevor sie ihn äußert. Ein junger, möglicherweise nur in ihrer Fantasie existierender TV-Reporter interviewt sie zu ihrem Leben. Sie streift allein durch Paris. Sie probt in der Oper wieder für einen großen öffentlichen Auftritt. Der Pianist, der sie bei den Proben unterstützt, geht ebenfalls auf jeden ihrer Wünsche ein. Die tablettensüchtige Diva selbst hat sich in dem Moment schon in eine Scheinwelt geflüchtet, die Larraín in seinem Film zeigt. Schließlich spielt „Maria“, bis auf wenige Momente, im Kopf von Maria Callas. In dieser Welt kämpft die alternde Opernsängerin gegen Widerstände, Selbstzweifel und Dämonen, die es in der realen Welt nicht gibt. Sie fühlt sich fremd in ihrem Leben.

Damit führt Larraín Überlegungen aus „Jackie“ und „Spencer“ fort, verändert sie aber an einem entscheidenden Punkt. Jackie und Spencer mussten auch gegen äußere Widerstände kämpfen. In beiden Filmen versuchen mächtige Institutionen der Frau ihren Willen aufzuzwingen. Sie soll passiv tun, was die primör von Männern geleiteten Institutionen von ihr verlangen. In „Jackie“ ist es der politische Apparat, genaugenommen die Politiker und hohen Beamten, die für John F. Kennedy arbeiteten und jetzt überlegen, wie sie mit der Ermordung des Präsidenten der USA umgehen, und die Öffentlichkeit, die ein bestimmtes Bild von einer trauernden Witwe verlangt. In „Spencer“ ist es das Königshaus, das mit klinischer Präzision das königliche Protokoll eines Weihnachtsfestes durchzieht, das Spencer die Luft zum Atmen nimmt. In dem Landsitz Sandringham House kämpft sie um kleinste Freiheiten. Da wird, weil auf Anordnung der Königin schon bei der Ankunft das Gewicht gemessen wird, sogar der Griff nach einer Süßigkeit zu einem Akt des Widerstandes. Auch Prinzessin Diana kämpft gegen eine Öffentlichkeit, die von der Frau eines künftigen Königs ein bestimmtes Verhalten erwartet.

Das fehlt in „Maria“. Maria Callas kämpft nur gegen innere Widerstände. Äußere Widerstände sind im Rahmen der Filmgeschichte, die sich auf ihre letzten Tage konzentriert, nicht vorhanden.

Eben diese Konstruktion, in der auf den äußeren Konflikt verzichtet wird, beraubt den Film eines großen Teils der Spannung, die „Jackie“ und „Spencer“ haben. In dem Geisterfilm „Maria“ gibt es nur noch einen inneren Konflikt. Larraíns Biopic ist dann nur noch das Porträt einer etwas anstrengenden, tablettensüchtigen Diva (ja, das ist fast schon der berühmte ‚weiße Schimmel‘), die an einem Herzinfarkt stirbt.

Um nicht falsch verstanden zu werden: „Maria“ ist kein schlechter Film, aber es ist mit Abstand der schwächste Film der Trilogie.

Grandios ist, wieder einmal, Pierfrancesco Favino als Kammerdiener. Während des gesamten Films muss er nur, mit ausdrucksloser Miene, dienstbeflissen anwesend sein und seiner launenhaften Arbeitgeberin jeden Wunsch erfüllen. Und dabei sagt er, ohne etwas zu sagen, unglaublich viel.

Maria (Maria, Deutschland/Italien/USA 2024)

Regie: Pablo Larraín

Drehbuch: Steven Knight

mit Angelina Jolie, Pierfrancesco Favino, Alba Rohrwacher, Haluk Bilginer, Kodi Smit-McPhee, Valeria Golino, Vincent Macaigne, Aggelina Papadopoulou, Jörg Westphal

Länge: 124 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Maria“

Moviepilot über „Maria“

Metacritic über „Maria“

Rotten Tomatoes über „Maria“

Wikipedia über „Maria“ (deutsch, englisch) und Maria Callas (deutsch, englisch)

