Bevor er für „Im Westen nichts Neues“ einige Oscars erhielt, inszenierte Edward Berger
Arte, 20.15
Jack(Deutschland 2014)
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Edward Berger, Nele Mueller-Stöfen
Als der zehnjährige Jack nicht von seiner Mutter aus dem Heim abgeholt wird, haut er ab. In Berlin wartet allerdings niemand auf ihn. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder beginnt Jack seine, mal wieder, spurlos verschwundene Mutter zu suchen.
Mitreisendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozial- und Jugenddrama, das immer auf Jacks Augenhöhe bleibt, während er durch die große Stadt läuft.
Ein informatives Making of. Den insgesamt sehenswerten Kriegsfilm habe ich hier besprochen.
Im Westen nichts Neues (Deutschland 2022)
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Edward Berger, Lesley Paterson, Ian Stokell
LV: Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, 1929
mit Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Moritz Klaus, Edin Hasanovic, Adrian Grünewald, Thibault De Montalembert, Devid Striesow, Daniel Brühl
Länge: 148 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Seit dem 28. Oktoger 2022 auf Netflix – und hoffentlich immer noch im Kino.
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Die Vorlage (in der Fassung der Erstausgabe und mit einem umfangreichem Anhang)
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
(herausgegeben und mit Materialien versehen von Thomas F. Schneider)
Die erste Verfilmung von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ fand ich, als ich sie vor Ewigkeiten sah, grandios. Die Botschaft von der Sinnlosigkeit dieses Sterbens wurde überzeugend präsentiert. Das war ein Krieg, in dem es nur um ein, zwei Meter matschiges Land ging. Die Bilder vom Sterben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs waren erschreckend real. Immerhin ist der Film von 1930 und das, was Lewis Milestone damals zeigte, musste sich in punkto graphischer Grausamkeiten nicht vor neueren Kriegsfilmen verstecken. Der Film war damals ein Skandal und hatte in vielen Ländern Probleme mit der Zensur.
In Deutschland protestierten die Nazis gegen den Film. Unter anderem randalierten sie in Aufführungen des Films. Er wurde verboten und kam in einer gekürzten Fassung wieder in die Kinos. Als sie 1933 an die Macht kamen, verboten sie den Film wieder. Erst 1952 wurde „Im Westen nichts Neues“ in der Bundesrepublik wieder aufgeführt; in einer gekürzten, neu synchronisierten Fassung. 1984 rekonstruierte das ZDF den Film. Für diese 135-minütige Fassung, die sich am ursprünglichen Drehbuch orientiert, wurde eine neue Synchronisation erstellt.
Milestones Verfilmung ist schon seit Ewigkeiten ein Filmklassiker. Sie kann inzwischen mühelos als DVD oder Blu-ray gekauft werden. Anfang November veröffentlicht Capelight Pictures eine aus fünf Blu-rays und einer DVD bestehenden „Ultimate Edition“, die mehrere über die Jahrzehnte entstandene Fassungen und deutsche Synchronisationen des Meisterwerks enthält.
Remarques Antikriegsroman ist ebenfalls schon Jahrzehnten ein Klassiker. Der Roman war sofort nach seinem Erscheinen 1929 ein Bestseller und er wurde seitdem immer wieder neu aufgelegt. Er gehörte auch zu den Büchern, die am 10. Mai 1933 von den Nazis öffentlich verbrannt wurden. Der Antikriegsroman liest sich immer noch erstaunlich gut und seine Botschaft ist immer noch aktuell.
Über neunzig Jahren nach der ersten Verfilmung – wenn wir die ebenfalls gelobte, eher vergessene US-TV-Verfilmung von 1979 beiseite lassen – kann auch dieser Roman wieder verfilmt werden. Dieses Mal selbstverständlich in Farbe. Wobei Edward Berger trotzdem fast einen SW-Film inszenierte. Denn in den Schützengräben der Westfront gab es viel Matsch und schmutzige Uniformen.
Erzählt wird – ich folge jetzt der Filmgeschichte, die sich in Details vom Roman unterscheidet – die Geschichte des siebzehnjährigen Paul Bäumer (Felix Kammerer). Der Gymnasiast meldet sich mit seinen Klassenkameraden im Frühjahr 1917 freiwillig zum Kriegsdienst. Sie werden an die Westfront geschickt.
