Die Fakten…früher, wenn ein neues Buch oder eine neue Schallplatte eines bewunderten Künstlers oder Band erschien, wusste man nichts über den Entstehungsprozess. Manchmal gab es vielleicht vereinzelte Interviews. Aber das Werk war die LP. Vierzig Minuten Musik. Auf B-Seiten von Singles und Maxis wurde vielleicht noch ein weiterer Song veröffentlicht. Aber das war’s. Ein Song. Eine Version.
Heute wissen wir oft viel mehr über die Entstehung der Werke. Es gibt lange Reportagen und dicke Bücher über die Entstehung wichtiger LPs. Es gibt umfassende Werkausgaben, die aus der ursprünglichen LP und mehreren Bonus-CDs bestehen. Die Box enthält unzählige Versionen der bekannten Stücke und Stücke, die damals nicht veröffentlicht wurden. Oft gibt es auch bislang nicht veröffentlichte Konzertmitschnitte. Wie sehr es diesen Blick in den Schaffensprozess des Künstlers wirklich braucht, muss hier jetzt nicht debattiert werden. Puristen können ja immer noch auf das ursprünglich veröffentlichte Werk zurückgreifen. Komplettisten werden die neue Ausgabe in ihr Regal stellen. Vielleicht gibt es neue Fans, die dann auch die anderen Werke des Künstlers kaufen. Und das die Entstehung einer LP umgebende Mysterium wird immer weiter enthüllt.
Ausgehend von dem Sachbuch „Deliver me from nowhere: The Making of Bruce Springsteen’s ‚Nebraska’“ liefert jetzt Scott Cooper in seinem neuen Film „Springsteen: Deliver me from nowhere“ einen solchen Blick hinter die Kulissen. Es geht um die Entstehung von Bruce Springsteens 1982 erschienener Solo-LP „Nebraska“. Sie erschien nachdem er und die E Street Band sich mit mehreren LPs und Live-Auftritten bereits einen guten Ruf erarbeitet hatten. Er war ein bekannter Musiker. Viele seiner immer noch beliebten Songs gehörten bereits zum Repertoire. Seine Plattenfirma würde gerne das nächste Hit-Album produzieren. Das lieferte Springsteen 1984 mit der LP „Born in the U. S. A.“. Sie machte ihn zum immer noch Stadien füllenden Superstar.
Seitdem Warren Zanes Sachbuch 2023 erschien, veröffentlichte Bruce Springsteen fleißig weiter Material aus seinem Archiv. Neben Mitschnitten von Auftritten und weiteren Versionen der Songs, die bereits veröffentlicht wurden, hat Springsteen kürzlich auch mehrere Alben veröffentlicht, die er in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlichte.
Zuletzt und pünktlich zum Filmstart erschien mit „Nebraska ’82: Expanded Edition“ eine aus fünf CDs bestehende Box, die die von der E Street Band gespielten elektrischen Versionen der Songs enthält, die Springsteen ursprünglich im Wohnzimmer als Demos für die neue LP von ihm und seiner Band aufnahm. Bislang verstaubten die Aufnahmen im Archiv.
Mit diesem Wissen würde Scott Cooper die Filmgeschichte vielleicht anders erzählen.
Vielleicht auch nicht. Denn in der jetzigen Fassung gefällt die klare Ausrichtung auf Bruce Springsteen (Jeremy Allen White) und die LP „Nebraska“. Alles, was nicht unmittelbar zur Entstehung gehört, wird ignoriert. Die legendäre E Street Band spielt in Coopers Drama keine nennenswerte Rolle. Das ganze Rock’n’Roll-Leben findet vor und nach dem Film statt.
In „Springsteen: Deliver me from nowhere“ geht es ausschließlich um Springsteens Schaffensprozess als Dichter (was nur im stillen Kämmerlein geschehen kann), seine Selbstzweifel (die er, mehr oder weniger offen, in seinen Songs dokumentiert) und wie er sich mit seiner Depression, seinen Gefühlen und seiner Kindheit, besonders seiner Beziehung zu seinem Vater, auseinandersetzt. Er denkt nach über sich, sein bisheriges und künftiges Leben. Er schreibt Songs, die später auf „Nebraska“ und „Born in the U. S. A.“ veröffentlicht werden. Cooper zeigt die unter Springsteen-Fans allgemein bekannten Inspirationen für die Songs.
Auch die Beziehung zu seinem Manager Jon Landau, der ihn bedingungslos unterstützt, ist wichtig. Mit ihm unterhält er sich über seine Pläne. Landau lässt später die klanglich schlechten Demo-Aufnahmen soweit polieren bis sie als LP veröffentlicht werden können und er überzeugt die Plattenfirma davon, dass Springsteen nach mehreren Rockmusik-LPs ein Homerecording-Folkalbum mit düsteren Songs veröffentlicht wird, das schon auf den ersten Blick ein unverkäufliches Liebhaberprojekt ist.
Dazwischen trifft Springsteen sich mit einer Kellnerin und ihrer Tochter. Sie ist eine auf mehreren Frauen, die Springsteen damals traf, basierende erfundene Figur, die auch gut in einen Springsteen-Song passen würde.
Das ist gut inszeniert, aber auch wenig mitreisend. Die meiste Zeit sehen wir einen Mann allein in einem Zimmer sitzen, vor sich hin brüten, nachdenklich in die Landschaft starren, komponieren und Demo-Versionen unzähliger neuer Songs einspielen. „Springsteen: Deliver me from nowhere“ ist die Huldigung des Künstlers als einsames Genie.

Springsteen: Deliver me from nowhere (Springsteen: Deliver me from nowhere, USA 2025)
Regie: Scott Cooper
Drehbuch: Scott Cooper
LV: Warren Zanes: Deliver Me from Nowhere: The Making of Bruce Springsteen’s „Nebraska“, 2023
mit Jeremy Allen White, Jeremy Strong, Paul Walter Hauser, Stephen Graham, Odessa Young, Gaby Hoffman, Marc Maron, David Krumholtz, Harrison Sloan Gilbertson, Metthew Pellicano Jr.
Länge: 120 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Moviepilot über „Springsteen: Deliver me from nowhere“
Metacritic über „Springsteen: Deliver me from nowhere“
Rotten Tomatoes über „Springsteen: Deliver me from nowhere“
Wikipedia über „Springsteen: Deliver me from nowhere“ (deutsch, englisch) und Bruce Springsteen (deutsch, englisch)
Homepage von Bruce Springsteen
AllMusic über Bruce Springsteen
Meine Besprechung von Scott Coopers „Auge um Auge“ (Out of the Furnace, USA 2013)
Meine Besprechung von Scott Coopers „Black Mass“ (Black Mass, USA 2015)
Meine Besprechung von Scott Coopers „Antlers“ (Antlers, USA 2021)
Veröffentlicht von AxelB 