AllMusic über Maria Callas

Meine Besprechung von Pablo Larrains „El Club“ (El Club, Chile 2015)

Meine Besprechung von Pablo Larraíns „Jackie: Die First Lady“ (Jackie, USA 2016)

Meine Besprechung von Pablo Larrains „Neruda“ (Neruda, Chile/Argentinien/Frankreich/Spanien 2016)

Meine Besprechung von Pablo Larrins „Spencer“ (Spencer, Deutschland/Großbritannien 2021)


TV-Tipp für den 26. Oktober: Das Märchen der Märchen

Oktober 25, 2024

Tele 5, 20.15

Das Märchen der Märchen (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Regie: Matteo Garrone

Drehbuch: Matteo Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso

LV: Giambattista Basile: Il Racconto dei Racconti, 1634/1636 (Das Märchen der Märchen; Das Pentameron)

Ein Märchenfilm, der kein Märchenfilm für Kinder ist. Auch weil Märchen ursprünglich nicht für Kinder waren.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichachel, Stacy Martin, Bebe Cave, Christian Lees, Jonah Lees, Alba Rohrwacher, Massimo Ceccherini, Guillaume Delaunay

Wiederholung: Sonntag, 27. Oktober, 02.40 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Moviepilot über „Das Märchen der Märchen“

Metacritic über „Das Märchen der Märchen“

Rotten Tomatoes über „Das Märchen der Märchen“

Wikipedia über „Das Märchen der Märchen“ (englisch, italienisch) und „Das Pentagramm“

„Das Pentagramm“ im Projekt Gutenberg (bei Amazon gibt es ebenfalls eine kostenlose Kindle-Version)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Dogman“ (Dogman, Italien/Frankreich 2018)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Ich Capitano“ (Io capitano, Italien/Belgien 2023)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Alice Rohrwachers „La Chimera“

April 11, 2024

Es heißt, die Geschichte von „La Chimera“ spiele in Italien in den 80er Jahren. Aber es ist ein Italien, das wie ein Fantasieland wirkt. Sicher, gedreht wurde in existierenden Landschaften in existierenden Gebäuden, aber nie sieht es nach den real existierenden 80er Jahren aus. Alles sieht wie ein über Jahrzehnte konserviertes Nachkriegsitalien zwischen Neorealismus, Felllini und etwas Pasolini aus. Eine alternde Aristokratin zelebriert in einer Villa, die mehr Ruine als Villa ist, einen aristokratischen Lebensstil. Arthur, so etwas wie der Protagonist der Geschichte, ist ein Ausländer unklarer, möglicherweise britischer Herkunft. Er lebt in einem an die Stadtmauer geklatschten Windschutz, der kaum Schutz vor dem Wetter bietet und sogar im Mittelalter als ärmlich gegolten hätte. Er ist der Anführer einer Bande ziemlich erfolgloser einheimischer Grabräuber. Mit einer Wünschelrute kann er in Etrurien Gräber finden. In ihnen sind wertvolle Grabbeigaben. Sie plündern die Gräber ohne einen Funken Kunstverstand und verkaufen die Beute anschließend für einige Lire auf dem Schwarzmarkt. Aber Arthur ist kein normaler Grabräuber. Seine von ihm gesuchte Chimäre sieht wie eine Frau aus, die er verloren hat und die er hinter dem Tor zum Jenseits hofft zu finden.

Und wer jetzt schon entnervt abwinkt, wird an „La Chimera“ keine Freude haben. Alice Rohrwacher neuer Film ist, nach „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“, der Abschluss ihrer Trilogie über das ländliche Italien. An einem schnöden Realismus oder einer einfach fassbaren Sozialkritik ist sie nicht interessiert. Ihr Realismus endet in „La Chimera“ mit den Drehorten und der in Italien real vorhandenen Grabräuberei. Danach ist der Schritt in fantastische und magische Welten, in denen die Gesetze der Logik und der Rationalität nicht gelten, schnell vollzogen. Zwischen diesen Welten, der Gegenwart und der Vergangenheit, mäandert der Film, wenig bis überhaupt nicht an Erklärungen interessiert, vor sich hin.