An der Front lernen sie schnell, dass sie nur Kanonenfutter sein werden. Eine falsche Bewegung oder eine zu langsame Reaktion kann den Tod bedeuten. Freundschaften gibt es nur bis zum nächsten Angriff und dem nächsten tödlichen Schuss.
Dieses Schlachtfeld verlässt Berger für einige Minuten, wenn er am Filmanfang zeigt, wie Bäumer und seine Schulkameraden sich euphorisch zum Kriegsdienst melden und freudig mustern lassen, und in einem längerem Subplot über die Waffenstillstandsverhandlungen. Der zum Staatssekretär ohne Geschäftsbereich ernannte Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der das sinnlose Sterben der Frontsoldaten beenden will, verhandelt mit Marschall Ferdinand Foch über das Kriegsende. Der Verhandlungsführer der alliierten Waffenstillstandskommission diktiert dem Zivilisten Erzberger den Friedensvertrag. Am 11. November 1918 unterzeichnete er das Waffenstillstandsabkommen.
Dieser Subplot ist neu. Er liefert etwas historischen Hintergrund für den Zuschauer. Für die Haupthandlung ist diese Nebengeschichte vollkommen unwichtig.
In ihr geht es um das Leben von Bäumer und seinen Kameraden an der Front. Dabei bleiben sie alle austauschbare Figuren, über die wir nichts erfahren. Auch wenn sie im Film öfters auftauchen, erkennen wir sie kaum wieder. Entsprechend wenig berührt uns ihr Tod. Episodisch und ohne Identifikationsfiguren reiht sich hier ein Gefecht an das nächste, ein sinnloser Tod folgt dem nächsten ebenso sinnlosem und zufälligem Tod.
Dieses Sterben an der Westfront inszeniert Edward Berger in langen ungeschnittenen Szenen, die an Sam Mendes‘ „1917“ erinnern.
Die in einem Schloss spielenden Szenen, in denen General Friedrich (Devid Striesow) arrogant über seine Einheiten befiehlt und sie noch in den letzten Minuten des Krieges in den Tod schickt, den er für heldenhaft hält, erinnern an Stanley Kubricks ebenfalls während des Ersten Weltkriegs an der Westfront spielendem Anti-Kriegsfilm „Wege zum Ruhm“.
Berger veränderte auch das Ende des Romans. Er verlegte es vom Oktober 1918 auf das Kriegsende und nimmt ihm viel von der Wucht, die Remarques Ende hat. Oder, anders gesagt: an das Romanende erinnere ich mich noch Jahrzehnte nach der Lektüre. An dieses Filmende werde ich mich wahrscheinlich in einigen Wochen nicht mehr erinnern.
Und damit kommen wir zu einem weiteren Problem des Films. Remarque bezeichnete seinen Roman in der Erstauflage als einen Bericht über Generation, die vom Krieg zerstört wurde. Heute ist der Roman unbestritten ein Antikriegsroman, der vor allem an der Front spielt und immer bei seiner Hauptfigur, dem Ich-Erzähler Paul Bäumer, bleibt. Aber Remarque schreibt auch darüber, wie ein Gymnasiast mit hohen Idealen in den Krieg zieht und er an der Front alle seine Illusionen über den ehrenhaften Kampf und den Einsatz für das Vaterland verliert. Es ist damit auch die Geschichte einer Degeneration eines Bildungsbürgers, die schon in der Ausbildung in der Kaserne beginnt.
Im Film ist Bäumer nur noch ein x-beliebiger Frontsoldat ohne Familie, Überzeugungen oder Ideale. Er ist ein Gymnasiast, aber er könnte genausogut ein Analphabet sein.
Ohne diese Verortung in eine bestimmte Zeit und Gesellschaft verkommt die Botschaft des Films zu einem banalen „Kriege sind schlimm“ und „Für Generäle sind einfache Soldaten nur Kanonenfutter“. Das ist nicht falsch, ist aber angesichts des Krieges in der Ukraine etwas unterkomplex.
Trotzdem ist der mit zweieinhalb Stunden etwas lang geratene, episodische Kriegsfilm ein sehenswerter Film, der eindeutig für die große Leinwand komponiert wurde.
Und danach sollte man unbedingt die Vorlage lesen. Falls man Erich Maria Remarques Roman nicht schon gelesen hat.