Das bewegt sich eigenständig in einem eigenen erzählerischem, an italienische Erzähltraditionen anknüpfendem Kosmos. Vielen Kritikern gefiel das sehr gut. Mir blieb der sich daraus ergebende Reiz weitgehend verborgen.

La Chimera (La Chimera, Italien/Frankreich/Schweiz 2023)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

mit Josh O‘Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Yile Yara Vianello, Lou Roy-Lecollinet

Länge: 133 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Metacritic über „La Chimera“

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Wikipedia über „La Chimera“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)


TV-Tipp für den 7. Januar: Das Märchen der Märchen

Januar 6, 2023

Tele 5, 20.15

Das Märchen der Märchen (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Regie: Matteo Garrone

Drehbuch: Matteo Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso

LV: Giambattista Basile: Il Racconto dei Racconti, 1634/1636 (Das Märchen der Märchen; Das Pentameron)

Ein Märchenfilm, der kein Märchenfilm für Kinder ist. Auch weil Märchen ursprünglich nicht für Kinder waren.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichachel, Stacy Martin, Bebe Cave, Christian Lees, Jonah Lees, Alba Rohrwacher, Massimo Ceccherini, Guillaume Delaunay

Wiederholung: Sonntag, 8. Januar, 23.55 Uhr

Hinweise
Moviepilot über „Das Märchen der Märchen“
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Rotten Tomatoes über „Das Märchen der Märchen“
Wikipedia über „Das Märchen der Märchen“ (englisch, italienisch) und „Das Pentagramm“
„Das Pentagramm“ im Projekt Gutenberg (bei Amazon gibt es ebenfalls eine kostenlose Kindle-Version)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Dogman“ (Dogman, Italien/Frankreich 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Nanni Morettis Ensemblefilm „Drei Etagen“

März 17, 2022

Nanni Morettis neuer Film beginnt mit einem Autounfall. Stockbesoffen fährt Andrea durch das Wohnviertel, überfährt eine Fußgängerin und kracht in die Parterrewohnung des Hauses, in dem er noch bei seinen Eltern wohnt. Seine Eltern sind Vittorio (Nanni Moretti) und Dora (Margherita Buy). Beide sind Richter. Aber nach dem Unfall hilft der rechtsprinzipientreue Vittorio seinem Sohn Andrea nicht. Er fordert, dass er die Verantwortung für seine Tat übernimmt. Und das bedeutet eine längere, auch die Ehe von Vittorio und Dora belastende, Haftstrafe für Andrea.

Die Wohnung die Andrea zerstörte, ist das Arbeitszimmer von Lucio (Riccardo Scamarcio). Seine siebenjährige Tochter wird öfter von einem älteren Ehepaar behütet. Nachdem der schon leicht demente ‚Großvater‘ mit Lucios Tochter im Wald ein kindisches Spiel spielte, hält er ihn für einen Pädophilen. Er beginnt Beweise für seine wilde Vermutung zu suchen und gefährdet dabei seine Ehe, seine Familie und auch sein gesamtes Leben.

Andreas Unfall wurde von Monica (Alba Rohrwacher) beobachtet. Die psychisch instabile Schwangere war auf dem Weg zum Krankenhaus. Später muss sie ihre Tochter weitgehend allein aufziehen. Ihr Mann ist als Bauleiter bei großen Projekten beruflich viel unterwegs. Monicas Leben verändert sich, als ihr Schwager auftaucht.

Diese im Film porträtierten vier Familien leben in Rom in den titelgebenden „Drei Etagen“ eines bürgerlichen Wohnhauses. Über ein Jahrzehnt, von 2010 bis 2020, beobachtet Nanni Moretti („Liebes Tagebuch“) deren Leben und wie sehr sie mehr nebeneinander als miteinander leben. Das ist aus der Perspektive dramaturgischer Verdichtung natürlich enttäuschend. Aber halt realistisch. Die meisten Nachbarn kann man, im Gegensatz zur eigenen Familie, ignorieren und meistens tut man genau das. Schließlich ist die Adresse die einzige offensichtliche Gemeinsamkeit. Auch der Aufbau des Films – die erste Stunde des Films spielt 2010, die nächste halbe Stunde fünf Jahre später und die letzte halbe Stunde wieder fünf Jahre später – lädt zu einem episodischem Erzählen ein. In diesem Drama gibt es nicht die klaren, Hollywood-Dramaturgieregeln gehorchenden, sich gegenseitig verdichtenden Spannungsbögen.

Moretti beobachtet, feinfühlig wie gewohnt, seine Figuren mit großer Sympathie und ohne sie zu verurteilen. Das ist nicht schlecht, aber letztendlich bleibt alles doch etwas zu sehr an der Oberfläche, im Plakativen und im Ungefähren. Nur einmal wird ein konkretes Datum genannt, ansonsten sind die Ereignisse in diesem römischen Haus vollkommen von aktuellen Entwicklungen abgekoppelt.

So ist der Ensemblefilm ein schöner und auch in vielen Szenen immer wieder berührender Film. Am Ende bleibt allerdings das Gefühl, dass man nur das filmische Äquivalent zum Blättern in einem Fotoalbum erhalten hat.

Drei Etagen (Tre Piani, Italien/Frankreich 2021)

Regie: Nanni Moretti

Drehbuch: Nanni Moretti, Federica Pontremoli, Valia Santella

LV: Eshkol Nevo: Shalosh komot, 2015 (Über uns)

mit Riccardo Scamarcio, Margherita Buy, Alba Rohrwacher, Adriano Giannini, Elena Lietti, Nanni Moretti, Denise Tantucci, Alessandro Sperduti

Länge: 121 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Italienische Homepage zum Film

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Rotten Tomatoes über „Drei Etagen“

Wikipedia über „Drei Etagen“ (deutsch, englisch, italienisch)

Meine Besprechung von Nanni Morettis „Mia Madre“ (Mia Madre, Italien/Frankreich 2015)


TV-Tipp für den 11. November: Glücklich wie Lazzaro

November 10, 2020

Arte, 22.00

Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

In einem abgelegenem Bergdorf leben die Menschen noch wie vor hundert Jahren. Als der naive Arbeiter Lazzaro sich mit dem Sohn der sie wie Sklaven haltenden Marquesa anfreundet und von ihm zu einer Schein-Entführung angestiftet wird, bricht die Gegenwart in ihre Welt ein.

TV-Premiere. Trotz einer schwachen zweiten Hälfte sehenswertes poetisches Drama, das in Cannes den Drehbuchpreis erhielt.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez, David Bennet, Nicoletta Braschi

Hinweise

Arte über den Film (in der Mediathek bis zu 17. November 2020)

Deutsche Homepage zum Film

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Rotten Tomatoes über „Glücklich wie Lazzaro“

Wikipedia über „Glücklich wie Lazzaro“ (deutsch, englisch, italienisch)

Meine Besprechung von Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)


TV-Tipp für den 27. Juni: I am Love

Juni 26, 2019

Tele 5, 20.15

I am Love (Io sono l’amore, Italien 2009)

Regie: Luca Guadagnino

Drehbuch: Luca Guadagnino, Barbara Alberti, Ivan Cotroneo, Walter Fasano

Die Russin Emma (Tilda Swinton) ist mit dem reichen Firmenerben Tancredi verheiratet. Ihre drei Kinder sind erwachsen. Alles scheint perfekt, bis Emma den Koch Antonio, einen Freund von einem ihrer Söhne, kennen lernt und sich in ihn verliebt.

Familienepos, das mit sicherem Gespür für Ausstattung, Kostüme und Inszenierung die Rituale und Beziehungen innerhalb einer großbürgerlichen Familie seziert.“ (Lexikon des internationalen Films)

mit Tilda Swinton, Flavio Parenti, Edoardo Gabbriellini, Alba Rohrwacher, Pippo Delbono, Diane Fleri, Maria Paiato, Marisa Berenson, Waris Ahluwalia

Hinweise

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Rotten Tomatoes über „I am Love“

Wikipedia über „I am Love“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „A bigger Splash“ (A bigger Splash, Italien/Frankreich 2015) und der DVD

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Call me by your Name“ (Call me by your Name, USA 2017)