Im Westen nichts Neues (Deutschland 2022)
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Edward Berger, Lesley Paterson, Ian Stokell
LV: Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, 1929
mit Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Moritz Klaus, Edin Hasanovic, Adrian Grünewald, Thibault De Montalembert, Devid Striesow, Daniel Brühl
Länge: 148 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
–
Jetzt im Kino. Ab dem 28. Oktoger 2022 auf Netflix – und hoffentlich immer noch im Kino.
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Die Vorlage (in der Fassung der Erstausgabe und mit einem umfangreichem Anhang)
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
(herausgegeben und mit Materialien versehen von Thomas F. Schneider)
Als der zehnjährige Jack nicht von seiner Mutter aus dem Heim abgeholt wird, haut er ab. In Berlin wartet allerdings niemand auf ihn. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder beginnt Jack seine, mal wieder, spurlos verschwundene Mutter zu suchen.
Mitreisendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozial- und Jugenddrama, das immer auf Jacks Augenhöhe bleibt, während er durch die große Stadt läuft.
Stefan (Lars Eidinger), Julia (Nele Mueller-Stöfen) und Tobias (Hans Löw) sind Geschwister. Aber zusammen sind sie nur am Anfang und Ende von „All my loving“. Zwischen dem Prolog und dem Epilog verfolgt Edward Berger („Jack“) sie in drei getrennten, etwa gleich langen Episoden.
Stefan ist ein Pilot, der wegen gesundheitlicher Probleme nicht mehr Fliegen darf. Also benutzt er seine Pilotenuniform für One-Night-Stands. Jetzt hat er sich, für Julia und Tobias überraschend, bereit erklärt, für ein verlängertes Wochenende auf Julias Hund Rocco aufzupassen. Für seine Tochter Vicky, Ergebnis einer dreizehn Jahre zurückliegenden kurzen Affäre, ist er kein Vater, sondern höchstens ein alle Verantwortung ablehnender Freund. Trotzdem gerät er in Panik, als sie für eine Nacht verschwindet.
Julia ist mit ihrem Mann Christian für ein verlängertes Wochenende nach Turin geflogen. Die Hundenärrin will ihrer erlahmenden Beziehung neue Impulse geben. Aber zuerst findet sie auf der Straße einen verletzten kleinen Straßenhund, den sie sofort in ihr Herz schließt und gesund pflegen will. Christian toleriert ihre neue Obsession mit engelsgleicher Geduld.
Zur gleichen Zeit besucht Tobias ihre Eltern. Er ist ein sanfter Langzeitstudent, der mit seiner Diplomarbeit nicht weiterkommt, während seine Frau Geld verdient. Er übernimmt die Hausarbeit und die Erziehung ihrer Kinder.
Weil seine beiden Geschwister beschäftigt sind, soll er die Eltern besuchen und ihren herrischen Vater überreden, einen Arzt wegen seiner Gesundheit zu konsultieren. Als er das elterliche Haus betritt, bemerkt er, dass der schlechte Gesundheitszustand seines Vaters nicht das größte Problem seiner Eltern ist.
„All my loving“ erzählt in drei Kurzfilmen aus dem Leben von sehr bürgerlichen Vierzigjährigen. Sie sind Geschwister. Aber sonst verbindet sie wenig. Ihre Lebensmodelle sind grundverschieden. Regisseur Edward Berger und seine Frau und Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen haben die Familien nach dem Prinzip der größten Distanz entworfen. Damit leben Stefan, Julia und Tobias in so unterschiedlichen Welten, dass sie sich letztendlich nichts zu sagen haben und auch ihr Leben nichts miteinander zu tun hat. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch Bergers Entscheidung, hintereinander aus dem Leben der Geschwister zu erzählen.
Diese haben bei all den Unterschieden in ihrem Alltag und ihren heterosexuellen Beziehungen (was dann immerhin eine Gemeinsamkeit ist), einen gemeinsamen Charakterzug. Alle sind introvertiert und verschlossen. Sie und ihre Partner reden nicht über ihre eigenen und ihre gemeinsamen Probleme. Als Zuschauer muss man sich dann langsam zusammenreimen, was sie nicht sagen. Ein wirkliches Interesse an den Personen, ihren Problemen, Pseudoproblemen, Lebenslügen und Antworten darauf entsteht so allerdings nicht.