Meine Besprechung von Luca Guadagninos „Suspiria“ (Suspiria, Italien/USA 2018)


TV-Tipp für den 20. April: Das Märchen der Märchen

April 19, 2019

Tele 5, 20.15

Das Märchen der Märchen (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Regie: Matteo Garrone

Drehbuch: Matteo Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso

LV: Giambattista Basile: Il Racconto dei Racconti, 1634/1636 (Das Märchen der Märchen; Das Pentameron)

Ein Märchenfilm, der kein Märchenfilm für Kinder ist. Auch weil Märchen ursprünglich nicht für Kinder waren.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichachel, Stacy Martin, Bebe Cave, Christian Lees, Jonah Lees, Alba Rohrwacher, Massimo Ceccherini, Guillaume Delaunay

Wiederholung: Montag, 22. April, 02.20 Uhr (Taggenau!)

Hinweise
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Rotten Tomatoes über „Das Märchen der Märchen“
Wikipedia über „Das Märchen der Märchen“ (englisch, italienisch) und „Das Pentagramm“
„Das Pentagramm“ im Projekt Gutenberg (bei Amazon gibt es ebenfalls eine kostenlose Kindle-Version)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Dogman“ (Dogman, Italien/Frankreich 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Cannes-Drehbuchgewinner „Glücklich wie Lazzaro“

September 17, 2018

Es ist ein schweres Leben, das die Landarbeiter auf dem Landgut der Marquesa Alfonsina de Luna irgendwo in Italien haben. Es ist auch ein einfaches Leben, das mehr an das 19. als an das 21. Jahrhundert erinnert. Auf den ersten Blick, auch weil der Gesandte der Marquesa mit einem Moped in das abgeschiedene Dorf einfährt und Transporte mit einem alten Laster erledigt werden, dürfte es sich um die fünfziger Jahr handeln. Also eine Zeit, als die alten Herrschaftsverhältnisse noch existierten und Männer den armen Süden verließen, um im Norden zu arbeiten. Wobei es dort auch nicht unbedingt besser war. Cineasten fallen jetzt etliche neorealistische Meisterwerke ein und in dieser Tradition steht Alice Rohrwachers neuer, in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichneter,handlungsarmer, poetischer Film „Glücklich wie Lazzaro“. Der titelgebende Lazzaro ist ein junger, schüchterner Mann, der am Ende immer die Drecksarbeit machen muss. Er beklagt sich allerdings nie darüber. Und, selbstverständlich, ist sein Name nicht zufällig ausgewählt.

Langsam schleichen sich Irritationen in das immer wieder poetisch überhöht gezeichnete Bild des Landlebens. Tancredi, der Sohn der Marquesa, der gegen seinen Willen den Sommer auf dem Landgut verbringen muss, hat eine Frisur und ein T-Shirt, das nach den achtziger Jahren aussieht und es gibt Telefone, die noch moderner sind. Und je näher der Film so an die Gegenwart rückt, desto unglaubwürdiger wird das Bild der abgeschieden auf dem Land in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit lebenden Gemeinschaft, die noch so lebt, wie vor hundert Jahren. Jedenfalls wenn man „Glücklich wie Lazzaro“ als neorealistischen Film und nicht als Märchen, als eine italienische Version des magischen Realismus, betrachtet.

Tancredi befreundet sich mit Lazzaro. Gleichzeitig nutzt er ihn aus, indem er ihn anstiftet, mit ihm seine Entführung vorzutäuschen. Tancredi will so eigentlich nur seine Mutter ärgern. Aber die Situation eskaliert so sehr, dass nach einem Anruf die Polizei auftaucht und die Herrschaft der Marquesa beendet. Denn sie hielt ihren Arbeiter unmündig wie Sklaven und enthielt ihnen Rechte vor, die sie schon lange hatten.

In dem Moment beginnt die zweite, deutlich schwächere Hälfte des Films. Während in der ersten Hälfte alles zusammen passte, erscheint hier vieles nur noch skizziert und viel zu oft widersprüchlich.

Jahre nachdem sie aus der Knechtschaft der Marquesa befreit wurden, leben die Landarbeiter in tiefster Armut in einer anonymen Großstadt. Eines Tages taucht Lazzaro wieder auf. Nach dem Sturz von einer Klippe müsste er eigentlich tot sein. Aber er überlebte den Sturz und, während die anderen Landbewohner älter wurden, sieht er noch so aus wie damals.

Während die erste Hälfte des Films tief im Neorealismus und dem Magischen Realismus steckt und ein sehr stimmungsvolles Bild des Landlebens und ein klares Bild feudaler Strukturen und Machtverhältnisse zeichnet, spielt die zweite Hälfte in der Welt von Aki Kaurismäki. Nur funktionieren hier die in der ersten Hälfte gesetzten Parameter nicht mehr. Auch das naive Verhalten von Lazzaro nervt zunehmend. Jedenfalls wenn man auf seiner Seite stehen soll. War er im ersten Teil noch der glückliche Naivling, ist er jetzt eine Art fehlgeleiteter Wiedergänger von Jesus. Seine Taten werden zunehmend unverständlicher und auch irrationaler. Außer man geht davon aus, dass dieser Lazarus den Herrschenden helfen will und er, wie ein Roboter, über keinen Hauch von Intelligenz verfügt. Nur: Soll das, in einer „Geschichte, die von der Möglichkeit des Gutseins erzählt“ (Rohrwacher), die Mission eines Heiligen sein?

Diese missglückte zweite Hälfte verdirbt sehr viel von dem guten Eindruck der ersten Hälfte des Films.

Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

mit Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez, David Bennet, Nicoletta Braschi

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Wikipedia über „Glücklich wie Lazzaro“ (deutsch, englisch, italienisch)


TV-Tipp für den 4. Juli: Das Märchen der Märchen

Juli 4, 2018

Tele 5, 20.15

Das Märchen der Märchen (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)

Regie: Matteo Garrone

Drehbuch: Matteo Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso

LV: Giambattista Basile: Il Racconto dei Racconti, 1634/1636 (Das Märchen der Märchen; Das Pentameron)

Ein Märchenfilm, der kein Märchenfilm für Kinder ist. Auch weil Märchen ursprünglich nicht für Kinder waren.

Leider zerstören bei der heutigen TV-Premiere die Werbepausen die Märchenstimmung.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichachel, Stacy Martin, Bebe Cave, Christian Lees, Jonah Lees, Alba Rohrwacher, Massimo Ceccherini, Guillaume Delaunay

Hinweise
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Film-Zeit über „Das Märchen der Märchen“
Moviepilot über „Das Märchen der Märchen“
Metacritic über „Das Märchen der Märchen“
Rotten Tomatoes über „Das Märchen der Märchen“
Wikipedia über „Das Märchen der Märchen“ (englisch, italienisch) und „Das Pentagramm“
„Das Pentagramm“ im Projekt Gutenberg (bei Amazon gibt es ebenfalls eine kostenlose Kindle-Version)

Meine Besprechung von Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)


Neu im Kino/Filmkritik: „Operation Duval – Das Geheimprotokoll“ und ein neugieriger Biedermann

November 24, 2017

Aus dem benachbarten Frankreich kommt die „Operation Duval – Das Geheimprotokoll“. François Cluzet spielt den Unternehmensberater Duval, der nach einem überstandenen Burn-Out wieder Arbeit sucht. Nur eine mysteriöse Firma bietet ihm einen Job an. In einem leeren Apartment soll er, ohne auf den Inhalt zu achten, Telefongespräche transkribieren. Dabei muss er viele Regeln zu seinen Arbeitszeiten und seinem Verhalten in der Wohnung (kein Lärm, nicht rauchen, nicht am Fenster stehen) exakt einhalten. Eines Tages hört er auf einem der Tonbänder einen Mord. Ein sich nicht an die Regeln haltender Kollege taucht auf und Duval beginnt Fragen zu stellen. Über seinen Arbeitgeber. Über den Inhalt der Tonbänder.

In „Operation Duval“ erzählt Thomas Kruithof in seinem Spielfilmdebüt eine klassische Verschwörungsgeschichte. Denn selbstverständlich ist der allein lebende Duval der perfekte Kandidat für diesen Job und ebenso selbstverständlich stolpert er durch seine Neugierde in ein politisches Komplott, das er nie vollständig überblickt.