Bergers Erzählweise betont diese Sprachlosigkeit weiter. In den einzelnen Kurzfilmen passiert kaum etwas. Es sind betont undramatische Einblicke in das Leben der Protagonisten. Es ist ein Ausschnitt von einigen Tagen. Eine Entwicklung gibt es nicht und vor eine wirklich existenzielle Entscheidung wird keiner von ihnen gestellt.
So entsteht diese typisch deutsche Mischung, die Langsamkeit und Schweigsamkeit für Bedeutungsschwere und Inhalt hält. Diese Ereignislosigkeit hat leicht eine seditative Wirkung.
All my loving (Deutschland 2019)
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Edward Berger, Nele Mueller-Stöfen
mit Lars Eidinger, Nele Mueller-Stofen, Hans Löw, Christine Schorn, Manfred Zapatka, Matilda Berger, Valerie Pachner, Zsá Zsá Inci Bürkle, Valerie Koch
Als der zehnjährige Jack nicht von seiner Mutter aus dem Heim abgeholt wird, haut er ab. In Berlin wartet allerdings niemand auf ihn. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder beginnt Jack seine, mal wieder, spurlos verschwundene Mutter zu suchen.
Mitreisendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozial- und Jugenddrama, das immer auf Jacks Augenhöhe bleibt, während er durch die große Stadt läuft.
Als der zehnjährige Jack nicht von seiner Mutter aus dem Heim abgeholt wird, haut er ab. In Berlin wartet allerdings niemand auf ihn. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder beginnt Jack seine, mal wieder, spurlos verschwundene Mutter zu suchen.
Mitreisendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozial- und Jugenddrama, das immer auf Jacks Augenhöhe bleibt, während er durch die große Stadt läuft.
Als der zehnjährige Jack nicht von seiner Mutter aus dem Heim abgeholt wird, haut er ab. In Berlin wartet allerdings niemand auf ihn. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder beginnt Jack seine, mal wieder, spurlos verschwundene Mutter zu suchen.
Mitreisendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozial- und Jugenddrama, das immer auf Jacks Augenhöhe bleibt, während er durch die große Stadt läuft.
Beim Durchlesen der Synopse hat man – immerhin ist „Jack“ ein deutscher Film – die schlimmsten Befürchtungen: der zehnjährige Jack muss den Haushalt schmeißen, auf seinen sechsjährigen Bruder Manuel und seine sechsundzwanzigjährige, allein erziehende Mutter Sanna aufpassen, die ihre Kinder zwar mag, aber von den Mutterpflichten hoffnungslos überfordert ist. Viel lieber taucht sie mit wechselnden Freunden im Berliner Nachtleben ab.
Als Jack in den Sommerferien, nachdem er einen Mitbewohner verletzte, aus dem Kinderheim nach Berlin zu seiner Mutter abhaut, ist sie nicht zu Hause. Auch der Wohnungsschlüssel ist nicht mehr da. Er holt seinen Bruder bei einer Freundin von Sanna ab und beginnt mit ihm ihre Mutter zu suchen.
Das klingt doch nach einem der typisch deutschen Sozialdramen, die bis zur Ungenießbarkeit ihre Botschaft hinaustrompeten.
Aber „Jack“ ist erfrischend undeutsch. Edward Berger, der bereits mehrere Folgen für „KDD – Kriminaldauerdienst“, „Unter Verdacht: Willkommen im Club“, „Tatort: Das letzte Rennen“ (mit den HR-Kommissaren Dellwo und Sänger) und die „Schimanski“-Filme „Asyl“ und „Kinder der Hölle“ inszenierte, erzählt in seinem neuesten Film, immer auf Augenhöhe mit Jack, der als schweigsamer Mann mit einem Ziel, durch ein Berlin, das durchaus als Berlin erkennbar, aber die üblichen Berlin-Bilder vermeidet, hetzt. Dabei ist er für einen zehnjährigen Jungen erstaunlich erwachsen und sein Bruder erstaunlich folgsam bei der tagelangen Suche nach ihrer spurlos verschwundenen Mutter. Immerhin sind sie eine Familie, die den Sommer gemeinsam verbringen sollte.
„Jack“ zeigt eindrucksvoll, wie Jack am Ende zu seiner Entscheidung über den Fortbestand seiner Familie kommt. Und das alles ohne lange didaktisch-erklärende Dialoge.