Kruithofs Film ist ein hübscher kleiner Noir, bei dem man, schon nachdem Duval das erste Tonband abgehört hat, keinen Cent auf sein Überleben wetten möchte. Dabei sind die ersten Tonbänder scheinbar vollkommen harmlos.

Operation Duval – Das Geheimprotokoll (La Mecanique de l’ombre, Frankreich 2016)

Regie: Thomas Kruithof

Drehbuch: Thomas Kruithof

mit François Cluzet, Alba Rohrwacher, Denis Podalydes, Sami Bouajila, Simon Abkarian

Länge: 91 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

AlloCiné über „Operation Duval“

Moviepilot über „Operation Duval“

Rotten Tomatoes über „Operation Duval“

Wikipedia über „Operation Duval“ (englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Das Märchen der Märchen“ ist nichts für Kinder

August 28, 2015

Heute sind Märchen Kindergeschichten. Gute-Nacht-Geschichten, die nachmittags im Fernsehen gezeigt werden und deren Ursprung, nämlich eine Erzählung für Erwachsene zu sein, heute kaum noch feststellbar ist.
Matteo Garrone, der das realistische Gangsterepos „Gomorrah“ inszenierte, drehte jetzt mit „Das Märchen der Märchen“ einen Film, der garantiert nicht für Kinder geeignet ist. Auch wenn die FSK ihn ab 12 Jahre freigegeben hat, richtet sich dieser Märchenfilm an ein erwachsenes Publikum, das die Anspielungen und Märchenmotive, die hier vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden, gerne wieder erkennt. Inspiriert ist der Film von Giambattista Basiles Geschichtensammlung „Il Racconto dei Racconti“ („Das Märchen der Märchen“ bzw. „Das Pentameron“). Basile sammelte – wie wir es von Giovanni Boccaccios „Das Dekameron“ (Decamerone, das zwischen 1349 und 1353 geschrieben wurde), einer Sammlung von hundert Novellen, kennen – fünfzig Märchen, die er in eine Rahmenhandlung, in der sich eine Gruppe von Menschen in fünf Tagen 49 Geschichten erzählte, einbettete. „Il Racconto dei Racconti“ erschien 1634/1636 und ist eines der großen Märchenbücher, das, weil es im neapolitanischen Dialekt geschrieben ist, lange unbekannt blieb und später von den Brüdern Grimm als Grundlage für ihre Märchensammlung genommen wurde.
Garrone wählte für seinen Film „Das Märchen der Märchen“ drei Geschichten aus, über deren Anfang und Ende gestritten werden kann. Er erzählt von einer Königin (Salma Hayek), die alles tun würde, um einen Sohn zu gebären. Dafür schickt sie ihren Mann in den Tod. Und nach der Geburt – gleichzeitig gebar eine Dienstmagd einen identischen Zwilling – ist die Geschichte noch nicht vorbei. In der zweiten Geschichte verliebt der König von Strongcliff (Vincent Cassel) sich in eine liebreizende Frau, die bis jetzt seinem Sextrieb entgehen konnten. Was er nicht ahnt, ist, dass sie, die sich seinen Avancen entzieht und ihr Gesicht verbirgt, nicht jung und schön, sondern alt und hässlich ist. Und dabei kriegt der König, wenn er bei einer Frau auch nur eine Falte sieht, Panickattacken. In der dritten Geschichte sucht der König von Highhills (Toby Jones) mit einem Ratespiel einen Gemahl für seine Tochter Violet (Bebe Cave). Der künftige Bräutigam ist ein riesiger, ungeschlachteter Unhold, der sie auch gleich über seine Schulter wirft und in seine Höhle verschleppt.
Diese in verschiedenen, aber benachbarten Königreichen spielenden Hauptgeschichten ergänzt Garrone um viele kürzere Episoden und er erzählt sie nicht hintereinander (obwohl ich seine solche Schnitffassung gerne sehen würde), sondern parallel und auch eher distanziert, was dem Film ein schleppendes Tempo verleiht und mit zunehmender Laufzeit bemerkt man, dass der Film primär eine Sammlung von nur lose miteinander verbundenen Episoden ist. Weshalb einige Charaktere plötzlich aus dem Film verschwinden und andere Charaktere, die für den gesamten Film letztendlich eine große Bedeutung haben, wie die Königstochter Violet, erst sehr spät auftauchen. Es gibt nicht, wie bei anderen Ensemblefilmen, einen den gesamten Film tragenden Charakter. Eher schon betrachtet man alle Personen gleich distanziert. Es gibt ein eigentümliches Missverhältnis zwischen Nebencharakteren, deren Gefühle man versteht und die manchmal nur ein, zwei Szenen oder eine große, äußerst berührende Szene haben, und den Hauptcharakteren, die dagegen schon zu einer eindimensionalen Parodie mutieren. Das gilt vor allem für den sexsüchtigen König von Strongcliff (Vincent Cassel), der nur mit schönen, jungen Frauen Sex haben will, dem wir zum ersten Mal nach einem solchen Gelage begegnen und der dem Begriff „Oberflächlichkeit“ eine neue Dimension verleiht. Er ist wahrlich nicht der Märchenprinz, sondern eher ein notgeiler, alternder Vampir.
Auffallend bei allen Geschichten ist, wie sehr die bekannten Märchenkonventionen gegen den Strich gebürstet werden. Als habe Garrone sich gefragt „Was würde Disney tun?“ und dann das Gegenteil getan. Daher ist auch in jeder Szene eine ungebremste sexuelle Lust spürbar und alle sind von niederen Trieben und Obsessionen beherrscht. Das gilt für den König von Highhill (Toby Jones), der sich nur für einen einen schweinemäßig riesigen Floh, den er in seinem Gemach füttert, interessiert. Seine Tochter ist ihm dagegen herzlich egal.
Oder für die Königin von Longtrellis (Salma Hayek), die sich unbedingt einen Erben wünscht, dafür ihren Mann in den Kampf mit einem Seeungeheuer schickt und anschließend das blutig pulsierende Herz des Ungeheuers genußvoll verspeist; – wobei wir uns fragen, wer hier das wirkliche Ungeheuer ist. Denn den durch das Ungeheuer verursachten Tod ihres Mannes betrauert sie nur pflichtschuldig.
Ebenso auffallend ist, dass bei Garrone die Frauen das starke Geschlecht sind und sie auch sympathischer sind, während die Männer ausgemachte Trottel sind, mit denen man keinen Funken Mitleid hat. In diesem Anti-Disney-Kosmos gibt es dann auch keinen Traumprinz und die Prinzessin muss die Dinge selbst in die Hand nehmen.
Seine düsteren Märchen bettet Garrone in eine vom Barock inspirierte Fantasywelt, die in ihrer Opulenz verzaubert. Auch dank der prächtigen Ausstattung und den handgemachten Tricks. Das erinnert dann an die vor Jahrzehnten in Cinecittà entstandenen Filme, irgendwo zwischen Fellinis Pracht und dem Trash der Sandalenfilme.

Das Märchen der Märchen - Plakat

Das Märchen der Märchen (Tale of Tales/Il racconto dei racconti, Italien/Frankreich/Großbritannien 2015)
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: Matteo Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso
LV: Giambattista Basile: Il Racconto dei Racconti, 1634/1636 (Das Märchen der Märchen; Das Pentameron)
mit Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichachel, Stacy Martin, Bebe Cave, Christian Lees, Jonah Lees, Alba Rohrwacher, Massimo Ceccherini, Guillaume Delaunay
Länge: 134 Minuten
FSK: ab 12 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Das Märchen der Märchen“
Moviepilot über „Das Märchen der Märchen“
Metacritic über „Das Märchen der Märchen“
Rotten Tomatoes über „Das Märchen der Märchen“
Wikipedia über „Das Märchen der Märchen“ (englisch, italienisch) und „Das Pentagramm“
„Das Pentagramm“ im Projekt Gutenberg (bei Amazon gibt es ebenfalls eine kostenlose Kindle-Version)